Ulrich Koch: Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text

Bevor das Ich verschwindet

06:07 Minuten
Buchcover von Ulrich Kochs Gedichtband "Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text"
© Jung und Jung

Ulrich Koch

Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren TextJung&Jung, Salzburg 2021

160 Seiten

23,00 Euro

Von Björn Hayer · 17.11.2021
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Bevor das Ich verschwindet: Ulrich Kochs neuer Lyrikband erzählt von Selbstzweifeln und Versen, die die Einsamkeit überwinden. Und während die Zonen der Gesellschaft mitunter morbid und unwirtlich erscheinen, melden sich neben Pflanzen und Tieren die Toten zu Wort.
Spuren und immer wieder Spuren, die sich durch den Schnee ziehen. Auf wen verweisen sie und wohin führen sie? Als Leitmotiv stehen sie in Ulrich Kochs neuen Poemen vor allem für ein lyrisches Ich, das sich seiner selbst nicht mehr sicher ist.
Und auch als Leserin oder Leser muss man es oftmals suchen. Es steht morgens nicht mehr auf, es weint unentwegt. Depressiv verkündet es: „Ich habe aufgehört zu sein. / Ich bin nicht mehr da“. Umso mehr verspürt man die Sehnsucht, die aus diesen häufig zutiefst einsamen Texten spricht – nach wahrem Dasein, nach Fülle und Gegenwärtigkeit. „Wenn ich wiedergeborenen werde“, so der Vorsatz, „will ich nur leben“.

Fotografischer Sprachduktus

Wo das Textsubjekt um seine Existenz ringt, wo es sich allenfalls in der Aufzählung von äußeren Charaktermerkmalen an ein Inneres anzunähern wagt, nimmt die Umwelt sukzessive den Raum ein. Im fotografischen Sprachduktus eines Rolf Dieter Brinkmanns schildert der 1966 in Winsen (Luhe) geborene Lyriker häufig auch in Abwesenheit einer kommentierenden Sprecherfigur dunkle Szenen und triste Orte: Eine Sonne verwest im Rapsfeld, Menschen beerdigen voller Trauer ihre Haustiere, derweil ziehen wir vorüber an Kiesgruben, Bundesstraßen, „Fickwohnmobile[n]“ oder „Meerwasserentsalzungsanlagen“.
Während die Zonen der Gesellschaft mitunter morbid und unwirtlich erscheinen, melden sich neben Pflanzen und Tieren die Toten zu Wort. Indem Koch allen vermeintlich stummen Wesen seine Sprache leiht, eröffnet er zugleich einen hinter der faden Wirklichkeit liegenden Raum der poetischen Selbstermächtigung. Mag die Realität ein Sammelsurium loser Eindrücke sein, werden diese hingegen im poetischen Text zu einem Ensemble verwoben:
„Gestern Abend habe ich einen Fußgänger gesehen,
heute Morgen eine Radfahrerin.
Beide schienen mir allein zu leben.
In diesem späten Gedicht mache ich sie miteinander bekannt.“
Das Gedicht stellt einerseits die Verlassenheit des lyrischen Ichs aus, andererseits wird in ihm Gemeinschaft denkbar, indem vereinzelte Personen in ein Verhältnis gesetzt werden. Satzfragmente und Reihungen einzelner Wörter wie „Luftschutzkeller. / Liebesspielzeug. / Blutwäsche. / Atemwende“ erweisen sich in dem Band „Dies ist nicht nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“ nicht nur als Ausdruck einer subjektiven Wahrnehmungslyrik, sondern begründen gleichsam das Gedicht als eigenes Dasein.
Man kann sich in ihm aufhalten, verlieren und wieder finden, gar auf Tiere treffen, die vielleicht in der echten Welt nicht existenzfähig wären. Denn „diese Zeile“, so liest man in einem Text „An meine Leser“, „bildet den Lebensraum der weltweit größten Population / flugunfähiger Vögel.“

Melancholie rückt in die Ferne

Nicht selten avanciert der Vers sogar selbst zu einem Handelnden. Dann kann es vorkommen, dass „jeder Satz […] unsterblich / in dich verliebt“ ist. In diesen Augenblicken löst sich das textübergreifende Lamento auf, lässt alle Melancholie in die Ferne rücken. Dann entsteht genau die Nähe, die sich das lyrische Ich so verzweifelt wünscht. Mit einprägsamer Lakonie und zartem Sentiment führt uns Koch somit schließlich doch noch an ein rettendes Gestade, nämlich an jenes der Poesie, die selbst dem Abhandengekommenen einen Platz gewährt.

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