Kissinger-Biografien

Mal Zyniker, mal Idealist

Henry A. Kisinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater
Der ehemalige Nationale Sicherheitsberater der USA, Henry A. Kisinger © dpa / picture alliance / Ron Sachs
Von Sabina Matthay · 16.04.2016
Der Ex-US-Außenminister Henry Kissinger gilt gemeinhin als Realpolitiker und Mann des Ausgleichs. Zwei neue Biografien versuchen eine Neudeutung: Kissinger als Idealist - und als Zyniker.
Großer Staatsmann oder Zyniker der Macht? Vierzig Jahre, nachdem Henry Kissinger zuletzt ein Regierungsamt bekleidete, ist der einstige amerikanische Chefdiplomat umstritten wie eh und je. Sowohl Greg Grandin als auch Niall Ferguson versuchen, ihn neu zu deuten.
Als einen Idealisten, der es eher mit Prinzipien als mit Pragmatismus hielt, sieht ihn Ferguson im ersten Band einer autorisierten Biografie, die nach knapp 1000 Seiten 1968 endet, als Kissinger Nationaler Sicherheitsberater der Regierung Nixon wird.

Überlegungen zu einem begrenzten Atomkrieg

Der britische Historiker behandelt zunächst die Kindheit im bayrischen Fürth, die Übersiedlung aus Nazi-Deutschland und die Jugend in den USA. Dann schildert er Kissingers Einsatz als Soldat in Europa, die Studienjahre in Harvard, seine Zeit am Council on Foreign Relations, wo der junge Mann erstmals mit Überlegungen zu einem begrenzten Atomkrieg von sich reden machte, und die Mitarbeit im Team des republikanischen Politikers Nelson Rockefeller.
Cover: Niall Ferguson: "Kissinger"
Cover: Niall Ferguson: "Kissinger"© Propyläen Verlag
Danach folgen erste Einblicke in die hohe Politik und in die Regierung Kennedy. Schließlich werden Kissingers Überlegungen zum Vietnamkrieg und seinen Anteil an den verpatzten Friedensverhandlungen 1967/68 dargestellt. Und das Buch schließt mit der Entscheidung, für Richard Nixon zu arbeiten, einen Präsidenten, den er gerade noch für ungeeignet befunden hatte.
Niall Ferguson spricht von einem Bildungsroman: "In jedem Stadium seiner Lehrjahre lernte Kissinger etwas Neues über das Wesen der Außenpolitik." Doch seine Erkundung der ersten Lebenshälfte will auch den herkömmlichen Blick auf diesen Politiker revidieren.

Ein Wertkonservativer europäischer Art

Gemeinhin gilt Henry Kissinger als pragmatischer Realist. Der Biograf hält ihn dagegen für einen Wertkonservativen europäischer Art, der sich mehr an Kant als an Machiavelli orientierte. Seine Sicht auf den Umgang mit Nachkriegsdeutschland, die Eindämmung sowjetischer Ambitionen und die Formulierung amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik hatten neben einem praktischen demnach auch einen moralischen und idealistischen Kern.
Doch Niall Ferguson gelingt es nicht, den Eindruck zu zerstreuen, dass Ideale wie Freiheit und Selbstbestimmung für Henry Kissinger vor allem Variablen waren, die er im bipolaren Wettbewerb mit dem Kommunismus taktisch nutzte.

Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist, 1923 – 1968. Band 1
Aus dem Englischen von Michael Bayer und Werner Roller
Propyläen Verlag, Berlin 2016
1120 Seiten, 49,00 Euro

Greg Grandin konzentriert sich auf genau jenen Abschnitt von Kissingers Wirken, dem Ferguson den zweiten Band seiner Biografie widmen will. Er setzt sich in seinem langen Essay mit dessen Amtsführung als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister auseinander, was ihm zur Anklageschrift gerät: "Kissingers Schatten".
Er wirft ihm die Militarisierung der US-Außenpolitik vor, und stützt sich überwiegend auf Bekanntes, wenn er Kissingers Billigung des rücksichtslosen Vorgehens des pakistanischen Militärs im Bangladesh-Krieg 1971 anprangert, dessen Unterstützung für das Pinochet-Regime in Chile und den indonesischen Einmarsch in Ost-Timor 1975 geißelt.
Besonders ausführlich befasst er sich mit dem Luftkrieg in Kambodscha. Kissinger, so der amerikanische Historiker, habe einen illegalen Krieg führen lassen und den mörderischen Roten Khmer den Weg an die Macht geebnet.

Nachwirken Kissingers überschätzt

Wie Ferguson hinterfragt auch Grandin die herkömmliche Sicht, wonach Kissinger der realistischen Schule der internationalen Beziehungen zuzuordnen sei, also ein Staatsmann sei, der von nüchterner Kalkulation des nationalen Interesses und der Ausbalancierung des Gleichgewichts der Kräfte geleitet werde.
Cover - Greg Grandin: "Kissingers langer Schatten"
Cover - Greg Grandin: "Kissingers langer Schatten"© C.H. Beck Verlag
Allerdings versteht Grandin ihn als Existentialisten, als einen, der davon überzeugt sei, dass Staatsmänner sich in einer Welt ohne objektive Wahrheit durch spontanes, entschlossenes Handeln auszeichneten. Dessen "Philosophie der Tat" betrachte Realität als etwas, was von Menschen erschaffen werde, die sich nicht von Bürokratie, Opposition oder Prinzipien wie der Unverletzlichkeit nationaler Souveränität behindern ließ.
Grandin geht noch weiter: Kissingers Denken habe Muster begründet, derer amerikanische Politiker sich bis heute zur Begründung fragwürdiger Interventionen bedienten, bis hin zu Barack Obamas Drohnenkrieg in Südasien.
Da übertreibt er den nachwirkenden Einfluss wohl, denn schon lange vor Kissingers Zeit marschierten die USA in kleinen Ländern ein, etwa Haiti, Panama und die Dominikanische Republik. Das ist nicht die einzige Schwäche dieses Buchs.
Henry Kissinger war vermutlich viel stärker vom Realismus beeinflusst, als Grandin anerkennt, vor allem aber war er auch als Friedenstifter tätig. Davon zeugten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu China, seine Pendeldiplomatie im Nahen Osten, die Aushandlung von zwei großen Waffenkontrollvereinbarungen mit der UdSSR und sein Einsatz für die Entspannungspolitik.

Greg Grandin: Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittener Staatsmann und sein Erbe
Aus dem Amerikanischen von Claudia Kotte und Thorsten Schmidt
C.H.Beck Verlag, München 2016
296 Seiten, 24,95 Euro

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