Seelische Gewalt

Wenn die Kita kein Hort der Geborgenheit ist

28:58 Minuten
Ein weißer Teddybär sitzt ein einem weißen Kinderbett.
Eigentlich sollen sich Kinder in der Kita geborgen fühlen: Aber nicht alle dort Beschäftigten haben ein ausreichendes Bewusstsein für die Grenzen und Rechte von Kindern. © Getty Images / Rebecca Smith
Von Marius Elfering · 22.05.2022
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Die Kita oder der Kindergarten ist der erste Ort im Leben eines Kindes, an dem es ohne Schutz der Eltern über eine längere Zeit alleine bleibt. Es soll sich dort sicher und behütet fühlen. Meistens ist das auch so. Was aber tun, wenn es nicht so ist?
Als Stephanie Gruß und ihr Mann 2019 einen Kitaplatz für ihren Sohn Henry suchen, kommen sie in eine sympathische, kleine Einrichtung direkt am Wald. Nur 20 Kinder werden dort betreut. Sie freuen sich anfangs, aber nach einer Woche, die der Junge allein in der Kita bleibt, will er nicht mehr hin.
Stephanie Gruß sitzt mit einer Tasse an einem Tisch.
Die Freude von Stephanie Gruß über den Kitaplatz für ihren Sohn währte nicht lange.© Deutschlandradio / Marius Elfering
Er ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt und wehrt sich auf seine Weise. Er weint und sträubt sich. Im Alltag zeigt er immer mehr Auffälligkeiten.

Nur zwei Erzieherinnen arbeiten in der Kita

Marcel Nürnbergers Sohn geht in dieselbe Kita. Lange habe er nichts Böses geahnt, erinnert er sich. Aber dann habe er bei einer Begegnung zum ersten Mal gemerkt, dass der Junge Angst hatte vor seiner Erzieherin.
Was Marcel Nürnberger und auch Stephanie Gruß damals noch nicht wissen: Unterschiedliche Familien machen zu diesem Zeitpunkt Beobachtungen, die sie besorgen. Ihre Kinder wollen nicht in die Kita gehen, nässen sich plötzlich wieder ein, wollen sich nicht wickeln lassen.
Im Herbst 2020 machen Gerüchte die Runde, die Kinder würden in der Kita eingeschüchtert, sogar eingesperrt. Letzteres erweist sich später als falsch.

Mehrere Eltern erstatten Strafanzeige

Aber dass etwas nicht stimmt in der kleinen Einrichtung, in der nur zwei Erzieherinnen arbeiten, merken die Eltern und bringen ihre Kinder nicht mehr hin.
Mehrere Eltern erstatten Strafanzeige. Die Kita wird geschlossen und ist es bis heute. Die Leiterin wird wegen Freiheitsberaubung und Nötigung angeklagt und verurteilt. Sie soll den Kindern mit der Polizei gedroht haben, falls sie weinen, sie zum Toilettengang gezwungen haben und generell mit Angst regiert haben.
Die Details der Vorwürfe sind umstritten, aber angesichts der Tatsache, dass die Erzieherin bereits 16 Jahre zuvor beim Jugendamt wegen mangelnder Fürsorge gemeldet wurde, stellt sich die Frage, inwieweit die Kontrollfunktion des Staates in diesem Fall versagt hat.

Wo beginnt seelische Gewalt?

Jörg Maywald ist Experte in Sachen Kinderrechte und Kinderschutz. Bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft. Er gibt Schulungen zum Thema „Die Kita als sicherer Ort für Kinder – Schritt für Schritt auf dem Weg zu einem Schutzkonzept“. Vieles ist in Ordnung in deutschen Kitas, aber bei Weitem nicht alles, findet er.

Insbesondere seelische Gewalt ist sehr häufig. Es gibt einen gehörigen Anteil von Fachkräften, denen das Bewusstsein für die Grenzen und die Rechte von Kindern fehlt. Nur ein Beispiel: Wir haben herausgefunden, dass in fast 25 Prozent der Mittagsessen-Situationen nicht jedes Kind entscheiden kann, ob es etwas kosten möchte oder nicht.

Jörg Maywald posiert für ein Porträtfoto
© Deutschlandradio / Marius Elfering

Jörg Maywald

Du kriegst keinen Nachtisch, wenn du nicht vom Gemüse oder was auch immer wenigstens ein bisschen gekostet hast, könne es dann zum Beispiel heißen, sagt er. In Familien eine alltägliche Situation, in der professionellen Arbeit – so Jörg Maywald – der Beginn von grenzüberschreitendem Verhalten durch Erzieherinnen und Erzieher.
Als typisches Fehlverhalten führt Jörg Maywald die Beschämung oder Entwürdigung des Kindes an. „Wir haben seit 22 Jahren ein Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung. So steht es im Paragrafen 1631, Absatz 2 BGB“, erklärt er.
„Der zweite Satz lautet, den muss jede Fachkraft selbstverständlich kennen, es heißt dort, dass nicht nur körperliche Bestrafung, sondern auch seelische Verletzungen und andere entwürdigende Behandlungen unzulässig sind.“

Anzeichen ernst nehmen

Eltern sollten es ernst nehmen, wenn ihre Kinder sich plötzlich zurückziehen, stiller werden. Aber auch im umgekehrten Fall, wenn die Kinder im Alltag plötzlich sehr impulsiv reagieren. Bauchweh, Kopfschmerzen, die nicht erklärbar sind, all das können Zeichen sein, dass etwas nicht stimmt, so Maywald.
Ob in einer Kita gute oder schlechte Arbeit geleistet wird, hängt auch von den persönlichen Lebenserfahrungen des Personals ab und davon, welche Fortbildungen angeboten werden, weiß Jörg Maywald.
„Tatsächlich gibt es auch besondere Risiken bei Eltern-Kind-Initiativen, also sehr kleinen Einrichtungen, weil dort das Risiko besonders groß ist, dass ein System entsteht, nach dem Motto: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, sagt er.
Im Falle der Kita, die inzwischen geschlossen ist, war dies nicht der Fall. Meike Rieboldt, die zweite Kollegin, hat sich an die Seite der Eltern gestellt und gegen ihre Vorgesetzte ausgesagt.

Durch ihre aggressive und extrem autoritäre Art hat sie den Kindern klargemacht: Hier ist kein Rauskommen. Sie hat auch einen Jungen mehrfach, wenn er versucht hat, aus einem kleinen Flur rauszukommen, zurückgedrängt und auf einen Stuhl gesetzt und gesagt: Da bleibst du jetzt sitzen. Und es gab für ihn kein Entkommen.

Meike Rieboldt possiert vor einem Bild für ein Foto.
© Deutschlandradio / Marius Elfering

Meike Rieboldt

Juristisch schwer greifbare Vorwürfe

Vor Gericht zeigen ihre Vorwürfe, die Chatverläufe und sogar das Foto eines Mädchens, das in der Garderobe isoliert auf dem Boden eingeschlafen ist, Wirkung. Die Beschuldigte legt ein sogenanntes „prozesstaktisches Geständnis“ ab, damit die Sache endlich ein Ende finde, sagt ihr Anwalt.
Die Eltern, die Klage erhoben haben, sind fassungslos darüber, dass das Gericht nur eine Geldstrafe, aber kein Berufsverbot verhängt. Dafür sind die Anschuldigungen juristisch zu wenig greifbar.

Das finde ich tatsächlich so superkrass, dass psychischer Missbrauch überhaupt gar keinen Stellenwert hat in einem Rechtssystem. Dass das so eine Grauzone ist, wo so viel Raum ist für Wenn und Aber. Das finde ich so erschreckend.

Marcel Nürnberger

„Ich möchte sie gar nicht im Gefängnis sehen“, sagt Stephanie Gruß, „Ich möchte nur, dass sie nicht mehr mit Kindern arbeitet.“

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