Kleine Geschichte des Verfassungspatriotismus

Das Grundgesetz – Unsexy aber gut?

07:49 Minuten
Zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes liest in einer NRW ein Mann das Grundgesetz.
Kann das Grundgesetz der ungefährlichste Bezugspunkt für eine nationale Identität in Deutschland sein? © picture alliance/JOKER/Hartwig Lohmeyer
Von Johanna Tirnthal · 22.05.2019
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Mit 70 Jahre Grundgesetz wird auch der Begriff „Verfassungspatriotismus“ gefeiert. Seit 40 Jahren wird hitzig darüber diskutiert, ob man sich emotional mit seiner Verfassung verbunden fühlen kann.
"Meine Damen und Herren, kürzlich erzählte mir eine Bekannte, dass sie an einem ruhigen Abend das Grundgesetz aus dem Bücherregal gezogen habe und dann darin gelesen habe – noch einmal, und zwar ganz bewusst. Und zu ihrer eigenen Überraschung habe die Lektüre nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihr Herz erreicht."
Das erzählte Joachim Gauck 2017 bei seiner Abschiedsrede im Schloss Bellevue, eingerahmt von einer Jazzband und militärischen Ehren.
"Auch meine eigene Bindung an die Verfassung, also mein eigener Verfassungspatriotismus resultiert nicht nur aus intellektueller Einsicht, sondern ebenso aus emotionaler Berührtheit. Dieses Land ist die Heimat meiner Werte – es ist es geworden. Besonders deswegen fühle ich mich hier zugehörig, zuhause."

Emotionen für einen trockenen Gesetzestext

Das Grundgesetz ist zu seinem 70. Geburtstag in Mode wie selten zuvor. Eine neue Magazin-Ausgabe des Texts im schicken Layout kann man in Bahnhofsbuchhandlungen kaufen. Der zuständige Designer erzählt, seine Gänsehaut beim Lesen habe ihn dazu bewogen, das Grundgesetz neu herauszugeben. Mit etwas so trockenem wie einem Gesetzestext überhaupt Emotionen zu verbinden und dann auch noch so heimatlich-gerührte – das war nicht immer an der politischen Tagesordnung. Der Journalist und Politikwissenschaftler Dolf Sternberger war der erste, der den Begriff des Verfassungspatriotismus ins Spiel gebracht hat. Das war 1979 zum 30. Geburtstag des Grundgesetzes.
"Sternberger ging es primär um die Frage, ob man sich mit diesem westdeutschen Staat auf irgendeine starke Weise identifizieren sollte. Das hatte auch viel zu tun mit seinen philosophischen Hintergrundannahmen, wo er auch meinte es ist wichtig, dass Bürger sich gegenseitig nicht nur anerkennen, sondern auch wirklich ein Gefühl haben von Zusammengehörigkeit, das sich wiederum umsetzt in ein staatsbürgerliches Engagement."
So der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der untersucht hat, wie unterschiedlich die Idee des Verfassungspatriotismus in Deutschland diskutiert wurde. Sternberger stellte sich diese Fragen vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Teilung – allerdings fand seine Idee damals nicht besonders viel Resonanz.

Jürgen Habermas und der "Historikerstreit"

Fast zehn Jahre später griff dann Jürgen Habermas das Konzept auf und machte es erst richtig bekannt – das war im Zuge des sogenannten "Historikerstreits". Konservative Historiker hatten Texte veröffentlicht, die die alleinige Schuld und Verantwortung Deutschlands für die Shoa relativierten. Was folgte, war eine heftige mediale Auseinandersetzung über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und Identität.
"Habermas hat ja dieses Wort, diesen Begriff Verfassungspatriotismus sozusagen in Stellung gebracht. Seine Sorge war, durch die Veröffentlichungen dieser mehr oder weniger rechtslastigen Historiker kommt es zu einer Neubewertung, einer Aufwertung von kulturellem oder gar ethnischem Nationalismus in Deutschland."
Habermas war überzeugt:
Zitat: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus."
Seitdem wird diskutiert, ob das Grundgesetz der ungefährlichste Bezugspunkt für eine nationale Identität in Deutschland sein könnte, weil theoretisch jeder und jede sich damit verbinden kann. Der Ansatz sei viel zu abstrakt und zu wenig emotional, hört man immer wieder. Diese Kritik hält Jan-Werner Müller für verfehlt.
"Überhaupt reden wir ja in diesem ganzen Zusammenhang hier über Politik. Wir reden ja nicht über die Frage, wer hat in der Bundesliga die passioniertesten Fans, ist das jetzt Dortmund oder Bayern. Wir jeden ja darüber: Welche politischen Konsequenzen folgen aus der Haltung, die man gegenüber dem eignen Gemeinwesen einnimmt. Die entscheidende Frage ist dann: Welche Haltung produziert vielleicht mehr Fairness. Darum geht es letztendlich bei diesen Fragen, nicht so ganz allgemein nur darum, wer ist da irgendwie ein bisschen gefühliger."

Leichte Kritik am amerikanischen Verfassungspatriotismus

Jan-Werner Müller selbst hat sich so ausführlich mit Verfassungspatriotismus beschäftigt, weil der Aufschwung des sogenannten "liberalen Nationalismus" in der Politikwissenschaft ihm Sorgen machte – immer mehr Menschen waren überzeugt, es brauche einen kulturell homogenen Staat für ein gut funktionierendes Gemeinwesen. Diesem liberalen Nationalismus will Müller die Idee vom Verfassungspatriotismus entgegensetzen, sagt der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler – und wirft dabei auch einen kritischen Blick auf den amerikanischen Verfassungspatriotismus.
"Und es stimmt in der Tat, dass es ja in den USA geradezu einen Kult gibt um die Verfassung. Also um das Dokument selber, aber auch dadurch, dass man natürlich Feste zelebriert mit einer republikanischen Dimension wie den 4. Juli oder auch Kriegsschiffe nach der Verfassung benennt. Andererseits ist es natürlich etwas schwer zu argumentieren, dass es sozusagen in den USA deswegen überhaupt keinen Nationalismus gäbe oder auch keine starken Vorgaben von kulturellen Leitbildern."
Sein Buch mit dem Titel "Verfassungspatriotismus" hat Müller schon vor über zehn Jahren geschrieben. Seine neueren Bücher beschäftigen sich mit Populismus. Er meint, es wäre naiv zu denken, das Patentrezept gegen Rechtspopulismus sei ein breiter Verfassungspatriotismus.
"Aber er ist auch nicht ganz irrelevant in dieser Diskussion. Populisten behaupten ja zumindest meiner Ansicht nach immer, dass sie als einzige das vertreten, was bei ihnen häufig als ´das wahre Volk` oder als die schweigende Mehrheit bezeichnet wird. In dieser Hinsicht betreiben Populisten also immer eine Form von ausschließender Identitätspolitik. Sie geben eine gewisse Volks-Identität vor."

Verfassungspatriotismus – ein emotional besetzter Begriff

Der Verfassungspatriotismus hingegen macht ein anderes Identifikationsangebot: eines, das niemanden von vornherein ausschließt.
"Also Verfassungspatriotismus heißt nicht, dass es immer Konsens ist, alle sind einer Meinung, es ist alles völlig homogen, wer irgendwie anderer Meinung ist, was gewisse Ideen auch im Grundgesetz angeht, der ist potenziell Verfassungsfeind oder Staatsfeind – überhaupt nicht! Aber der Konflikt wird halt vor dem Hintergrund letztendlich geteilter Prinzipen ausgetragen."
Jan-Werner Müller vertritt damit die ursprüngliche Position eines aktiven, auf gemeinsamen Überzeugungen und politischem Streit basierende Auffassung von Verfassungspatriotismus – so war der Begriff bei Sternberger und Habermas gemeint. Heute hat sich die Debatte verbreitert – kaum jemand hält sie noch für elitär. Gleichzeitig ist der Begriff inzwischen sehr emotional besetzt:
Menschen erzählen davon, wie das Grundgesetz ihr Herz berührt und von Gänsehaut beim Lesen. Das war nicht im Sinne der ursprünglichen Debatte – denn, wie gleichberechtigt und fair es im Alltag am Ende tatsächlich zugeht, entscheiden die politischen Konflikte, die tagtäglich ausgetragen werden und nicht, wie stark man seine Verfassung liebt.
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