70 Jahre Grundgesetz

Ein Dokument der Freiheit

30:05 Minuten
Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Bonn.
Punkt 19:00 Uhr unterzeichnete Bundeskanzler Konrad Adenauer das Grundgesetz. © picture-alliance/dpa//AP-Images
Von Wolf-Sören Treusch · 20.05.2019
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Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Bonn unterzeichnet wurde, war es bis zur Wiedervereinigung eigentlich als Provisorium gedacht. Zum 70. Geburtstag erweist es sich als weise Verfassung. Aber ist sie immer noch in allen Punkten zeitgemäß?
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Heribert Prantl: "Ein Grundrecht ist so klar, dass ich es mir merken kann. Dass es ein Merksatz ist. Grundrechte sind Merksätze."
Rupert Scholz: "Deshalb ist diese Verfassung so vorbildlich geworden."
"Das deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten."
Rupert Scholz: "Das Grundgesetz ist ja seinerzeit 1949 zunächst mehr als Provisorium gedacht gewesen. Bis zur Wiedervereinigung."
Heribert Prantl: "Ich glaube, die insgesamt ja ganz gute Entwicklung der Bundesrepublik ist ohne das Grundgesetz nicht vorstellbar. Das Wort ‚Glücksfall‘ ist ein richtiges und treffendes Wort."

Poetisch und kraftvoll klingt der Text des Grundgesetzes

"Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Die Freiheit der Person ist unverletzlich."
Berlin, 03. Oktober 2018. Das Fest zum Tag der Deutschen Einheit. Auf der Bühne am Brandenburger Tor skandiert ein Chor aus 50 bunt gekleideten Menschen einzelne Grundgesetzartikel – vor allem aus dem Grundrechteteil, das sind die Artikel 1 bis 19. Mal brüllen und rufen, mal säuseln die Chormitglieder die Merksätze in den Wind. Mal solo, mal alle zusammen.
Ein paar hundert Zuschauer verfolgen die Performance. Sie sind überrascht, wie poetisch und kraftvoll es klingt, wenn ein Chor das Grundgesetz in Szene setzt. Einer der Verantwortlichen ist Aljoscha Begrich, Dramaturg am Berliner Maxim-Gorki-Theater.
"Es geht schon darum, diese Sprache, die ja eigentlich eine sehr schöne Sprache ist, die sie 1948/49 entwickelt haben, also eine sehr bürgernahe, dialogoffene Sprache, in der dieses Grundgesetz verfasst wurde, neu zu hören, vor allem: Man kann sehr leicht unterscheiden, was sind alte Gesetze und was sind neue Ergänzungen. Alles, was eigentlich leicht verständlich, prägnant und knapp beschrieben ist, ist eben aus diesem antifaschistischen Grundgestus nach der Katastrophe der Demokratie und des Zweiten Weltkriegs sehr leicht zu verstehen. Und alles, was ein bisschen komplizierter und komplexer ist, sind dann eben späte Ergänzungen."
"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."
"… ‚politisch Verfolgte genießen Asylrecht’. Punkt. Das ist klar, was damit gesagt ist. Wenn ich mir heute den Artikel angucke, der hat irgendwie einen Haufen Ergänzungen und Fußnoten, das kann man im Grunde, wenn man kein Fachmann ist, nicht mehr verstehen."


Die Bezeichnung "Grundgesetz" sollte damals den provisorischen Charakter der Verfassung unterstreichen. Heute lässt sich feststellen: gekommen, um zu bleiben. Deutschland feiert den 70sten Geburtstag der Verfassung. Seiner Verfassung. Die Deutschen mögen das Grundgesetz. In einer vor kurzem veröffentlichten repräsentativen Studie des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap gaben 88 Prozent der Befragten an, das Grundgesetz habe sich "sehr gut" oder "gut" bewährt.
Es ist populär wie nie. Unzählige Bücher zur Geschichte des Grundgesetzes sind jetzt erschienen, auch ein Hochglanzmagazin mit dem vollständigen Text in bereits dritter Auflage. In Berlin und Karlsruhe werden die Menschen rund um den Verfassungstag am 23. Mai ausgiebig feiern – und damit auch wieder Bewunderer im Ausland finden. Glaubt die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff.
"Ich kann mich erinnern an einen italienischen Kollegen, der mal Botschafter in Deutschland war und der die Feiern zum 60sten Geburtstag des Grundgesetzes in Italien im Fernsehen in den Nachrichten gesehen hatte, also Feuerwerk über dem Brandenburger Tor, Beethoven neunte Sinfonie, Heerscharen von Menschen in den Straßen, der sagte, so was wäre in Italien völlig undenkbar, dass man die Verfassung mit so einer Art Volksfest unter Beteiligung von Hunderttausenden von Menschen feiert und dass er Deutschland sehr darum beneidet, dass das bei uns geht."
Das Deutsche Grundgesetz
Im Deutschen Grundgesetz sind die Grundrechte wie Artikel 5, das Recht auf Meinungsfreiheit, verankert.© imago images / Christian Ohde

Das Grundgesetz: Ein Glücksfall für Deutschland

"Nie wieder!" ist das zentrale Versprechen dieser Verfassung. Nie wieder sollte es möglich sein, in Deutschland die Demokratie abzuschaffen und ein totalitäres Regime zu errichten. Damals, auf den Schuttbergen des Zweiten Weltkriegs, war das Grundgesetz eine Kopfgeburt, eingefordert von den Besatzungsmächten. Heute, 70 Jahre später, wird dieses Grundgesetz gelebt und verehrt. Viele Menschen bezeichnen es als Glücksfall für Deutschland. Auch Heribert Prantl, Jurist, Journalist und Autor, zuletzt Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung.
"Das Grundgesetz war den Leuten damals ziemlich wurscht. Die Leute haben gesagt: Wo kriegen wir was zu essen her, und wie entwickelt sich dieses Land einigermaßen wirtschaftlich? Das Grundgesetz hat Glanz gewonnen mit dem Wohlstand. Es war ein unendliches Glück, und das war der große Unterschied zu den20er-Jahren, dass es keine Weltwirtschaftskrise gab, dass sich der Wohlstand eigentlich unglaublich schnell entwickeln konnte, und mit dem Wohlstand gewannen die Grundrechte und das Grundgesetz an Zuspruch."


Die Grundrechte machen nur einen Bruchteil der Verfassung aus: 19 von mittlerweile über 200 Artikeln. Alles andere ist Staatsorganisation, eine Art Betriebsanleitung für die Bundesrepublik Deutschland: Wie und wann wird der Bundestag gewählt? Wie genau kommt ein Gesetz zustande?
"Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, …"
Erst die Grundrechte machen das Grundgesetz zu dem, was es ist: ein Dokument der Freiheit. Um sie geht es vor allem, um die eigene, aber auch die der Andersdenkenden. Auch deshalb ist die bundesdeutsche Verfassung so vorbildlich, meint der CDU-Politiker und Staatsrechtler Rupert Scholz.
"Man ging ja damals davon aus, dass die Wiedervereinigung nicht so lange auf sich warten lassen würde, wie es dann tatsächlich der Fall war. Das hat dazu geführt, dass man sich damals im Parlamentarischen Rat auf grundlegende Entscheidungen konzentriert hat. Das heißt, man hat eben keine Detailregelungen zu jeder wie auch immer x-beliebigen Frage in die Verfassung hineingeschrieben. Und das war eine große Klugheit, eine große Weisheit, weil damit die Verfassung insgesamt zwar in den Grundwerten sehr strikt war, aber zugleich das nötige Maß an Offenheit gegenüber den wechselnden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gewahrt hat."
Artikel 3 des Grundgesetzes: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Viele Grundrechte sind auch Menschenrechte.© imago/photothek/Thomas Trutschel

Ein Dokument der Selbstbestimmung

Das Grundgesetz lässt der Gesellschaft Luft zum Atmen, Luft zur Selbstbestimmung. Artikel 8 beispielsweise garantiert die Versammlungsfreiheit. Ein Grundrecht, von dem die Bundesbürger seit 1949 regelmäßig Gebrauch machen. Manchmal sind sie noch nicht einmal volljährig.
"Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut. Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut."
"Ist total cool, dass wir wirklich jetzt viele sind heute."
Berlin, an einem Freitagvormittag vor zwei Monaten. Hannah, 16 Jahre alt, zehnte Klasse, hat sich gerade ihr grellgrünes Ordner-Shirt angezogen. Gleich wird sie mithelfen, die Kundgebung der Schülerbewegung "Fridays-for-Future" in geordnete Bahnen zu lenken. Mehrere hundert Kinder und Jugendliche beteiligen sich an diesem Vormittag am Schulstreik fürs Klima.
"Ich glaube, dass Kinder auch viel dazu sagen müssen, weil: Das ist unser Leben, und manche Menschen, die hierfür verantwortlich sind, sind vielleicht in 15 Jahren weg, aber wir sind diejenigen, die dann noch mit den Problemen umgehen müssen."
Der Schutz der "natürlichen Lebensgrundlagen" ist in der Verfassung als Staatsziel verankert. Seit 2002, im Artikel 20a. Mehr steht dazu im Grundgesetz aber nicht, auch nicht zum Klimaschutz. Die jungen Menschen sind empört. Hannah auch.
"Seit 40 Jahren ist klar, was der Klimawandel ist, und was er für Folgen hat. Und 40 Jahre wurde nichts getan. Natürlich: Ich kann schon verstehen, dass junge Menschen sich darüber aufregen. Weil sie sagen: Leute, ihr hättet schon viel früher anfangen können, es ist nicht, dass ihr irgendwie morgens aufgewacht seid: ´Oh, es gibt ja noch den Klimawandel.` Sondern ihr hattet jetzt 40 Jahre Zeit, Pläne zu machen, euch zu überlegen, welche Maßnahmen man da ergreift. Und irgendwann, finde ich, sinkt mein Verständnis dafür auch. Diese Argumentation, man hätte zu wenig Zeit dafür gehabt, die gilt nicht. Man hatte genug Zeit."

Klimaschutz fehlt im Grundgesetz

"Fridays for Future" bekannt gemacht, hat die 16-jährige Greta Thunberg aus Schweden. Seit einem Dreivierteljahr begibt sie sich regelmäßig freitags vors heimische Parlament und fordert die Politiker auf, endlich etwas gegen den Klimawandel zu tun. Als Hannah die Bilder vom stillen Protest Gretas zum ersten Mal sah, wusste sie: Jetzt streike ich auch. – Das Grundgesetz hatte sie auf ihrer Seite.
"Damit lebt man doch eigentlich Demokratie. Wir gehen auf die Straße, wir tun unsere Meinung öffentlich kund und müssen nicht Angst haben, dass diese Demonstration oder die Streiks gewaltsam niedergeschlagen werden. Ich meine, das ist doch Demokratie, was hier gerade ausgelebt wird. Und deswegen finde ich es auch umso enttäuschender, dass auch alte Leute sich gern darüber aufregen, die Jugend sei zu unpolitisch. Und dann gehen wir mal alle auf die Straße und engagieren uns für ein Thema, was uns am Herzen liegt, dann ist es wieder zu politisch. Manchmal denke ich: Entscheidet euch mal."
"Ich bin hier, um mal die Luft so zu schnuppern, was hier so los ist", sagt eine ältere Frau. "Ob das wirklich ernst gemeint ist, was hier so passiert. Ob Leute mitlaufen, die genau wissen, worum es geht. Und ich bin ganz hochzufrieden. Ich sage mal ehrlich: Ich war sehr gerührt, und ich habe ein bisschen geweint, weil ich gedacht habe: Mensch, jetzt müsst ihr das machen, was wir verkorkst haben."


"Alles nur Schulschwänzer", lautet der meistgehörte Vorwurf der Erwachsenen. Mittlerweile jedoch steigt auch unter den Älteren die Zahl derjenigen, die es gut finden, dass die Schüler zu Zehntausenden auf die Straßen gehen. Manche Eltern schmücken sich gar mit dem politischen Engagement ihrer Kinder, deren Horizont, so stellen sie überrascht fest, über den Bildschirm ihres Smartphones hinausreicht.
Und die es, wie Hannah, toll finden, beim Einsatz für die gute Sache auch fürs Leben zu lernen. Zum Beispiel eine Demo anzumelden und festzustellen: Gar nicht so kompliziert, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.
"Ich habe in den letzten paar Monaten und Wochen einfach, was das angeht, total viel dazu gelernt. Mehr als an manchen Schultagen."
Die Demonstration "Fridays for Future" zieht mit einem Banner, auf dem "Our House Is On Fire" steht, am Reichstag Ende März vorbei. 
Am 29. März kam "Fridays for Future"-Gründerin Greta Thunberg nach Berlin und demonstrierte mit den Schülerinnen und Schülern. © picture alliance/dpa/Jörg Carstensen

Kampf für mehr Klimaschutz in der Verfassung geht weiter

"Okay. Leute, Leute, machen wir bestimmte Sachen bunt oder alles einfarbig?"
Eine große Lagerhalle in Berlin-Kreuzberg. Die Schülerinnen und Schüler gestalten die Plakate und Transparente, die sie bei den Demonstrationen tragen.
"Vielleicht sollte man ‚Fire’ größer machen als alle anderen Buchstaben", meint Hannah in der Runde.
"Our house is on fire": In großen Lettern malen sie ein Zitat der allgegenwärtigen Greta Thunberg auf ein Spruchband. Hannah ist auch dabei. Sie erzählt, dass ihre Familie den Lebensstil geändert hat. Kein Privat-Pkw mehr, keine Reisen mit dem Flugzeug, Hannah ernährt sich zudem vegetarisch. Aber noch wichtiger findet sie, den Klimaschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Eine entsprechende Verfassungsinitiative in Bayern ist soeben gescheitert. Ein sensibles Thema: Denn wie soll etwas geschützt werden, das Klima, das vor nationalen Grenzen nicht Halt macht? Auf Fragen wie diese weiß die 16-jährige Hannah natürlich keine Antwort. Aber sie will wenigstens dafür sorgen, dass diejenigen, die sie womöglich geben könnten, mehr dafür tun: die Politiker.
"Ich weiß, dass ich, wenn sich nichts ändern wird, dass ich mich in einem Jahr immer noch draußen jeden Freitag auf der Straße sehen werde und streiken sehen werde."

Kommunalpolitiker sind Helden der Demokratie

Die Grundrechte haben im Laufe der vergangenen 70 Jahre die Bundesrepublik vollkommen verwandelt. Wie eine Art Korrekturprogramm, vorangetrieben vom Bundesverfassungsgericht, das nach und nach alle Bereiche liberalisiert hat. Das Eherecht, das Familienrecht, den Strafvollzug, die Schulen und die Behörden. Und immer wieder sind es die Staatsbürger selbst, die mit Hilfe von Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe weitere Freiheiten erkämpfen. Nicht zu vergessen die Bürger, die sich tagtäglich, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, für das Funktionieren des Gemeinwesens einsetzen.
"Man muss lernen, dass diejenigen, die repräsentativ, ehrenamtlich, im Gemeinderat arbeiten, dass das eigentlich die Menschen sind, die was leisten für die Demokratie. Vielleicht sogar mehr als die Aktivisten, die mal für einen Punkt auf die Straße gehen. Ich will die nicht gegeneinander ausspielen, aber ich möchte, dass wir sehen, wer da in Parteien arbeitet und sich engagiert, wer im Gemeinderat sitzt, nicht wegen des Geldes, und viel Zeit dafür aufwendet. Das sind auch Helden unserer Demokratie, und sie verdienen mehr Respekt."

"Bei einer Oberbürgermeisterwahl, zu der drei Kandidaten antreten, im ersten Wahlgang gewählt zu werden, das grenzt an Wahnsinn aus meiner Sicht. Ja."
Zu den "Helden unserer Demokratie", wie Udo di Fabio sie nennt, gehört Daniel Schultheiß: 38 Jahre alt, von Beruf Kommunikationswissenschaftler und seit Ende 2018 Oberbürgermeister von Ilmenau. Universitätsstadt in Südthüringen, knapp 40.000 Einwohner. Was seine Wahl zum OB so besonders macht, ist die Entstehungsgeschichte.
"Ja, wir haben tatsächlich Bockwurst gegessen an dem Tag."

Vor zehn Jahren saß er mit ein paar Arbeitskollegen mittags in der Mensa: Wie üblich diskutierten sie kommunalpolitische Themen. Die Köpfe rauchten.
"Man hat ‘ne kluge Meinung zu irgendwas, aber dann muss es ja irgendwo weitergehen. Wie geht es denn weiter? Ich kann die Meinung unendlich wiederholen, aber es passiert nichts. Also war in dem Moment der konsequente Schritt, gut, nur wenn wir in die kommunalpolitische Strukturen uns einbringen, dort mitwirken, dann passiert mit unserer Meinung was. Und daher haben wir uns dazu entschlossen, eine eigene Wählervereinigung zu gründen. Tja, und die Legende besagt: Es gab am selben Tag Bockwurst in der Mensa, das war tatsächlich so, und dann hießen wir ‚Pro Bockwurst’, weil wir uns über die Inhalte und nicht über den Namen der Wählergemeinschaft Gedanken machen wollten."
"Pro Bockwurst" also nannten sie sich – und machten damit Gebrauch von Artikel 9 des Grundgesetzes, dem Grundrecht der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit. Um an den Kommunalwahlen teilnehmen zu dürfen, benötigte die Wählervereinigung mit dem ulkigen Namen nun die Unterschriften von mindestens 120 Ilmenauer Bürgern.
"Da wir relativ spät dran waren, haben wir ordentlich gebuckelt ‘ne Woche lang, um die 120 Unterstützungsunterschriften, die nicht per Klemmbrett gesammelt werden dürfen, sondern per Amtsstubensammlung. Das bedeutet: Es müssen Menschen die Motivation haben, ins Rathaus zu gehen, dort einen Zettel auszufüllen und quasi die Unterstützung für ‘ne Wählergemeinschaft kundzutun. Das ist natürlich schon ‘ne gewisse Hürde, die sich der Gesetzgeber so ausgedacht hat. Meines Erachtens nach ist sie durchaus sinnvoll, um reine Spaßveranstaltungen zu vermeiden."
Daniel Schultheiß, Oberbürgermeister von Ilmenau, lehnt an einem Geländer. Im Hintergrund ist Ilmenau zu sehen.
Daniel Schultheiß (parteilos), Oberbürgermeister von Ilmenau, hat Erfolg mit einer bürgernahen und transparenten Kommunalpolitik.© Paul Träger

Bürgernahe Politik - ein völliges Novum

Viele Bürger waren in der Tat skeptisch, ob "Pro Bockwurst" mehr war als Politklamauk. Dennoch schafften es Daniel Schultheiß und ein weiteres Mitglied bei den Wahlen 2009 in den Stadtrat. Und machten sogleich bürgernahe und transparente Politik. Sie setzten durch, dass jeder Ilmenauer Vorschläge machen darf, wofür das Geld in seiner Stadt ausgegeben werden soll. Und dass jeder Bürger während der Sitzungen des Stadtrats Fragen stellen darf – von drinnen wie von draußen. Ein völliges Novum.
"Wir haben einfach angefangen, einen Liveticker in Stadtratssitzungen zu etablieren. Der immer noch geführt wird. Ich bin kein großer Freund von Twitter, aber Twitter ist ein exzellentes Instrument für so ‘ne Live-Berichterstattung. Weil: In dem Moment – ob das jetzt ein Fünf-Minuten-Takt oder ein 30-Sekunden-Takt ist – haben wir einen schönen Kanal gefunden, um aus den Stadtratssitzungen zu berichten, haben dann gemerkt, dass, klar am Anfang erst ein bisschen zögerlich, dass uns dann auch die Menschen Rückfragen in die Sitzungen geschickt haben über den Kanal. Und haben so einfach die Arbeit des Stadtrats offener und transparenter gemacht."
Die Politik von "Pro Bockwurst" kam an. 2012 trat Daniel Schultheiß erstmals zur Oberbürgermeisterwahl an, holte 29 Prozent, ein Achtungserfolg. 2018 kandidierte er erneut, diesmal holte er 51,4 Prozent, seitdem ist er Oberbürgermeister. Ein Boulevardblatt titelte: "Politik immer irrer – Kleinstadt wählt Bockwurst-Bürgermeister".
"In Ilmenau diskutiert keiner mehr über den Namen. In Ilmenau wissen die Menschen: Was steckt hinter "Pro Bockwurst". Nach zehn Jahren ist da eine gewisse Normalität eingekehrt. Und wenn man sich jetzt zum Beispiel die aktuelle Kandidatenliste für die Kommunalwahl 2019 von "Pro Bockwurst" anguckt, das sind gestandene Persönlichkeiten aus dem Ilmenauer Stadtbild. Hätte man denen vor zehn Jahren gesagt, du trittst mal auf einer Liste von einer Wählergemeinschaft an, die sich "Pro Bockwurst" nennt, die hätten uns ausgelacht."

Vorschriften zur Selbstverteidigung der Demokratie

Gleich gegenüber vom Rathaus trifft sich "Pro Bockwurst" regelmäßig zum politischen Stammtisch. Stadtratsmitglied Gunther Kreuzberger leitet die Sitzungen. Heute soll eine Kandidatin für die bevorstehende Kommunalwahl nominiert werden.
"… wo Deutschland sehr viel in den letzten 70 Jahren gelernt hat, und aus meiner Sicht ist das hier mal wieder ein schönes Beispiel für gelebte Demokratie, wie wir das hier ganz spontan machen können – natürlich alles ordnungsgemäß."
Das Grundgesetz ist voll mit Vorschriften zur Selbstverteidigung der Demokratie. Dazu gehören das "konstruktive Misstrauensvotum", das den Sturz einer Regierung nur erlaubt, wenn zugleich eine neue gewählt wird, ebenso wie die Fünfprozentklausel oder die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten. Zweimal hat das Bundesverfassungsgericht bislang ein Parteiverbot ausgesprochen: 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei SRP, 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands KPD. Immer wieder auf dem Prüfstand: die NPD. Die Wählervereinigung "Pro Bockwurst" stand von Beginn an nicht im Verdacht, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen.
"… zwölf Zettel sind gültig, und zwölf haben für ja gestimmt."
"Wir haben sicherlich so ein bisschen Aufwind im Lokalen und Regionalen gebracht, aber ob das jetzt das Rezept ist, um die gesamte Politikverdrossenheit in Thüringen oder in der Republik zu lösen, so weit kann ich mich nicht aus dem Fenster lehnen."
Und was denkt ein bodenständiger Lokalpolitiker wie Daniel Schultheiß über die rein theoretische Frage, ob Deutschland eine neue Verfassung braucht?
"Was heißt neu? Ist ‘ne interessante Fragestellung, weil: Eigentlich müsste man ja sicherstellen, dass die Verfassung eben nicht neu ist. Die heißt, dann zwar vielleicht Verfassung, aber aus meiner Sicht müssten ja die grundsätzlichen Normen, die enthalten sind…, die haben ja nicht ohne Grund so lange Bestand. Und dann nennt man das anders. Und am Ende ist hoffentlich das gleiche drin. Und dann kann man sich das auch sparen, ehrlich gesagt."

Keine neue Verfassung nach der Wiedervereinigung

Ein Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde diese Frage ernsthaft diskutiert. 1990 im Zuge der Wiedervereinigung. Denn es musste geklärt werden, ob die DDR nach Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitritt oder nach Artikel 146 eine Neukonstituierung des deutschen Staates nötig sei, in dem das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit verliert, an dem eine neue, vom gesamten deutschen Volk beschlossene, Verfassung in Kraft tritt. Rupert Scholz.
"Ich war damals entschieden gegen den Weg über 146, weil, wie wir Deutschen sind, wenn wir damals in dieser historischen glücklichen Sekunde, dass von Gorbatschow bis Bush wir die Alliierten hinter uns hatten für die Wiedervereinigung, wenn wir da erst angefangen hätten, eine neue Verfassung zu erarbeiten, mit deutschem Perfektionismus, dann wären wir vielleicht heute noch nicht wiedervereinigt."
Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: Die DDR trat nach Artikel 23 bei. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es seitdem, die Deutschen hätten die Einheit und Freiheit Deutschlands "vollendet". Ein verlogener Satz, findet Heribert Prantl.
"Wenn wir heute immer wieder fragen, warum im Osten viel schief läuft, warum das Bewusstsein da ist, man ist vom Westen überrollt worden und das eigene Leben ist gar nichts wert, die eigenen Erfahrungen, liegt es vielleicht auch daran, dass dieses Leben, diese Erfahrungen der Menschen im Osten nicht gefragt worden ist. Hätten wir damals eine neue Verfassung gemacht, wären die Erfahrungen der Menschen im Osten in ganz anderer Weise gewürdigt worden. Es heißt ja nicht: Neue Verfassung, wir hätten das ganze Grundgesetz weggeschmissen. Und hätten gesagt: Wir machen alles neu. Aber: Man hätte auf dem Grundgesetz aufgebaut und hätte Dinge eingefügt, die den dazukommenden Millionen Menschen aus dem Osten besonders wichtig sind.

Stattdessen wurde im Einigungsvertrag 1990 festgelegt, eine Gemeinsame Verfassungskommission zu gründen. Sie sollte sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes befassen.
"Im Einigungsvertrag ist festgelegt: Das Grundgesetz wird überprüft auf Reformbedürftigkeiten. Nicht, ob das Grundgesetz als solches gilt. Es war nicht nötig. Das Grundgesetz hatte seine Bewährungsprobe so erstklassig über Jahrzehnte bestanden, und das war auch die Meinung der Ostdeutschen."
Unterzeichnung des Einigungsvertrags zur Wiedervereinigung der BRD und DDR am 31. August 1990 im Palais Unter den Linden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (l) und Staatssekretär Günther Krause überreichen sich die Dokumente.
Unterzeichnung des Einigungsvertrags zur Wiedervereinigung der BRD und DDR am 31. August 1990 im Palais Unter den Linden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (l) und Staatssekretär Günther Krause überreichen sich die Dokumente. © picture allliance/dpa/IMAGNO/Votava

Nur wenige Empfehlungen zur Änderung des Grundgesetzes

Der Verfassungsrechtler Rupert Scholz, damals für die CDU im Bundestag, übernahm den Vorsitz, zusammen mit Henning Voscherau, SPD, damals Bürgermeister in Hamburg. Zwei Jahre lang, 1991 bis 1993, überprüfte die Kommission etwa die Hälfte aller Grundgesetzartikel. Heraus kamen acht Empfehlungen, wie das Grundgesetz geändert bzw. ergänzt werden könne. Unter anderem betraf es die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau, die rechtliche Stärkung Behinderter und den Umweltschutz, der nun als Staatsziel formuliert wurde. Eine Volksabstimmung über das Grundgesetz sei nicht nötig, hieß es im Abschlussbericht. Der frühere SPD-Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel, Mitglied der Kommission, zeigte sich enttäuscht über das dünne Ergebnis.
"Wir haben gerade unter dem Eindruck der Entwicklung in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesländern gehofft, dass jedenfalls Ansätze zur direkten Bürgerbeteiligung nun, nachdem in 15 von 16 Bundesländern, darunter in allen fünf neuen Bundesländern, sie Eingang in die Verfassung gefunden haben, auch auf Bundesebene möglich würden. Es ist nicht gelungen. Wir hatten weitere Staatsziele vorgeschlagen, im Einklang mit den Verfassungen der neuen Bundesländer. Es ist nicht gelungen."

Keine Bürgerbeteilig, kein Recht auf Arbeit oder eine Wohnung

Die Ergebnisse der Kommission blieben weit zurück hinter den Erwartungen von früheren ostdeutschen Bürgerrechtlern, Sozialdemokraten, Grünen und Linken, damals PDS. Elemente direkter Bürgerbeteiligung fanden ebenso wenig Berücksichtigung wie das Recht auf Arbeit oder auf eine Wohnung.
"Das Grundgesetz hat auf solche sozialen Grundrechte ganz bewusst verzichtet. Wir haben einen entwickelten Sozialstaat über das Sozialstaatsprinzip. Soziale Grundrechte sind dagegen meist nur, ich sag ganz bewusst, Kosmetik. Das kann man am Recht auf Arbeit besonders deutlich machen. Wenn ich in die Verfassung ein Recht auf Arbeit hineinschreibe, dann ist da ein Recht des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber. Aber wie soll denn das durchgesetzt werden? Mir ist immer sehr wichtig gewesen, das ist auch ein Erfolgsgeheimnis des Grundgesetzes, in eine Verfassung nicht zu viele Dinge hineinzuschreiben, die nicht einlösbar sind."
"Die Einführung dieser plebiszitären Elemente nach der deutschen Einheit hätte dem Land und vielen Debatten, die es seitdem gibt, gut getan."
Heribert Prantl ist überzeugt: Die Unionsparteien hatten gar kein Interesse an einer grundlegenden Reform des Grundgesetzes. Auf direktdemokratische Elemente zu verzichten, sei ein Fehler gewesen.
"Hätte es ein Plebiszit nach der deutschen Einheit gegeben, hätte man damals vor 25 Jahren das Plebiszit eingeführt, dann gäbe es vielleicht keine AfD. Weil es ein Ventil gegeben hätte, das sich auch außerhalb von Wahlen einsetzen lässt und nicht so viel Druck entstanden wäre. Vielleicht hätte es dann eine Abstimmung gegeben, wie man mit den Grenzen umgeht, wie man mit Flüchtlingen umgeht. Man sieht ja bei Volksabstimmungen in den Ländern, dass so ‘ne Abstimmung befriedend wirkt. Natürlich wird immer noch um Stuttgart 21 heftig diskutiert, aber jeder weiß, der diskutiert: Die Sache ist ausgestanden."

Volksabstimmungen auf Bundesebene bleiben umstritten

Die Volksabstimmung auf Bundesebene – spätestens seit der Abstimmung der Briten über den Brexit ist das ein Dauerbrennerthema an den politischen Stammtischen der Republik. Das Grundgesetz sieht die Volksabstimmung nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes und im Fall einer neuen Verfassung vor. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist jedoch festgehalten, eine Expertenkommission werde Vorschläge erarbeiten, ob und in welcher Form unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch Elemente direkter Demokratie ergänzt werden kann. Die Fronten sind klar.
"Ein Volksentscheid kennt nur das ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Demokratie ist aber wesentlich, gerade in einer pluralistischen Gesellschaft, angelegt auf den Kompromiss. Das ist kompliziert. Aber hierüber kann man nicht mit ja oder nein abstimmen, und dazu bedarf es gerade etwa der parlamentarischen Beratung. Nur das Parlament ist in der Lage, eine wirklich der pluralistischen Gesellschaft gemäße Entscheidung zu treffen."
"Ich glaube tatsächlich, dass das Volk in den vergangenen 70 Jahren gezeigt hat, dass es reifer geworden ist. Aber auch über die Dinge, über die der Volksgesetzgeber abstimmt, müsste natürlich das Verfassungsgericht entscheiden können, ob es verfassungsgemäß ist. Es kann ja nicht sein, dass die Gesetze, die im Parlament gemacht werden, ein minderes Recht darstellen als die Gesetze, über die das Volk beschließt. Das heißt: Man kann durchaus beruhigt sein. Wenn das Volk Gesetze beschließt per Volksabstimmung, dann wacht auch darüber das Bundesverfassungsgericht."


Das Grundgesetz war ursprünglich als Provisorium gedacht. Jetzt ist es 70 und immer noch da. Ob es den Anforderungen und Bedürfnissen der modernen Gesellschaft gerecht wird – Flüchtlingspolitik, Klimawandel, Digitalisierung – darüber wird heftig debattiert. Im Zeitalter des Schwarz-Weiß-Denkens, der Vereinfachung und der Zuspitzung, ist dieses Grundgesetz jedoch eine Wohltat. Es rät den Deutschen zu Maß und Mitte. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es noch keine neue Verfassung gibt. Alle wissen: Ein Konsens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, wie ihn die Gründungsväter und -mütter 1949 hinbekommen haben, ist heute nicht mehr zu schaffen. Noch einmal die frühere Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff.
"Das ist schon was und ein Ausdruck davon, dass die Verfassung eine gewisse Präsenz im allgemeinen Bewusstsein hat und dass die Menschen sich darüber klar sind, dass die Qualität ihres Zusammenlebens eben nicht einfach von nichts kommt, und auch nicht nur davon, dass wir alle gewisse Werte im Herzen tragen, sondern dass es eine rechtliche Ordnung gibt, die im Bedarfsfall auch verteidigt und geschützt werden muss, wenn es uns weiter gut gehen soll."
Genau um 17 Uhr wurde am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz unterzeichnet.
Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 in Bonn: Ein Konsens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.© picture alliance/dpa/AP-Photo/Hanns J. Jaeger

Autor: Wolf-Sören Treusch
Regie: Roman Neumann
Ton: Ralf Perz
Redaktion: Carsten Burtke

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