Kinderpornografie

"Wir heute sind da sehr viel sensibler geworden"

Wolfgang Kaschuba im Gespäch mit Ute Welty · 22.02.2014
Tabus sind nicht von vorneherein da, sagt der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba. Sie entwickeln sich in einer Gesellschaft. Institutionen wie Kirchen oder Medien nähmen Stichworte auf und reagierten darauf. Die Initiative dazu komme aber von jedem einzelnen.
Ute Welty: Es war wohl nicht das letzte Mal, dass sich der Bundestagsinnenausschuss mit der Affäre Edathy befasst hat, denn auf der einen Seite steht der fragwürdige Austausch von Informationen, und auf der anderen Seite das Verhalten des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten, dass seinen Parteichef zu folgender Stellungnahme veranlasste:
Sigmar Gabriel: Sebastian Edathy hat eingeräumt, Bildmaterial bei einem kanadischen Unternehmen bezogen zu haben. Offenbar handelte es sich dabei um Bilder unbekleideter Jugendlicher. Unabhängig, ich wiederhole, unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz sind Präsidium und SPD-Parteivorstand entsetzt und fassungslos über diese Handlungen und über das Verhalten Sebastian Edathys. Sein Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag war daher mehr als gerechtfertigt. Sein Handeln ist unvereinbar mit der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag und passt nicht zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Welty: So weit Sigmar Gabriel. Seine Reaktion ist nachvollziehbar: Sexuelle oder auch erotische Beziehungen zu oder mit Minderjährigen sind in unserer Gesellschaft tabu. Aber wie entwickelt sich ein solches Tabu, wie kommt eine Gesellschaft zu einem solchen Konsens? Diesen Mechanismus möchte ich durchleuchten, zusammen mit Prof. Wolfgang Kaschuba vom Institut für europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin. Guten Morgen!
Wolfgang Kaschuba: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wonach unterscheidet sich, was eine Gesellschaft als Tabu definiert und was nicht?
Kaschuba: Zunächst einmal sind die Tabus natürlich Prozesse. Wir haben bestimmte Tabus in unserer Vergangenheit gehabt: Wir alle erinnern uns über das Nicht-sprechen-Sollen über den Nationalsozialismus, mit dem wir heute relativ offensiv umgehen. Und wir haben andere Bereiche, in denen wir neue Sensibilitäten entwickeln, und die Kinderpornografie gehört sicherlich dazu. Wir haben also eine Moralisierung der Gesellschaft, und diese Moralisierung der Gesellschaft, die den Einzelnen eben verantwortlich macht auch für die Natur, für die Zukunft, für die eigene Fitness, Leistungsfähigkeit, diese Gesellschaft erwartet dies dann natürlich in besonderer Weise eben auch von den Politikern. Und Edathy hat hier sicherlich eine der zentralen Debatten und Tabuzonen unserer Gegenwartsgesellschaft betreten und eben durchbrochen.
Welty: Welche Faktoren bestimmen den Prozess, den Sie gerade beschrieben haben?
Kaschuba: Also wir können davon ausgehen, dass alle Gesellschaften natürlich sozusagen moralische Grundsätze und Tabus haben und da richten. Allerdings sind wir natürlich in relativ komfortablen Lebensverhältnissen, die uns sehr viel mehr ermöglichen. Frühere Gesellschaften hätten kaum darüber diskutieren können, ob sozusagen vegetarische Ernährungsweise vielleicht sozusagen der moralisch-ethisch einzige richtige Lebensstil ist. Das können wir uns heute leisten, wir können darüber nachdenken. Vergangene Gesellschaften haben eben auch das Thema Kinder, Behandlung der Kinder, Sexualität kaum thematisiert. Wir heute sind da sehr viel sensibler geworden, weil eben auch die Gesellschaft bewusster geworden ist, welche Traumatisierungen, welche Folgen daraus für Kinder entstehen können. Also es ist immer eine Frage eben von Debatten, von Diskussionen, von neuen Sensibilitäten, und daraus dann eben den Konsensformen, die die Gesellschaft entwickelt, und das bekommt Edathy nun zu spüren.
Welty: Welche Kräfte machen Sie als die treibenden aus? Sind das Kirchen, sind das Parteien oder sind das ganz andere gesellschaftliche Gruppen?
Kaschuba: Es sind schon wir. Die Medien, die Kirchen, die Parteien nehmen da natürlich bestimmte Stichworte auf, aber es sind schon wir, also unsere Lebensstile, die wir sozusagen selbstverantwortlich ja betreiben wollen, und aus gesellschaftlichen Bewegungen und aus gesellschaftlichen Sensibilitäten ergeben sich dann solche Debatten. Also die Frage eben des Kinderschutzes ergibt sich eben aus den Alltagspraktiken, aus der Wahrnehmung von Gewalt in Alltagssituationen, aus Debatten etwa, die der Feminismus angestoßen hat, aus Debatten, die die Grünen angestoßen haben oder jetzt die Piraten, wenn sie dann Transparenz fordern. Das sind aber in aller Regel eben nicht Aktionen der politischen Bewegungen, eher Reaktionen. Also solche Phänomene entstehen innerhalb der Gesellschaft. Das lässt sich für die letzten 200 Jahre relativ schön nachzeichnen.
Welty: Sie haben eben den Feminismus angesprochen. Verhalten sich Männer und Frauen in diesem Prozess eigentlich unterschiedlich oder haben sie unterschiedliche, ja, wie soll ich sagen, eine unterschiedliche Wahrnehmung, bringen sie sich unterschiedlich mit ein?
Kaschuba: Ja. Also wir wissen schon, dass die Sensibilitäten natürlich auch dann geschlechtsspezifisch leicht unterschiedlich sind, weil wir natürlich auch etwas unterschiedliche Bilder haben. Frauen sind etwa zum Thema Kinderpornografie oder zum Thema gesunde Ernährung sozusagen leichter mobilisierbar als Männer. Aber das hängt auch sehr stark von den Generationen ab. Also wir bemerken eine Entwicklung, dass in den jüngeren Generationen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen relativ geringer werden, dass Männer und Frauen da sehr unterschiedlich reagieren auf solche Fragen. Wir müssen aber natürlich auch sagen: Es sind natürlich immer Formen einer, ja, wir würden neudeutsch das sagen, politischen Korrektheit, die da entstehen, die der Gesellschaft ihre Werte bewusster machen, die aber natürlich an manchen Punkten dann eben auch zu einer Art Besserwisserei, zu einem Fundamentalismus führen können. Also die Grünen wissen, wovon ich rede: Der Veggieday war eben in der Hinsicht sozusagen eine Ente.
Welty: Tabu und Moral sind das eine. Sie haben eben den Begriff „moralisieren“ gebraucht, der ja durchaus einen negativen Beigeschmack hat. Wo verläuft die Grenzziehung, vor allem, wenn man die sozialen Medien wie Facebook mit einbezieht?
Kaschuba: Das ist ganz schwierig. Das merken wir gerade, nachdem die Begeisterung jetzt für die sozialen Medien eben auch immer wieder einen Dämpfer erhält, wenn die sogenannten Shitstorms oder Belagerungen von Gruppen oder Personen eben stattfinden. Also moralisieren heißt zunächst mal eben in der Tat: Es werden bestimmte Überzeugungen, bestimmte Werte symbolisch überhöht. Das ist einerseits positiv, die Gesellschaft diskutiert über ihre Werte, sie streitet sich, es gibt auch mehr Information – also Kinderpornografie bedeutet heute ja auch, dass die Leute sehr viel mehr wissen auch über den Handel mit diesen Bildern als noch vor 20 Jahren. Aber auf der anderen Seite kann es eben da hingeraten, dass diese Moralisierung eben in gewisser Weise fundamentalistisch wird, dass sie also andere Stile, andere Argumente, Alternativen gar nicht mehr zulassen will. Wir haben das etwa in der Ernährungsfrage. Sie werden mit überzeugten Veganerinnen und Veganern kaum eine Übereinkunft erzielen können, dass ein Schnitzel die Woche doch erlaubt sein müsse.
Welty: Jetzt haben wir viel über die deutsche Situation gesprochen. Ist die in anderen europäischen Ländern vergleichbar oder entdecken Sie da auch unterschiedliche Strömungen, unterschiedliche Akzente?
Kaschuba: Also es gibt immer solche Mainstreams natürlich, die wir dann haben, von der Ökologie eben bis zum Kinderschutz. Da gibt es in vielen europäischen Ländern sehr ähnliche Tendenzen und Entwicklungen, Gedankenstrich – in manchen osteuropäischen Gesellschaften im Blick eben auf Frauenrechte oder Kinderrechte gewiss noch mit Nachholbedarf, aber das sind schon übergreifende Entwicklungen. Wenn wir allerdings in die Schwellenländer, in andere Länder schauen – dort sind solche Situationen, solche Debatten noch kaum denkbar, weil eben viele dieser Gesellschaften noch nicht in diesen relativ gesicherten Lebensverhältnissen existieren wie hier. Aber wir haben in Fragen eben der Kinderpornografie, glaube ich, fast universelle Übereinstimmungen. Wenn ich das recht sehe, werden diese Fragen in Europa ganz ähnlich diskutiert wie in den amerikanischen Staaten oder eben auch in Asien.
Welty: Moral und Tabu im Wandel der Zeit, dazu der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba vom Institut für europäische Ethnologie. Ich danke für dieses Gespräch in der „Ortszeit“!
Kaschuba: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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