Runter von der Couch
Kinder bewegen sich heute sehr viel weniger als früher, sagen Sportwissenschaftler. © picture alliance / Zoonar / fotoliza
Wie bringt man Kinder in Bewegung?
Studien zufolge sind Kinder und Jugendliche heute weniger sportlich als früher: Das mag auch daran liegen, dass Kinder Konsole statt Fangen spielen - und der Schulweg oft mit dem Auto zurückgelegt wird. Wie kommen Kinder in Bewegung?
Studien belegen, dass die Beweglichkeit von Kindern und Jugendlichen zumindest in Deutschland abgenommen hat. Das sagt beispielsweise Klaus Bös, der als Professor für Sportwissenschaften maßgeblich an der Entwicklung des Deutschen Motorik-Tests beteiligt war. Dieser wird an vielen Schulen genutzt, um die sportliche Leistungsfähigkeit von 6- bis 18-Jährigen zu messen und über die Jahre miteinander zu vergleichen. Mehr als 250.000 Kinder und Jugendliche haben den Test in den vergangenen Jahren absolviert.
Vor 40 Jahren sei ein Zehnjähriger beispielsweise 1.000 Meter ohne Probleme in sechs Minuten gelaufen. Heute würden Kinder in sechs Minuten nur noch 900 Meter schaffen. „Das heißt, dass wir etwa zehn Prozent an Leistungsfähigkeit bei den Kindern weniger haben“, sagt Bös.
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Am Sportangebot könne es nicht liegen, so der Sportwissenschaftler Klaus Bös. Denn das sei heute besser als vor 40 Jahren. Beispielsweise seien sehr viel mehr Kinder im Sportverein als früher. Aber der Alltag der Kinder habe sich gravierend verändert: Die Zeit, die Kinder mit unorganisiertem Sporttreiben verbringen – also beispielsweise beim Fangen- oder Verstecken-Spielen mit den Freunden – hat in den vergangenen Jahren abgenommen. Klaus Bös ist überzeugt, dass sich das auch in den Ergebnissen des Deutschen Motorik-Tests niederschlägt.
Der Sportwissenschaftler meint außerdem, dass Eltern heutzutage mehr Wert auf die intellektuelle Weiterentwicklung ihrer Kinder legen als auf die physische Verfassung: lieber ein intelligentes Kind als ein fittes Kind. Denn das ist auch in der heutigen Berufswelt gefragter: Waren früher für viele handwerkliche Berufe Kraft und Ausdauer wichtig, übernehmen diese Aufgaben heute überwiegend Maschinen, und um die zu bedienen, ist der Kopf wichtiger als der Körper.
Ähnlich sieht es die Sportpädagogin Yolanda Demetriou. Für sie ist die mangelnde Bewegung der Kinder hierzulande eine Folge unserer Wohlstandsgesellschaft: Von der Rolltreppe bis zum Rasenmäher seien unsere Strukturen zu sehr darauf ausgerichtet, uns alle Anstrengung abzunehmen.
Wann aber hat es angefangen, dass wir Menschen uns zu wenig bewegen? Schließlich sind wir von Natur aus dafür gemacht, und vor 100 Jahren bewegten wir uns sehr viel mehr. Einen großen Wandel gab es in den Städten mit Beginn der Industrialisierung und der Erfindung des Autos kurze Zeit später.
Rund 12.000 Schritte sollten Kinder und Jugendliche Sportwissenschaftlern zufolge jeden Tag zurücklegen. Der Fußweg zur Schule oder in die Kita ist hier ein wichtiger Baustein, der manchmal schon einen Großteil des Schritte-Pensums abdeckt. Doch der wird heute oft mit dem Auto zurückgelegt – auch, um die Kleinen vor den Gefahren des Straßenverkehrs zu schützen.
Der Mangel an Bewegung nimmt mit steigendem Alter der Kinder zu: Während Kita-Kinder die von der Weltgesundheitsorganisation vorgesehen Bewegungszeit von rund 90 Minuten am Tag noch am ehesten Erfüllen, nimmt das Bewegungspensum mit zunehmendem Alter ab: Den ersten großen Knick gibt es mit Beginn der Schulzeit. Im Jugendalter sinkt die tägliche Bewegungszeit noch weiter, außerdem gibt es hier große Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Mädchen bewegen sich noch weniger als Jungen. Und Eltern mit einem höheren Bildungsniveau achten stärker darauf, dass ihre Kinder sich bewegen, sei es im Alltag oder im Sportverein.
In 57 Ländern schauen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich regelmäßig Studien zu den insgesamt zehn Indikatoren rund um das Thema Bewegung von Kindern und Jugendlichen an und erheben damit ein Bewegungszeugnis für das jeweilige Land. Jeder einzelne Indikator wird mit einer Schulnote bewertet. Dadurch sollen die Ergebnisse in den einzelnen Ländern miteinander vergleichbar sein.
In Deutschland war neben vielen kleineren Einzelstudien die sogenannte KiGGS-Studie eine wichtige Datengrundlage für das Bewegungszeugnis. Dabei handelt es sich um eine Langzeitstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die das Robert Koch-Institut seit 2003 durchführt.
Für die deutschen Kinder und Jugendlichen fiel das Bewegungszeugnis, das 2022 zum zweiten Mal erhoben wurde, vergleichsweise schlecht auss. „Bei der allgemeinen körperlichen Aktivität haben wir eine Vier Minus. Was gut bei uns ausfällt, ist der organisierte Sport, also die Vereinsaktivität der Kinder. Da haben wir in Deutschland eine Zwei. Aber grundsätzlich sind die Noten durchaus verbesserungswürdig“, sagt Yolanda Demetriou, Professorin für Sport- und Gesundheitspädagogik an der Technischen Universität München und Studienleiterin des Deutschen Bewegungszeugnisses.
In der vergleichenden Studie der 57 Länder schneiden unter anderem nordische Länder wie Dänemark, Schweden und Finnland besonders gut ab. „Sie haben sehr viele Ansätze von bewegter Schule und sehr viel aktiven Transport zur Schule“, sagt die Sport- und Gesundheitspädagogin Yolanda Demetriou.
Dort spielt Bewegung eine viel größere Rolle: So ist beispielsweise jeder Zweite der rund zehn Millionen Schweden Mitglied in einem Sportverein. In Deutschland ist es nicht einmal jeder dritte Einwohner. Die Vereine gelten in Schweden als wichtige soziale Treffpunkte, insbesondere in den vielen abgelegenen Dörfern und Kleinstädten. Neben dem Sport erfüllen sie damit also eine weitere Funktion.
Dazu kommt, dass die Radwege in Skandinavien vielerorts sehr gut ausgebaut sind: Als Vorzeigestadt gilt Kopenhagen, wo die Fahrradwege an vielen Stellen vom Auto- und Fußgängerverkehr getrennt sind. Radfahrer sind dadurch oftmals sicherer unterwegs als in Deutschland.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt täglich 60 Minuten Bewegung für alle 5- bis 17-Jährigen, bei mittlerer bis hoher Intensität. Die gilt als erreicht, wenn die Kinder die Bewegung als anstrengend oder etwas anstrengend empfinden, beispielsweise beim Radfahren oder beim schnellen Gehen.
Etwa 70 Prozent der Kinder in Deutschland kommen heutzutage laut Weltgesundheitsorganisation jedoch nicht auf diese 60 Minuten Bewegung am Tag. Mit dem Eintritt in die Grundschule geht für viele das tägliche Bewegungspensum rapide nach unten.
„Bewegte Schule“ ist ein bundesweites Projekt, mit dem Lehrer dafür sorgen wollen, dass Kinder und Jugendliche an den Grundschulen und den weiterführenden Schulen sich nicht nur im Sportunterricht und in den Pausen bewegen, sondern ganz gezielt auch während des Mathe- oder Deutschunterrichts und in den kurzen Pausen dazwischen.
Den Begriff „Bewegte Schule“ hat der Schweizer Sportpädagoge Urs Illi geprägt, der schon Mitte der 1980er-Jahre Fachbeiträge dazu veröffentlichte. In Deutschland können Schulen sich heute als „Bewegte Schule“ von der jeweils zuständigen Schulbehörde zertifizieren lassen. Dafür müssen sie unter anderem ein bestimmtes Bewegungsangebot nachweisen.
Hinter dem Konzept stecken zwei wesentliche Gedanken: Zum einen ist es wissenschaftlich erwiesen, dass wir Menschen besser lernen können, wenn wir uns bewegen. Denn dabei werden die motorischen Zentren im Gehirn aktiviert. Die spielen eine große Rolle, wenn wir Informationen verarbeiten und speichern.
Darüber hinaus kommt es aber darauf an, Bewegung in den Alltag der Kinder zu integrieren: durch den Schulweg zu Fuß oder per Rad, beim gemeinsamen Spielen. Darüber hinaus müssen Eltern als Vorbilder fungieren, um ihren Nachwuchs an gesunde Ernährung, Sport und Bewegung heranzuführen.
Beweglichkeit tut nicht nur dem Körper gut, sondern stärkt bei Schülerinnen und Schülern auch die Konzentrationsfähigkeit. Das hat auch Harald Wolf festgestellt. Er ist Sportkoordinator an der Oberschule Ronzelenstraße in Bremen. In einem Urlaub in Österreich erfuhr er von den dortigen Ergometerklassen – und etablierte das Konzept an seiner Schule.
Heute stehen in den Räumen der Klassenstufen fünf bis sieben jeweils drei bis fünf Ergometer, die mit einem Tisch ausgestattet sind, so dass die Kinder beim moderaten Treten dem Unterricht folgen und sich Notizen machen können. Alle Viertelstunde wechseln die Kinder sich ab, sodass im Laufe eines Vormittags jeder einmal drankommt.
„Wir haben über die Jahre hinweg festgestellt, dass sich das Lernklima insgesamt so verbessert hat, dass wir auch bessere kognitive Leistungen in den Arbeiten nachher Richtung Abschlussprüfung dort erzielen konnten“, sagt Wolf.
Die Auswirkungen des Bewegungsangebots können die Bremer Lehrkräfte ganz konkret an den schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen festmachen: Laut Harald Wolf haben im Vergleich zu früheren „normalen“ Klassen überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler der Ergometerklassen zuletzt den Abschluss der zehnten Klasse oder den Übergang in die gymnasiale Oberstufe geschafft.
Quellen: Catalina Schröder, lkn