Klimapolitik und Energiekrise

Freier als Hegel es für möglich hielt

05:43 Minuten
Eine Zeichnung eines grauen Windrades inmitten von grünen Bäumen.
Welche Freiheit meinen wir? Der Wunsch, von Gas und Öl unabhängig zu werden, macht umso mehr bewusst, dass wir auf die Ressourcen der Natur angewiesen und für ihren Schutz verantwortlich sind. © imago / YAY Images
Von Norman Marquardt · 19.06.2022
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Wo der Mensch den Naturgewalten zu Hegels Zeiten noch ausgeliefert schien, verhält es sich heute andersherum. Unsere Freiheit regiert gewaltsam in die Grundlagen unserer Existenz hinein.
„Freiheitsenergien“, so nennt Finanzminister Christian Lindner Wind-, Solar- und Wasserkraft, anlässlich der Sondersitzung des Bundestags zum Ukrainekrieg. Der neue Begriff klingt nicht nur jung und dynamisch, er knüpft auch an bestehende Diskurse an. 2021 bemängelte das Bundesverfassungsgericht die Verlagerung der CO2-Sparlast auf nachkommende Generationen. Schon hier verschmolz die Idee der Nachhaltigkeit mit der der Freiheit, sagt der Hegelforscher Eric Grabow:
"Was das Bundesverfassungsgericht gerügt hat, war, dass die Freiheitseinschränkungen für zukünftige Generationen größer werden als für die unsrige. Das heißt, die Freiheit besteht nicht nur darin, dass eine Gleichheit zwischen denen, die gleichzeitig leben, besteht, sondern auch eine Gleichheit zwischen denen, die jetzt leben und denen, die erst noch kommen."
Umso eindringlicher klingen die Warnungen des sechsten Sachstandberichts des Weltklimarates IPCC: Es sei zwar noch möglich, das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten, aber zunehmend unwahrscheinlich. UN-Generalsekretär Antonio Guterres spricht von einer "Litanei gebrochener Klima-Versprechen". Die Weltbevölkerung rausche auf einer Schnellstraße in die Klimakatastrophe.
Die IPCC-Berichte konfrontierten uns mit einem Ausmaß an Freiheit, das im frühen 19. Jahrhundert noch unvorstellbar war, sagt Grabow: "Wir sind noch viel freier, als Hegel sich das hätte träumen lassen, weil für Hegel bestimmte Dinge nicht zerstört werden können."

Moral der menschengemachten Natur

Allem voran die Natur. Wo der Mensch den Naturgewalten zu Hegels Zeiten noch ausgeliefert schien, verhält es sich heute gerade andersherum. Unsere Freiheit regiert selbst gewaltsam in die Grundlagen unserer Existenz hinein. Allerdings: Schon Hegel unterschied zwischen zwei Naturbegriffen. Die erste Natur setzt sich aus biologischen Sachzwängen zusammen. Die zweite Natur hingegen ist rein menschlich, ein Gebäude aus vernünftigen, selbst gesetzten Gewohnheiten und Konventionen.
Hier, im Reich der zweiten, der menschengemachten Natur, wäre Lindners Freiheitsenergie anzusiedeln. Aus Perspektive des schwäbelnden Kathederphilosophen wäre sie allerdings eher eine Energie der Unfreiheit.
Für Christian Lindner sind erneuerbare Energien nämlich Freiheitsenergien, weil sie uns aus Abhängigkeiten lösen. Hegel hingegen sucht die Freiheit der zweiten Natur in gegenseitig gestalteten Beziehungen, in wechselseitiger Kooperation. Der neue Liberalismus wäre für ihn ein tragisches Missverständnis von Freiheit.

Eingebunden ins sittliche Ganze

"Wir müssen verstehen, dass das Nachdenken über Freiheit im hegelschen Sinne immer diese komplexe Verweisungsstruktur vom Einzelnen zu vielen, zu allen meint", sagt Benno Zabel, Rechtsphilosoph an der Uni Bonn.
Frei ist für Hegel niemand allein, vielmehr benötigen die Einzelnen verlässliche Institutionen; Institutionen der alltäglichen Versorgung, der Rechtssicherheit, der politischen Teilhabe und Anerkennung. In dieses – wie Hegel es nennt – sittliche Ganze eingebunden, sind es dann aber auch die Einzelnen selbst, die für dessen Pflege verantwortlich sind.

Hegel hat nicht das machtvolle Recht oder den machtvollen Staat, der das für uns regelt. Der Staat ist letztlich doch wir – in welcher Form wir dann auch dieses "Wir" denken –, die Personen, die als Freie geboren werden und die das Freie in einer Verfassung wahrnehmen und selbst leben, würde Hegel sagen. Im Ethos.

Benno Zabel, Rechtsphilosoph

Für die Kulturwissenschaftlerin Birgit Schneider birgt die Klimawandel-Erkenntnis zwar keine unumstößlichen Orakelsprüche, sie ermöglicht es aber, neu über das Ganze nachzudenken – es als Erdsystem zu begreifen. Indem die Klimawissenschaft eine Reihe plausibler Szenarien errechne, erzeuge sie „Zukunftswissen“, evidenzbasierte Ahnungen von planetarischer Verwobenheit. Mittlerweile ist klar: Die zweite Natur ist weit größer, als es Hegel dachte.

Paradoxien der Klimawissenschaft

Die Wissenschaft zeige, dass – wenn nicht bald tatsächlich eine energiepolitische Wende kommt – Hitzewellen, Massenaussterben und Überflutungen unvermeidbar werden, warnt UN-Generalsekretär Guterres. Wie schon Hegel kennt auch er in seinem Denken nur eine Kraft: die Wirklichkeit.
Vielleicht ist das die Spur Geschichtsphilosophie, die auch noch in modernster Klimawissenschaft steckt. Die Klimatologie stellt der Weltgesellschaft zutiefst paradox vor Augen, was sie erst noch werden muss: frei. Sie zeigt leider auch: Dafür fehlt noch Energie.

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