70 Jahre Grundgesetz

Das Erbe der Paulskirchenverfassung

29:42 Minuten
Eröffnung der Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. am 18. Mai 1848.
Eröffnung der Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. am 18. Mai 1848. (Koloriert, um 1890, nach zeitgen. Zeichnung von Vantadour) © picture-alliance / akg-images
Von Annette Wilmes · 22.05.2019
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Die Paulskirchenverfassung von 1849 wurde vor allem von Juristen ausgearbeitet und trat nie in Kraft. Trotzdem war sie mit ihren freiheitlichen Grundrechten wegweisend für die deutschen Verfassungen des 20. Jahrhunderts.
Feierliche Verkündung, Verabschiedung des Grundgesetzes. Das weiße Gebäude der Pädagogischen Akademie direkt am Rhein gelegen zeigt heute ein festliches Bild. Vorne, am Eingang, die Flaggen aller deutschen Länder. Und hier in diesem nüchternen Saal der Aula der Pädagogischen Akademie heute einmal Lorbeerbäume und Blumenschmuck.
Bonn, 23. Mai 1949. Der Parlamentarische Rat ist ein letztes Mal zusammengekommen. Auf der Tagesordnung steht ein einziger Punkt: Feststellung der Annahme, Ausfertigung und Verkündung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer:
"Meine Damen und Herren, gemäß Artikel 145 verkündige ich im Namen und im Auftrage des Parlamentarischen Rates, unter Mitwirkung der Abgeordneten Groß-Berlins das Grundgesetz. Es tritt mit Ablauf des heutigen Tages in Kraft."
Das Grundgesetz war auf Geheiß der alliierten Siegermächte USA, Frankreich und Großbritannien zustande gekommen. Der Parlamentarische Rat, zusammengesetzt aus 65 Landtagsabgeordneten, darunter lediglich vier Frauen, hatte den Entwurf in knapp neun Monaten erarbeitet und am 8. Mai mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen. Eine Volksabstimmung gab es nicht.
"Denn das war seinerzeit klar, man würde einen Notbau errichten für eine Übergangszeit, weil man eigentlich der Überzeugung war, die deutsche Wiedervereinigung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen."
Horst Dreier ist Professor für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg.

Das Grundgesetz – eine Erfolgsgeschichte

In dieser Zeit, also nach der Teilung, nach der deutlichen Westbindung, die Adenauer dann durchgesetzt hat, hat sich das Grundgesetz eigentlich je länger je mehr als eine gut lebbare Verfassung erwiesen, insbesondere zunehmend vielleicht in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren auch wegen der Grundrechte, nicht zuletzt wegen der intensiven Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Es ist eine Erfolgsgeschichte geworden.
Für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates war nicht vorhersehbar, dass aus dem Provisorium eine echte Verfassung, eine "Vollverfassung" werden sollte. Das Wort "Verfassung" hatte man vermieden, denn eine Verfassung sollte nur für ein wieder geeintes Deutschland gelten. Die Bezeichnung "Grundgesetz" erläuterte Carlo Schmid, der prominente Staatsrechtler, der für die SPD im Parlamentarischen Rat saß.
"Wir haben nicht die Verfassung Deutschlands oder Westdeutschlands zu machen. Wir haben keinen Staat zu errichten. Auch ein Staatsfragment muss eine Organisation haben, die geeignet ist, den praktischen Bedürfnissen der inneren Ordnung eines Gebietes gerecht zu werden. Auch ein Staatsfragment braucht eine Legislative, braucht eine Exekutive und braucht eine Gerichtsbarkeit."

"Man muss sich in diese Lage 1945 bis 1949 zurückversetzen. Große materielle Probleme, Schutt aufräumen, sowohl buchstäblichen Schutt als auch in den Köpfen. Es waren eben doch noch viele überzeugt, dass der Nationalsozialismus eigentlich doch etwas Gutes gebracht hat."
Michael Stolleis, früherer Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte und emeritierter Professor für öffentliches Recht und neuere Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
"Und wie die Menschen so sind, diese Bilder und Überzeugungen verschwinden wenig, lassen langsam nach oder sie bleiben bis zum Tod einer ganzen Generation in den Köpfen. Und das haben wir in der Bundesrepublik auch erlebt. Die jüngere Generation, die etwa um, sagen wir, 1955 bis 1965 an die Universitäten kam, die fing dann an zu diskutieren mit der Elterngeneration. Ich hab das sehr deutlich noch vor Augen."
Abstimmung über das Grundgesetz am 8. Mai 1949 im Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates im Gebäude der früheren pädagogischen Akademie in Bonn. In der ersten Reihe (l-r): Walter Menzel, Carlo Schmid, Paul Löbe und Theodor Heuss.
Abstimmung über das Grundgesetz am 8. Mai 1949 im Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates im Gebäude der früheren pädagogischen Akademie in Bonn. In der ersten Reihe (l-r): Walter Menzel, Carlo Schmid, Paul Löbe und Theodor Heuss.© picture alliance/dpa

Die Demokratie war noch nicht vollständig verlernt

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren anders, sie waren Nazi-Gegner. Unter ihnen waren Emigranten, viele Nazi-Opfer, auch Widerstandskämpfer, auch ehemalige KZ-Gefangene. So entstand im Parlamentarischen Rat eine Verfassung, die die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ganz nach vorne rückte.
Die Bundesrepublik Deutschland ist laut Grundgesetz ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Dass es dazu kommen konnte, habe auch daran gelegen, dass nach zwölf Jahren Nationalsozialismus die Demokratie noch nicht vollständig verlernt war, meint Horst Dreier.
"Es ist ja so gewesen, dass man nach 1945 die Bundesrepublik langsam von unten nach oben wieder aufgebaut hat. Das politische Leben ist ja zuerst in den Gemeinden und Kreisen, also in den Kommunen, wieder aufgenommen worden. Dann auf der Länder-Ebene. Die Weimarer Republik lag ja auch nur zwölf, 13, 14 Jahre zurück, man musste ja nicht bei Null anfangen."
Auch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates erinnerten sich bei der Formulierung des Grundgesetzes an die Weimarer Reichsverfassung. Und sie konnten auf eine noch längere deutsche Verfassungsgeschichte blicken – die zurück reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als in der Märzrevolution von 1848 bürgerlich-liberale Kräfte ihren ersten Sieg über die Fürstenherrschaft errangen.

Paulskirchenverfassung – absolut modern

In der Frankfurter Paulskirche trat die Nationalversammlung zusammen, um einen Nationalstaat mit freiheitlicher Verfassung und allgemeinem Wahlrecht zu begründen. Bemerkenswert sei, meint Verfassungsjurist Horst Dreier, dass in der Paulskirchenverfassung bereits freiheitliche Grundrechte enthalten waren, wie wir sie im Grundgesetz wiederfinden.
"Und das zeigt zum einen, wie absolut modern die Paulskirchenverfassung gewesen ist. Das ist wirklich staunenswert. Das ist staunenswert. Und es gibt einige Grundrechte, die sind praktisch unverändert, also von ihrer Textgestalt her unverändert in der Paulskirchenverfassung niedergelegt worden und haben sich dann über Weimarer Reichsverfassung bis hin zum Grundgesetz gehalten. Also etwa Freiheit der Person ist so ein Beispiel. Oder ein zweites, vielleicht wichtigeres, die Norm zur Religionsfreiheit."


In der Paulskirchenverfassung gab es bereits den Dreiklang aus Glaubens-und Gewissensfreiheit, ungestörter Religionsausübung und Vereinigungsfreiheit. Es gab keine Abstufung mehr, dass bestimmte Religionen zwar erlaubt waren, ihre Angehörigen sich aber nicht öffentlich bekennen oder keine Kirchen mit Turm und Glocken bauen durften. Grundrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit wurden garantiert. Das Wahlrecht galt nur für Männer. Und soziale Grundrechte gab es in der Verfassung nicht. Daran hatten die bürgerlichen Liberalen kein Interesse.
Die Paulskirchenverfassung wurde im März 1849 verabschiedet, aber sie verlor schnell an Bedeutung, weil die deutschen Fürsten die Macht zurückeroberten. Als Preußens König Friedrich Wilhelm IV. am 28. April 1849 die ihm angebotene Kaiserkrone ablehnte, war die Revolution 1848/49 gescheitert.
Die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. 1848. 
Die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. 1848. Farbdruck nach Aquarell von Albert Dierkes.© dpa/Picture alliance/akg

Eine Verfassung ohne Rückhalt in der Bevölkerung

Dreier: "Das waren einfach die wieder erstarkten restaurativen Kräfte, die sich durchgesetzt haben und gegen Preußen und gegen Österreich war damals nichts zu machen. Vielleicht war auch die Paulskirchenverfassung in vielem zu modern. Also sie ist schon von einer stupenden Modernität. Immer, wenn ich reingucke, staune ich, ehrlich gesagt."
Die Verfassung war von einer elitären gebildeten Gruppe erarbeitet worden, die dem monarchistischen Staat etwas abringen wollte. Rückhalt in der Bevölkerung, die damals in großen Teilen noch nicht lesen konnte, gab es nicht. So konnten die alten Gewalten, die Fürsten, wieder Oberhand gewinnen.


Das Thema Verfassung jedoch war nicht erledigt, auch in Preußen nicht. Als Reaktion auf die Ereignisse 1948/49 verpasste König Friedrich Wilhelm IV. seinem Land eine Verfassung nach seinem Geschmack. Die enthielt zwar Elemente der Paulskirchenverfassung, war von einer demokratischen Verfassung aber weit entfernt. Die Macht behielt der König.
Auch bei der Reichsgründung 1871 trat mit der Bismarckschen Reichsverfassung nur scheinbar eine demokratische Ordnung in Kraft. Grundrechte gab es nur rudimentär. Staatsoberhaupt war der Deutsche Kaiser, er ernannte den Reichskanzler. Der Reichstag wurde zwar vom Volk, von den Männern, gewählt, hatte aber nur geringe Befugnisse.
Eröffnung des Deutschen Reichstages am 25. Juni 1888. Kaiser Wilhelm II. bei der Thronrede. Hinter ihm die kaiserliche Familie mit Kaiserin Auguste Victoria und dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, vor den Stufen des Throns Reichskanzler Otto von Bismarck.
Eröffnung des Deutschen Reichstages am 25. Juni 1888. Kaiser Wilhelm II. bei der Thronrede. Hinter ihm die kaiserliche Familie mit Kaiserin Auguste Victoria und dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, vor den Stufen des Throns Reichskanzler Otto von Bismarck.© picture alliance/dpa/akg-images

Friedrich Ebert: "Freiheit für alle Volksgenossen"

Philipp Scheidemann: "Unerhörtes ist geschehen. Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!"
November 1918, der Erste Weltkrieg ist verloren, die zweite deutsche Revolution ist erfolgreich. Der Kaiser dankt ab. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft die Republik aus. Die Revolutionsregierung beschließt fundamentale demokratische Neuerungen – allgemeine, freie Wahlen mit Frauenwahlrecht – und lässt am 19. Januar 1919 die Nationalversammlung wählen. Wegen der unsicheren Lage in Berlin tritt sie in Weimar zusammen und hat den Auftrag, der Republik eine Verfassung zu geben. Friedrich Ebert war der Chef der Revolutionsregierung und wird nun der erste Reichspräsident. Der oberste Hüter der Verfassung.
Friedrich Ebert: "Das Wesen unserer Verfassung soll vor allem Freiheit sein. Freiheit für alle Volksgenossen. Aber jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, muss ihre Satzung haben. Diese haben Sie geschaffen. Gemeinsam wollen wir sie festhalten."
Michael Stolleis: "Eigentlich war sie die erste realisierte republikanisch-demokratische Verfassung. Das konnte nur gelingen durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, durch den Sturz der Monarchien, nicht nur der Hohenzollern, sondern auch aller anderen. Aber das Ganze ist einer der wichtigsten Wendepunkte der deutschen Geschichte, ohne Zweifel."


Der erste Verfassungsentwurf kam von dem Staatsrechtler Hugo Preuß, der ständiges Mitglied der Verfassungskommission war. Er legte den Grundstein für die demokratische Ordnung. Die Grundrechte galten für alle – für Männer und Frauen. Die Verfassung von Weimar war eine ausgeprägt demokratische Verfassung. Das bedeutete einen Quantensprung in der deutschen Geschichte – und ein Risiko. Horst Dreier:
"Es war ja von Anfang an das Problem, was nicht besonders überrascht, dass bei so einem abrupten und fundamentalen Systemwechsel nicht alle Bürger, nicht die gesamte Bevölkerung und auch nicht alle Parteien sofort hinter diesem System stehen."
Die provisorische Reichsregierung nach dem Sturz des Deutschen Kaiserreiches im Januar 1919 in Weimar. V.l.n.r.: Otto Landsberg, Reichsjustizminister, Philipp Scheidemann, Ministerpräsident, Gustav Noske, Reichswehrminister, Friedrich Ebert, Reichspräsident, Reichskanzler und Vorsitzender der SPD und Rudolf Wissel, Reichsarbeitsminister.
Die provisorische Reichsregierung nach dem Sturz des Deutschen Kaiserreiches im Januar 1919 in Weimar. V.l.n.r.: Otto Landsberg, Philipp Scheidemann, Gustav Noske, Friedrich Ebert und Rudolf Wissel.© picture alliance/dpa/KEYSTONE/STR

Wahldebakel, Weltwirtschaftskrise und schließlich das Ende

Die so genannte Weimarer Koalition, die SPD, das katholisch-konservative Zentrum und die liberale Deutsche Demokratische Partei – sie trugen das Verfassungswerk. Aber sie verloren sehr schnell die Mehrheit im Parlament.
Dreier: "Sie wurden schon bei der nächsten Wahl 1920 dann bitter enttäuscht mit starken Verlusten, so dass der Kreis derjenigen, die man als verfassungstragende Parteien oder Gruppen ansprechen kann, dass dieser Kreis nicht besonders groß und besonders stark war. Ich würde sagen, 1928 hatten die so das Gefühl, wir haben eine ziemlich solide und wahrscheinlich auch bald wachsende Mehrheit, aber dann kam, wie wir alle wissen, die Weltwirtschaftskrise, dann kam Brüning, dann kamen die Präsidialkabinette, dann kam Hitler, dann kam das Ende."
Reichskanzler Franz von Papen: "Wir wollen, meine Herren, eine machtvolle und überparteiliche Staatsgewalt schaffen, die nicht als Spielball von den politischen und gesellschaftlichen Kräften hin- und hergetrieben wird, sondern über ihnen unerschütterlich steht – unerschütterlich! – Beifall – Die Reform der Verfassung muss dafür sorgen, dass eine solche machtvolle und autoritäre Regierung in die richtige Verbindung mit dem Volke gebracht wird."
Reichskanzler Franz von Papen im Oktober 1932. Vier Monate später hieß der Reichskanzler Adolf Hitler – und der nahm keine Rücksicht mehr auf die Weimarer Verfassung. Alle Gewalt ging nunmehr vom Führer aus, nicht mehr vom Volk.

Die Lehren aus der Weimarer Verfassung

1948/49, als der Hitler-Staat beseitigt war und in Bonn der Parlamentarische Rat eine neue demokratische Verfassung ausarbeitete, stellt sich die Frage, warum die Weimarer Verfassung so einfach abgeschafft werden konnte.

Dreier: "Man hat gesagt, die Weimarer Verfassung hatte Konstruktionsmängel, aus denen hat man gelernt, und das Grundgesetz hat es dann so viel besser gemacht. Und das ist in der Tat mit Blick auf die Reichspräsidentschaft insbesondere von Hindenburg 'ne relativ klare Sache, 'ne klare Entscheidung."

Der Reichspräsident hatte gefährlich viele Kompetenzen, mit den Notverordnungen, mit dem Recht, das Parlament aufzulösen und mit dem Recht der Ernennung des Reichskanzlers: Hindenburg – Hitler 1933. Dass der Bundespräsident im Grundgesetz nur noch geringe politische Gestaltungsrechte hat und sonst eher repräsentative Aufgaben erfüllt, gehört zu den Lehren aus Weimar. Der Rechtshistoriker Michael Stolleis:
Stolleis: "Man hat die Grundrechte und die Menschenwürde ganz an die Spitze gesetzt im Vergleich, anders als bei der Weimarer Verfassung. Da waren sie ja im zweiten Hauptteil. Dann hat man starke Schutzelemente eingebaut, um die Verfassung im Falle der Bedrohung zu retten. Es ist eine ganze Serie von Artikeln, insgesamt nannte man das wehrhafte Demokratie."
In Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es, dass die Grundrechte unmittelbare Geltung haben sollen. Sie sollten eben nicht bloße Deklarationen bleiben, sondern unmittelbare Rechtswirkung entfalten. Zur wehrhaften Demokratie gehörte auch, die Rolle der Parteien ins Grundgesetz aufzunehmen. Damit sie die Demokratie nicht gefährden können, sollte es unter strengen Voraussetzungen möglich sein, sie zu verbieten.
Stolleis: "Insofern ist das kein umgebautes Gehäuse der Weimarer Verfassung, sondern es ist ein veritabler Neubau, aber mit großen Elementen der Weimarer Verfassung. Ohne die Weimarer Verfassung wäre das Grundgesetz so gar nicht denkbar gewesen."
Am 1. September 1948 um 13 Uhr fand die Eröffnung der Tagung des Parlamentarischen Rates in Bonn statt.
Am 1. September 1948 kam zum ersten Mal der Parlamentarische Rat in Bonn zusammen. © picture alliance/dpa

Gescheitert am politischen Personal

Sehr lange Zeit habe man die Weimarer Republik und ihre Verfassung von ihrem Ende her beurteilt, meint Horst Dreier.
Dreier: "Also man hat das Scheitern gesehen und ist dann in den Fehler verfallen, dass man die gesamte Beurteilung im Wissen um die weitere Entwicklung rückprojiziert. Also das ist sozusagen die besserwisserische ex-post-Perspektive, wenn ich weiß, wie es gelaufen ist, kann ich ja auch immer sagen, ja es konnte ja nicht anders kommen. Es konnte natürlich ganz anders kommen."
Als Beispiel nennt Horst Dreier die Notverordnungen und das Notverordnungsrecht in Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung, mit dessen Hilfe Hindenburg das Ende der Republik beschleunigt hatte.

Hindenburg war nicht der erste, der davon extensiv Gebrauch gemacht hat. Das hat Friedrich Ebert in den frühen Krisenjahren der Republik auch gemacht. Er hat Dutzende und Aberdutzende von Notverordnungen erlassen. Aber er hat es immer getan, um die gewaltigen Krisen zu bewältigen und die Republik letztlich zu stabilisieren. Was ihm ja auch gelungen ist. Er hat es immer getan in einem, wenn man so will, konstruktiven Sinne.


Hindenburg hat es in einem destruktiven Sinn verwandt und das heißt, die besten oder schlechtesten Instrumente können gewissermaßen so oder so gehandhabt werden. Es kommt eben auch auf die jeweilige Führung, auf die Person und auf die Intention an, mit der man diese Instrumente nutzt.
Dass die Weimarer Republik nicht an ihrer Verfassung gescheitert ist, sieht auch Pascale Cancik so. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Geschichte des öffentlichen Rechts und Verwaltungswissenschaften an der Universität Osnabrück. Pascale Cancik spricht in diesem Zusammenhang von den "Schwierigkeiten der Verfassungsbewirkung in feindlicher Umgebung".
"Die Weimarer Republik war bekanntlich stark geprägt von verfassungsfeindlichen Kräften, gerade auch bei den Eliten, also beim Gesetzgeber, bei den Gerichten, den Verwaltungen. Das sind solche Kräfte, die von Beginn an gegen die Republik waren und auch dagegen kämpften, oder solche, die sich gleichgültig-zurückhaltend verhielten oder sich später republikfeindlichen Parteien zuwandten."
Und in einer solchen Umgebung, die außerdem ja auch noch von massiven wirtschaftlichen Notlagen geprägt war, ist die Verwirklichung von Verfassung natürlich schwierig.
Adolf Hitler und Paul von Hindenburg am 21. März 1933 in Potsdam.
Reichskanzler Adolf Hitler und Staatspräsident Paul von Hindenburg am 21. März 1933 in Potsdam.© picture alliance/arkivi

Der Kampf um Frauenrechte

Die deutsche Gesellschaft war bis 1918 geprägt vom autoritären Bismarckstaat. Den Sprung in die Demokratie machten viele nicht mit. Dabei war in heute zentralen Fragen der Fortschritt in der Weimarer Verfassung noch begrenzt, insbesondere beim Thema Gleichberechtigung. Neu war, dass Frauen in einer Verfassung überhaupt eine Rolle spielten. In der Paulskirchenverfassung von 1849 waren Frauen schlicht noch nicht vorgekommen. Monika Wienfort, außerplanmäßige Professorin für Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität:
"Die politischen Gruppierungen und Frühparteien, die sich bilden, hatten allesamt eins gemeinsam: Dass es ihnen nicht um die politischen Rechte von Frauen ging. Gleichwohl gibt es auch in der Revolution von 1848 einige Frauen, die sich engagieren: Luise Otto Peters ist die berühmteste, die auch eine Zeitschrift für Frauen begründet, so dass man heute sagen kann: So, wie 1848 der Beginn des politischen Parteiensystems gewesen ist, ist 1848 auch der Beginn der ersten bürgerlichen Frauenbewegung, weil sich dort eben einige Frauen finden, die politische Rechte fordern."
Aber es ist nur eine Minderheit. Und in der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche saßen ausschließlich Männer.
Wienfort: "Ausschließlich gebildete Männer. Man spricht immer davon, 1848 sei die Paulskirche ein Professorenparlament gewesen; genauer genommen ist es eher ein Juristenparlament gewesen."


Die Männer gehörten überwiegend liberalen Gruppierungen an. In der Nationalversammlung in Weimar war das Parteienspektrum zwar vielfältiger, es gab Sozialdemokraten, Unabhängige Sozialdemokraten, Konservative, Liberale, Kommunisten und Nationale. Aber auch hier war es überaus schwierig, das Thema Gleichberechtigung in die Verfassung zu bringen. Die vergleichsweise revolutionäre Formulierung, die Ehe beruhe auf der Gleichberechtigung der Geschlechter, wurde durch eine Art Trick in den Text aufgenommen. Die Verfassungsrechtlerin Pascale Cancik:
"Diese Formulierung wurde erst in der letzten Lesung der Verfassung in der Nationalversammlung überhaupt eingebracht, vielleicht kann man sogar sagen: fast ein wenig eingeschmuggelt. Sie wird dann heftig debattiert, aber eben doch angenommen. Das bedeutet zugleich auch, dass diese Normen nicht einen breiten Verfassungskonsens formulieren, sondern doch eher als kleine, stille Verfassungsrevolutionen charakterisiert werden können."
Zahlreiche Frauen demonstrieren für das Frauenwahlrecht am 12. Mai 1912 in Berlin. 
Demonstration für das Frauenwahlrecht am 12. Mai 1912 in Berlin.© picture alliance/akg-images

Frauen wurden weiterhin diskriminiert

Der Verfassungstext bewirkte jedoch nichts in der Verfassungswirklichkeit. Die Eheregelung im Bürgerlichen Gesetzbuch war für die Frau diskriminierend. Allein der Mann konnte rechtlich wirksame Entscheidungen treffen, also etwa über das Vermögen verfügen. Jegliche Erwerbsarbeit der Frau musste er genehmigen. Die wenigen Lehrerinnen verloren mit der Heirat regelmäßig ihre Beamtenstellung – das so genannte Lehrerinnenzölibat. Und dabei blieb es.
Cancik: "Weil auch Anhänger der parlamentarischen Republik, also verfassungstreue Akteure, den Forderungen nach Gleichberechtigung doch sehr skeptisch gegenüberstanden."
Auch 1949 war der Gleichberechtigungsartikel im Parlamentarischen Rat nur sehr schwer durchzusetzen. Dass es schließlich nach langem, zähen Kampf gelang, war der Juristin Elisabeth Selbert zu verdanken.
"Meine verehrten Hörerinnen und Hörer, der gestrige Tag, an dem die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist, dieser Tag war ein geschichtlicher Tag."
Elisabeth Selbert im Januar 1949, eine von vier Frauen im Parlamentarischen Rat neben 61 Männern. Sie war quer durch Westdeutschland gezogen, um Unterschriften zu sammeln. Waschkörbeweise kamen Protestschreiben von Frauen in Bonn an. Mithilfe der unglaublichen außerparlamentarischen Unterstützung gewann die engagierte Sozialdemokratin den Kampf um die Gleichberechtigung.
Cancik: "Wenn man die lange Geschichte in den Blick nimmt, dann sieht man, dass es ein harter und langer Kampf war. Man sieht die vielen Versuche, die Rückschläge, die Verhinderungen, die Ignoranz, und man sieht einen Kampf, der ja auch nach der Weimarer Reichsverfassung noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern bis weit in die Bundesrepublik reicht."

Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes

Konrad Adenauer: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, vom Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren, und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk dieses Grundgesetz beschlossen."

Konrad Adenauer am 23. Mai 1949. Zwischen der Paulskirchenverfassung, die nie in Kraft trat, der Weimarer Reichsverfassung, die mit der Republik nach 14 Jahren unterging und dem Grundgesetz, das seit 70 Jahren in Kraft ist, gibt es erstaunliche Kontinuitäten.
Stolleis: "Die Paulskirchenverfassung ist ja gescheitert. Aber man kann doch sagen, dass die Paulskirchenverfassung nicht vergessen wurde."
Erläutert der Rechtshistoriker Michael Stolleis.
"Und es ist erwiesen, dass einige der Hauptakteure in der Nationalversammlung von 1919 die Paulskirchenverfassung herangezogen haben, und der Grundrechtsteil ist ganz deutlich strukturiert nach deren Grundrechtsteil. Insofern gehört sie geistesgeschichtlich eindeutig zum deutschen Erbe und ist mit verwertet worden sowohl in Weimar als auch im Parlamentarischen Rat dann für das Grundgesetz."


In allen drei Verfassungen sind die politischen Grundrechte festgeschrieben: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Auch die Freiheit der Wissenschaft und Kunst, die Religionsfreiheit und die Eigentumsgarantie erhielten ihren Platz.
Stolleis: "Natürlich sind die organisatorischen Probleme im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie völlig andere als später in der Bismarck-Verfassung oder dann in Weimar und im Grundgesetz. Insofern ähneln sich Weimarer Verfassung und Grundgesetz stärker. Aber dahinter leuchtet immer die Paulskirchenverfassung als erster Versuch."
Interessant sind die Unterschiede bei den sozialen Grundrechten: In der Paulskirchenverfassung kommen sie gar nicht vor. Im Grundgesetz heißt es lediglich in Artikel 20: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Nur in der Weimarer Reichsverfassung sind die sozialen Grundrechte ausführlich ausgestaltet. Michael Stolleis:
"Im Kompetenzteil der Weimarer Verfassung stehen schon die bekannten Dinge, also Sozialversicherung, Fürsorge, Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern und dann im Grundrechtsteil noch mal Trompetentöne sozusagen, was neu zu tun ist an Fürsorge für werdende Mütter, für Kinder, für Arbeiter, für Wohnungsbau und alles das."
Obwohl die Weimarer Verfassung sozialen Grundrechten mehr Raum gibt, waren die sozialen Verhältnisse in der Weimarer Republik schwieriger als in der Bonner Republik. Das lag zunächst an Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges – mit der Hyperinflation und Reparationsforderungen. Als sich die Situation zu stabilisieren schien, kam die Weltwirtschaftskrise. Die Startbedingungen für die Bundesrepublik waren ungleich besser, denn sie hatte die Unterstützung der drei West-Alliierten.
Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz.
Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz.© picture alliance/AP Images

DDR verschwand, das Grundgesetz blieb

Verfassung und Verfassungswirklichkeit müssen nicht unbedingt zueinander passen. So lag es nicht nur am Grundgesetz, dass es sich vom Provisorium, als das es 1949 eingerichtet wurde, zur soliden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland entwickelte – und bei der Wiedervereinigung 1990 nicht mehr grundsätzlich zur Disposition stand. Das Grundgesetz blieb in Kraft, als sich die DDR auflöste und gilt seit dem 3. Oktober 1990 für ganz Deutschland.
Dreier: "Das interessante an diesem Vereinigungsprozess ist ja, das es eigentlich gar kein Beitritt gewesen ist, es wird ja immer gesagt, ist durch Beitritt zustande gekommen, die Einheit, aber tatsächlich ist sie ja durch den Einigungsvertrag zustande gekommen und das ist ja doch ein großer Unterschied. Das war damals wirklich 'ne bewunderungswürdige Leistung, diesen Einigungsvertrag zu schmieden."
Die Vereinigung sei also durch einen Völkerrechtlichen Vertrag zustande gekommen. Vielleicht hätte politisch und symbolisch einiges dafür gesprochen, sich eine neue Verfassung zu geben. Aber rein praktische Gründe hätten das verhindert, meint Horst Dreier.
"Das Zeitfenster war nur kurze Zeit offen. Es wäre leichtfertig gewesen, damals einen langfristigen Verfassunggebungsprozess mit Wahl einer Nationalversammlung oder so herbeizuführen. Möglicherweise wäre das Fenster schneller zu gewesen, als man gedacht hätte. Und da wäre es nicht tunlich gewesen, eine ausufernde Verfassungsdiskussion oder gar die Wahl einer Nationalversammlung vorzusehen."

Eine stabile Verfassung, die verteidigt werden muss

Das Grundgesetz wurde bis heute 62 Mal verändert. Die großen Änderungen betrafen die Wiederbewaffnung, die Notstandsverfassung, die Wiedervereinigung und die Föderalismusreform. Es hat sich zu einer stabilen Verfassung entwickelt. Aber wie stabil sie bleibt, hängt auch heute von der Verfassungswirklichkeit und vom Umgang mit der Verfassung ab. Die Verfassungsrechtlerin Pascale Cancik sieht die Gefahr in einer schleichenden Erosion von Verfassungsbewusstsein und Rechtsstaatsüberzeugung.
"Eine Erosion, die auch damit zu tun hat, dass die Verfassten ihrer Verfassung gegenüber gleichgültig sind oder historisch ignorant sind, dass mit Ressentiments gegenüber Parlamentarismus gespielt wird, auch von Politikerseite zum Teil leichtfertig gespielt wird. Und das ist immer ein Problem für Verfassungen und für ihre Verwirklichung in der Praxis."

Autorin und Sprecherin: Annette Wilmes
Regie: Roman Neumann
Ton: Andreas Krause
Redaktion: Winfried Sträter

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