Berit Glanz und Francis Seeck

Klassismus im digitalen Zeitalter

56:15 Minuten
Ein junger Mann mit Baseballkappe liegt auf einem Bürgersteig auf dem Boden und bedient seinen Computer.
Digital Nomads: Armut ist nicht mehr nur ein Phänomen am Rande der Gesellschaft (Symbolbild). © Imago / Panther Media / Sergiy Tryapitsyn
Moderation: Jörg Plath · 04.07.2023
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Wie von der Armut erzählen, ohne sie denunzieren? Wie gegen prekäre Verhältnisse im Digitalen und im Analogen kämpfen? Wie dem „Alles-wird-immer-Schlechter“ entkommen? Ein Gespräch über einen Roman, eine Streitschrift, Solidarität und Klassismus. (Erstsendung 24.6.2022)
Das Loblied auf die Ich-AG ist verklungen, der Lack ist ab und die Existenz immer noch prekär. Ob selbstständig oder angestellt – immer mehr Menschen in der Bundesrepublik können von ihrer Hände oder Kopf Arbeit nicht leben. Die Lage vieler hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Die Armutsfrage ist zurück auf der politischen Agenda.

"Zeige deine Klasse"

Auf der literarischen auch. Die Zahl der belletristischen Titel über das Leben in und mit der Armut ist in den letzten Jahren stetig gewachsen.

Christian Baron, Ein Mann seiner Klasse
Daniela Dröscher, Zeige deine Klasse
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims
Annie Ernaux, Die Jahre
Édouard Louis, Das Ende von Eddy
Deniz Ohde, Streulicht
Anna Mayr, Die Elenden

Der bislang neueste Roman zum Thema und eine Streitschrift zum Klassismus waren Thema in der Reihe „Literatur und Wissenschaft“, die Deutschlandfunk Kultur gemeinsam mit dem Literaturhaus Berlin veranstaltet: Berit Glanz‘ „Automaton“ und Francis Seeck „Zugang verwehrt“.

Diese Sendung lief zuerst in einer gekürzten Fassung am 24. Juni 2022.

Berit Glanz erzählt in „Automaton“ von einer Clickworkerin, die in mühsamer und schlecht bezahlter Heimarbeit Bilder und Videos mustert. Bei der Sichtung von Überwachungsvideos kommt sie mit anderen Clickworkern auf die Spur eines Verbrechens irgendwo in der Welt und beginnt zu ermitteln ...

Individualisierung oder Mobilisierung?

Ein Roman, der Mut macht, findet Francis Seeck. Seeck hat die Streitschrift „Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“ verfasst. Klassismus ist für Seeck der Begriff der Stunde: Der Begriff klingt nicht zufällig wie Rassismus oder Sexismus. Er ist ähnlich gebildet und bedeutet die Diskriminierung entlang der Klassenherkunft oder –zugehörigkeit. Menschen werden diskriminiert, weil sie arm, erwerbslos oder wohnungslos sind, prekär arbeiten oder Transferleistungen erhalten.
Seeck und Glanz sehen im Klassismus keine Individualisierung der Diskriminierung, deren Grund der Kapitalismus sei – aber eine wichtige Ergänzung. „Ich rede tatsächlich ganz gern über Klasse und Klassenkampf“, bekennt Glanz lächelnd. Der Begriff Klassismus, findet Seeck, könne junge Menschen, die selbstverständlich mit Sexismus und Rassismus argumentierten, für die soziale Frage gewinnen.

Dystopische Sackgasse

Ein Gespräch über die Frage, wie von Armut aktivierend, nicht passivierend erzählt werden kann. Warum die Dystopie besonders für Technik und Digitales gängig ist, aber nicht weiter führt. Und unter welchen Umständen es Solidarität und Kollaboration auch im digitalen Raum gibt, ja geben muss. Denn es soll in Zukunft ja gerechter zugehen.
(pla)

Berit Glanz: „Automaton“. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2022. 288 Seiten, 22 Euro

Francis Seeck: „Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“. Atrium, Zürich 2022. 128 Seiten, 9 Euro

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