Kicken für Kost und Logis

Das Geschäft mit brasilianischen Nachwuchsfußballern

29:25 Minuten
ein Fußballteam hat sich zum Gruppenfoto aufgestellt
Bei dem kleinen hessischen Verein 1. FCA spielen nur Brasilianer. © Deutschlandradio / Tom Noga
Von Tom Noga  · 20.11.2022
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In Deutschlands Amateurligen träumen viele Brasilianer von einer Karriere als Fußballprofi in Europa. Sie wohnen in alten Bürogebäuden, bekommen kein Geld und sind trotzdem lieber hier als zu Hause. Zu Besuch bei einem Verein in der hessischen Provinz.
Der Sound ist blechern. Das liegt an den altersschwachen Boxen, die nur einen Teil der Sportanlage beschallen. Damit man auch am anderen Ende des Fußballplatzes etwas hört, dreht Andreas Bergemann, den alle nur Andi nennen, die Musik bis zum Anschlag auf. Um die Sprecherkabine, einen winzigen Holzverhau, und den Grillstand, an dem Andis Frau Aline Würstchen brutzelt, versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.
Zeit für die Mannschaftsaufstellung. Andi Bergemann entsperrt sein Handy. Papierform war gestern. Die Gastmannschaft ist der FSV Riedrode, das Heimteam der 1. FCA Darmstadt. Das A steht für einen Stadtteil, Arheilgen. Andreas Bergemann ist Präsident des 1. FCA, ein Bauingenieur, geboren und aufgewachsen in Arheiligen. Der Verein spielt in der Gruppenliga Darmstadt. Das ist ziemlich weit unten, 7. Liga.

Beim 1. FCA spielen ausschließlich Brasilianer

„Im Tor mit der Nummer 31 Ares, die Nummer 3 João, Deivison, die Nummer 5, unser Kapitän, Valentino.“ Die Namen klingen nicht gerade deutsch. Sind sie auch nicht: Der 1. FCA tritt ausschließlich mit Fußballern aus Brasilien an. Möglich ist das durch eine Besonderheit: Die Teams der 1. und 2. Bundesliga müssen mindestens zwölf deutsche Spieler im Kader haben. In den Ligen darunter gilt das nicht.
Auch der Trainer ist Brasilianer: Elton da Costa. Im Mai 2014 hat er Darmstadt 98 gegen Arminia Bielefeld in die 2. Bundesliga geschossen. Mit einem Tor in der Nachspielzeit der Verlängerung. Seitdem wird er in Darmstadt als Held verehrt. Neben ihm auf der Bank ein blonder junger Mann: Luca, Andi Bergemanns Sohn. Das Fachmagazin „Kicker“ hat ihm eine Reportage gewidmet, als jüngstem Fußballmanager Deutschlands. Das war vor zwei Jahren. Damals war Luca Bergemann 19.
Nach vier Minuten das 1:0. Elegant trickst Mittelfeldspieler Daví zwei Gegner aus und schickt den Ball steil zum Rechtsaußen Lucas Silva. Der hochgewachsene Schlacks passt flach in die Mitte und Mittelstürmer Mateos drückt den Ball über die Linie. Neun Minuten später das 2:0, wieder durch Mateos, vorbereitet vom Linksaußen. Der wird Lulinha genannt, kleiner Tintenfisch. Nach 25 Minuten das 3:0. Ein Fallrückzieher. Wieder von Mateos. Wieder vorbereitet von Lucas Silva.

Absturz in die 7. Liga

Halbzeit. Andi Bergemann spielt Musik ein, natürlich ohrenbetäubend laut. Dann stellt er sich mit den Zuschauern für Bier und Wurst an. Viele sind es nicht, vielleicht 20, alle aus Riedrode. Der 1. FCA hat keine Zuschauer. Das war einmal anders, erzählt Andi Bergemann. Vor zehn Jahren hat der Club in der Hessenliga gespielt, mit Ambitionen, in die Oberliga aufzusteigen, die höchste Spielklasse im Amateurfußball, und die Arheilger gingen sonntags wie selbstverständlich zu ihrem 1. FCA.

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Doch dann ist der Verein pleite gegangen und in die Kreisoberliga abgestürzt. „Diese Klasse, die wir jetzt spielen, da wird mit Sicherheit 400, 450 Euro bezahlt. Da würde man mit Sicherheit um die 120.000 bis 160.000 Euro benötigen, um einen konkurrenzfähigen Kader zu haben, der um die Meisterschaft mitspielen kann.“
Ein Mann und ein Frau sitzen, Arm in Arm, am Rand eines Fußballplatzes: Andi und Aline Bergemann
Wir wollen nur mit brasilianischen Spielern zusammenarbeiten", sagt der Präsident des 1. FCA Andi Bergemann. Seine Frau Aline hilft auch im Verein mit.© Deutschlandradio / Tom Noga
Für den Weg zurück, erzählt Andi Bergemann weiter, war ein neuer Ansatz gefragt. Seine Frau und seine beiden Söhne, Luca und Marcel, haben eine Agentur gegründet, die Bergemann's Soccer Agency. Die rekrutiert die Spieler und stellt sie dem Verein zur Verfügung. „Kein Spieler wird, finanziell entgolten", so Bergemann.
"Das heißt, wir sind ein reiner Amateurverein. Das geht nicht mit deutschen, türkischen, italienischen, also europäischen Spielern, weil: Ab einer gewissen Spielklasse, das weiß ja jeder in Deutschland, wird im Amateursport bezahlt. Wir lehnen das ab." Deswegen hätten sie ein anderes System entwickelt. "Wir wollen nur mit brasilianischen Spielern zusammenarbeiten und diesen Spielern eine Plattform bieten, damit sie sich für höhere Aufgaben weiterempfehlen können.“

Ein Sprungbrett für die Karriere

Der 1. FCA soll also das Sprungbrett für brasilianische Fußballer unterhalb des Top-Niveaus sein. Für Spieler, die nicht gut genug sind für die 1. oder 2. Bundesliga, aber vielleicht für die 3. Liga. Dafür spielen sie in Darmstadt für Kost und Logis. Jedenfalls die Fußballer der ersten Mannschaft. Für die zweite Mannschaft, auch sie besteht ausschließlich aus Brasilianern, gelten andere Regeln.

Die Spieler, der zweiten Mannschaft, die es sich finanziell leisten können, beziehungsweise die Eltern der Spieler, entrichten einen monatlichen Betrag, der mal zwischen 300 und 450, 500 Euro liegen kann, das ist auch unterschiedlich, für die zur Verfügung gestellten Sachleistungen der Agentur.

Andi Bergemann

Eine Art Quersubventionierung: Mit den Zahlungen aus der zweiten Mannschaft werden Unterkunft und Verpflegung aller Fußballer finanziert. Aber: Was haben die Spieler der zweiten Mannschaft davon?
„Lebenserfahrung. Dieses Erlebnis, Europa kennenzulernen, Deutschland kennenzulernen. Es ist ja so, dass auch deutsche Familien gerne mal einer Tochter oder einem Sohn ein Auslandssemester nach dem Abitur oder während der Schule in Amerika, Australien oder England, Frankreich, Italien gerne ermöglichen. Das sind Erfahrungen, die der junge Mensch dort sammelt. Für das gesamte restliche Leben können die ihn nur von Vorteil sein.“

Elf Punkte Rückstand auf Platz eins

Auch in der zweiten Halbzeit ist Darmstadt drückend überlegen. Ein Klassenunterschied. Dabei spielt hier der Zweite gegen den Fünften. Zwei Tore schießt der 1. FCA noch, bei einem Gegentor. 5:1 heißt es am Ende. Es hätte auch zweistellig werden können. Allein Lucas Silva hat drei Hochkaräter liegen lassen, einmal aus fünf Metern den schon geschlagenen Torwart angeschossen.
Nach dem Spiel in der Trainerkabine: Linoleumboden, Spind, Tisch und Stuhl aus Leichtmetall. Während des Spiels hat jeder Fußballer einen Transponder getragen, der die gelaufenen Kilometer, die Anzahl der Sprints und Ähnliches aufzeichnet. Das ist ungewöhnlich für die Gruppenliga. Manager Luca Bergemann liest die Daten in seinen Laptop ein.
„Gut gespielt, viel gelaufen alle zusammen, keine großen Unterschiede zwischen den Spielern. Es gibt natürlich den einen oder anderen, der ein bisschen mehr heraussticht, wie zum Beispiel Lulinha, der kommt auf 11,6 Kilometer. Das ist schon eine Summe.“
Trainer Elton da Costa wirf einen Blick auf die Daten. Auch er ist zufrieden mit dem Spiel, aber nicht mit der Tabelle. Der 1. FCA ist zwar Zweiter, aber acht Punkte hinter dem Ersten, dem VfR Fehlheim, und der hat noch ein Nachholspiel. Der Rückstand kann also auf elf Punkte anwachsen.
Ein Mann im schwarzen Trikot auf einem Fußballplatz
Er hat es als brasilianischer Fußballspieler in Europa geschafft: Elton da Costa. Mittlerweile ist er Trainer.© Deutschlandradio / Tom Noga
Bei nur noch neun Partien wird der 1. FCA vermutlich Zweiter bleiben. „Ich will immer noch erster sein", sagt der Trainer. "Wir müssen die Spiele gewinnen, die wir jetzt noch vor uns haben. Aber wir haben die Qualität, um alle zu gewinnen, auch gegen Fehlheim. Die spielen eine brutal gute Saison, konstant, weil die auch über mehrere Zeiten mit den gleichen Spielern spielen.“

Die Spieler kommen mit Touristenvisum

Der 1. FCA ist nicht so eingespielt. Die meisten Fußballer sind mit einem Touristenvisum in Deutschland. Das heißt: Sie dürfen drei Monate hier sein und müssen anschließend für drei Monate zurück nach Brasilien. Mancher bleibt dann zu Hause. Nach der Winterpause musste der 1. FCA neun Spieler ersetzen. Spielmacher Daví etwa ist neu in Deutschland und gerade mal einen Monat hier, Außenstürmer Lucas Silva erst vor zwei Wochen aus Brasilien zurückgekommen.

Wenn du zwei, drei Spieler integrieren musst und die Mannschaft schon die Saison davor zusammengespielt hat oder zwei Saisons, dann ist das natürlich einfacher, als wenn du über 20 neue Spieler hast mit verschiedenen Charakteren, auch wenn sie wirklich gute Qualität haben, alle zu integrieren, damit es auf Anhieb klappt. Das ist schwer.

Lucas Silva

Lucas Silva kocht. Im Haus der Bergemanns am Rande von Arheilgen. Die meisten Spieler leben zusammen. Anfangs im Dachgeschoss des Vereinsheims, jetzt in einem ehemaligen Bürogebäude. Lucas wohnt hier: bei den Bergemanns.
Die Stimmung ist gedrückt. Gestern hat er der Familie mitgeteilt, dass er nach dieser Saison aufhören wird beim 1. FCA.
„Ich habe immer davon geträumt, irgendwo in der 1. Liga zu spielen oder in der 2., aber jetzt werde ich zurückgehen. Ich will meine Freundin heiraten, Kinder haben, ein Haus. Ganz normal eben. Als ich in Brasilien war, habe ich mich mit meiner Familie beraten und mit meiner Freundin. Es gibt Momente im Leben, da muss man eine Entscheidung treffen und Dinge hinter sich lassen.“

Nie richtig angekommen

Lucas Silva ist 24 Jahre alt und ein Veteran bei 1. FCA. Seit viereinhalb Jahren spielt er für den Verein und tritt wie die meisten seiner Teamkollegen auf der Stelle, kickt noch immer in der 7. Liga nur gegen Kost und Logis. Zu mehr hat es nicht gereicht.
Eigentlich ist Lucas nie richtig angekommen in Darmstadt. Er spricht bis heute kein Wort Deutsch.
„Ich wollte hier den nächsten Schritt machen. Ich dachte, ich helfe ihnen und sie helfen mir. Dass es kein Geld gibt, ist okay. In Brasilien spielen viele Fußballer umsonst und hoffen weiterzukommen. Aber ich hatte nie einen Berater und mich hat auch nie ein anderer Verein angerufen.“
Offenbar hakt dann doch etwas auf der Plattform der Familie Bergemann, die junge Brasilianer nach Deutschland lockt, damit diese sich für höhere Aufgaben weiterempfehlen können. Auch andere Amateurvereine haben sich an ähnlichen Modellen versucht und sie nach kurzer Zeit aufgeben. Brasilianer seien zu kompliziert, heißt es von dort. Vielleicht wollen sie aber auch nicht nur für Kost und Logis spielen.
Immerhin, ein paar Darmstädter Spieler hatten mehr Glück. Einer spielt in Spanien, 2. Liga, zwei in Irland und einer bei Wormatia Worms in der Regionalliga. Dort verdient ein Fußballer im Schnitt 1000 Euro brutto im Monat: viermal so viel wie der offizielle Mindestlohn in Brasilien. Eine Klasse höher, in der 3. Liga, sind es mindestens 2500 Euro monatlich, Spitzenspieler streichen mehr als 10.000 Euro ein.
„Ich habe schon länger darüber nachgedacht, zurückzugehen. Ich habe oft mit meinen Eltern darüber gesprochen und mit meiner Freundin. Wenn sich deine Träume nicht erfüllen, musst du etwas ändern. Es ist Zeit für einen Neuanfang, dass ich mein eigenes Leben führe."

Vier Spieler in einem Büroraum an der Autobahn

Lucas holt acht, neun, zehn Pakete mit Frikadellen aus dem Tiefkühlfach und vier große Beutel Gemüse, Bohnen, Erbsen, Möhren und stapelt alles auf der Kochinsel der Bergemanns. Er macht den Herd an, erhitzt zwei große Pfannen, gibt viel Öl hinein und brät die Frikadellen. Dann wirft er den Reiskocher an. Essen für 30, 35 Personen. Wenig später ist das Abendessen fertig. Lucas hat es in Gastro-Schalen angerichtet und diese in Thermoboxen gestapelt. Die Boxen trägt er ins Auto.
Die Fahrt führt über Land, durch ein Wäldchen auf eine zweispurige Schnellstraße, hinein in ein Industriegebiet mit den üblichen Verdächtigen: Tankstellen, Shops für Autozubehör, Möbelhäuser, Küchenstudios, Sport-Discounter. Vor einem ehemaligen Fitnesscenter hält Lucas. Im Bürogebäude daneben leben die Spieler. Es liegt in einer Senke. Darüber kreuzen sich zwei Autobahnen.
Menschen am Rande des Fußballplatzes, bei der Trainerbank
Luca wartet auf der Trainerbank auf seinen Einsatz auf dem Platz. An eine Karriere als Fußballer glaubt er aber nicht mehr.© Deutschlandradio / Tom Noga
Lucas und Daví schleppen die Boxen hoch. Vom Flur gehen auf zwei Etagen verwinkelt Räume ab. Je vier Spieler teilen sich einen Raum. Schränke gibt es nicht. Die Fußballer leben aus dem Koffer. Teils sind die Zimmer mit herabhängenden Decken unterteilt, für ein bisschen Privatsphäre. In der Küche richten Lucas und Daví das Essen an. Die Fenster sind sperrangelweit offen. Von draußen lärmt die Autobahn.

"Bei vielen Clubs in Brasilien ist es schlimmer"

Die Spieler schlurfen heran, schaufeln sich ihre Teller voll und verziehen sich in ihre Zimmer. Nach dem Essen lässt sich Daví auf ein zerschlissenes Sofa im Aufenthaltsraum fallen. Daví ist der Star des Teams. Er hat bei Flamengo und Fluminense gespielt, den beiden großen Clubs aus Rio de Janeiro, und in Brasiliens Jugendnationalmannschaften U16 und U18. Aber dann ist viel schief gelaufen in seiner Karriere.
„Ich habe in paar schlechte Entscheidungen getroffen, was Berater angeht. Sie haben gut an mir verdient, aber nicht in mich investiert. In Europa habe ich in Portugal gespielt, in Albanien, bei ein paar Clubs, aber nie lange, in Moldawien. Danach hatte ich einen Vertrag in Rumänien. Dann kam Corona und ich musste nach Brasilien zurück. Ich war frustriert, hatte schon mit Fußball aufgehört. Aber dann bekam ich die Chance hier. Ich bin glücklich, dass ich meine Karriere fortsetzen und das machen kann, was ich liebe.“
Kein Gehalt, keine Prämie, kein Werbevertrag, nichts. Keine, eigene Wohnung, stattdessen eingepfercht in Büroräumen in einem Industriegebiet an der Autobahn. Warum tut sich Daví das alles an? Immer noch besser als zu Hause, sagt er.
„Das ist doch wie im Trainingslager. Da teilst du dir auch mit zwei, drei Leuten ein Zimmer. Du isst mit allen zusammen, trainierst tagsüber. Bei vielen Clubs in Brasilien ist es schlimmer: Du schläfst unter der Tribüne, mit allen Spielern in einem Raum ohne Fenster, ohne Privatsphäre. Dagegen ist es hier angenehm. Viel Platz, man kann sich auch mal zurückziehen. Mir gefällt es. Das Essen ist gut. Es gibt eine Heizung und Bäder. Ich habe nichts zu meckern.“

Daví will einen italienischen Pass

Die trainingsfreie Zeit verbringt Daví im Fitnesscenter oder auf WhatsApp. Telefonate und Sprachnachrichten mit der Heimat. Einmal war er mit anderen Spielern aus. Aber Ausgehen kostet Geld und Geld hat Daví nicht. Das wird sich ändern, sagt er.
Daví heißt mit Nachnamen Ferrari. Seine Großeltern sind aus Sizilien nach Brasilien ausgewandert. Während der Pandemie hat er einen italienischen Pass beantragt. Im Juli wird er ihn bekommen. Dann hat Daví eine Arbeitserlaubnis und kann neben dem Fußball jobben.

Der Pass war sehr teuer. Ich habe jemanden dafür bezahlt, Papiere zu besorgen, sie übersetzen und beglaubigen zu lassen. Das hat mich umgerechnet 1500 Euro gekostet. 2500 Euro habe ich für jemandem in Italien bezahlt. Um den Pass bekommen, brauche ich dort einen Wohnsitz, für einen Monat. Das war echt viel Geld.

Daví

Das Geld hat seine Familie aufgebracht: Eltern, Onkel und Tanten. Typisch Brasilien. Weil Daví nie etwas anders gemacht hat als Fußball spielen, hat er auf dem Arbeitsmarkt dort keine Chance. Und dann ist da seine Freundin. Seit sechs Jahren führt Daví eine Fernbeziehung mit ihr. „Das war kompliziert, wir haben viel gestritten."
Als sie sich kennenlernten, war er schon in Europa. "Sie hat damals gesagt: Wenn es dein Traum ist. Ich bin sehr dankbar, dass sie es bis jetzt mit mir ausgehalten hat. Wir haben oft darüber gesprochen, ob es Sinn macht zusammenzubleiben. Jetzt reden wir über andere Dinge."
Wenn er den italienischen Pass habe, wolle er sie rüberholen. "Wir wollen heiraten, eine Familie gründen. Vielleicht kann sie für den Verein arbeiten, als Köchin, Lucas geht ja zurück, oder sonst eine Arbeit. Ich werde weiterspielen, hier oder anderswo in Europa. Nach Brasilien will ich nicht zurück. Ich bleibe hier.“

Der 1. FCA will in die höchste Amateurklasse

Zwei Tage später: Training auf einem Nebenplatz der Sportanlage des 1. FCA. Am Rande des Platzes steht Luca Bergemann, der Manager. In Wirklichkeit ist er so etwas wie das Mädchen für alles beim 1. FCA: Co-Trainer, Platz- und Zeugwart.
Wenn Not am Mann ist, hilft er in der zweiten Mannschaft aus. Als Abräumer im defensiven Mittelfeld. Luca Bergemann erzählt, wie es vor sieben Jahren angefangen hat mit den internationalen Spielern beim 1. FCA.
„Damals kam es zum Kontakt zu einem Spieleragenten, der mit meinem Vater Kontakt aufgenommen hat und von vier jungen interessierten, motivierten amerikanischen Studenten gesprochen hat, die nach ihrem College-Abschluss gerne nach Europa kommen würden, um die Chance haben zu können, in Deutschland Fußball zu spielen und sich einen Namen zu machen und versuchen zu können, höher im Fußball in Deutschland unterzukommen.
Diese vier sind auch direkt gut eingeschlagen, haben auch sehr gut gespielt. Einer von diesen war Jake Keegan, der direkt nach vier Monaten in die erste irische Liga gewechselt ist, dort Europa-League-Spiele absolviert hat. So kam der Einstieg in das System, mit internationalen Spielern zusammenzuarbeiten.“
Vor drei Jahren dann die Entscheidung, ausschließlich auf Brasilianer zu setzen, weil es einen kleinen Verein überfordert, Spieler aus aller Herren Länder zu integrieren. Die Bergemanns haben einen Sechsjahresplan aufgestellt: Spätestens im Jahr 2025 soll der 1. FCA zweimal aufgestiegen sein und in der höchsten Amateurklasse spielen.

Es gibt erstens die Rekrutierung über Empfehlungen von Freunden, von Scouts, die man schon kennt. Es gibt die Rekrutierung über Videomaterial von bekannten Agenten. Und es gibt die Rekrutierung über die sogenannten Combines, wo wir selbst in Brasilien vor Ort sind, uns die Spieler angucken, auch Kontakt mit den Spielern direkt aufnehmen können, mit den Eltern aufnehmen können.

Luca Bergemann

Combines sind Vermittlungsbörsen für Fußballer, die weit unter dem Radar der großen Agenturen und Clubs laufen. Dabei laden Veranstalter Colleges aus den USA und kleine Vereine aus Europa ein und bringen sie mit Fußballern zusammen, die ins Ausland wechseln wollen. Kommt ein Wechsel zustande, wird eine Vermittlungsgebühr fällig. Diese zahlen die Spieler selbst.
„Für jedes Combine gibt es unterschiedliche Preise, aber es liegt schon zwischen 500 und 1500 Euro.“

Das Geschäftsmodell ist nicht beliebt in der Liga

Langstadt ist ein Dorf. 1600 Einwohner, Kirche, Tante-Emma-Laden, Einfamilienhäuser. Am Ortsausgang ein Fußballplatz mit elektrischer Anzeigetafel, überdachten Sitzplätzen und mit Zuschauern: Um die 100 dürften es sein, die meisten ein Bier in der Hand. Der 1. FCA ist noch immer Zweiter in der Tabelle, braucht jeden Punkt. Trainer Elton da Costa hat gehörigen Respekt vor dem heutigen Gegner.
„Wir spielen gegen eine sehr starke Mannschaft, die schon seit einigen Jahren zusammenspielt. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir heute drei Punkte holen können.“
Das Spiel beginnt hektisch. Schnell wird klar, was Langstadt vorhat: draufgehen, den Gegner in Zweikämpfe verwickeln, ihm den Schneid abkaufen. Elton da Costa mahnt seine Spieler zur Ruhe. Auch wenn gegnerische Trainer und Vereinspräsidenten es nur hinter vorgehaltener Hand sagen: Das Modell des 1. FCA ist nicht beliebt in der Liga, deshalb sind auch die Spieler der Gegner immer besonders motiviert, wenn es gegen „die Brasilianer“ geht. So auch heute.
Nach 20 Minuten kommt Darmstadt besser ins Spiel. Daví treibt den Ball aus dem Mittelfeld nach vorne. Ein Doppelpass, noch einer. Daví hat nur noch den Torwart vor sich und schiebt den Ball ins lange Eck. Jetzt läuft der Ball durch die Darmstädter Reihen. Die Heimmannschaft hält dagegen, mit Härte. Der Schiedsrichter zückt gelb, zum dritten, dann zum vierten Mal. Insgesamt werden es bis zur Halbzeit sieben Verwarnungen sein, allein fünf für die Langstädter.

Ohne Aufstieg kein Profi-Vertrag

Die 30. Minute: Nach einer Ecke bleiben Mittelstürmer Mateos und ein gegnerischer Verteidiger verletzt liegen. Die Spieler beider Mannschaften gehen aufeinander los. Rudelbildung nennt man das im Fußballjargon. Trainer Elton da Costa pfeift seine Jungs zurück. Nicht nur Manager Luca Bergemann rätselt, was passiert ist. Auch der Schiedsrichter hat nichts gesehen. Er befragt seinen Linienrichter. Und stellt beide Spieler vom Platz.
Zehn gegen zehn. Das ist ein Vorteil für die technisch bessere Mannschaft, den 1. FCA: Der hat jetzt mehr Platz zum Kombinieren. Doch stattdessen kommen die Gastgeber auf, unterstützt von den Zuschauern, die mit jedem Bier frenetischer werden. Kurz vor der Pause die große Chance zum Ausgleich:
Ein Kopfball nach einer Freistoßflanke streift haarscharf übers Darmstädter Tor. Trainer Elton da Costa ist stinksauer und das lässt er seine Spieler in der Halbzeitansprache spüren. Bis zu den roten Karten sei es gut gewesen: nichts zugelassen, überlegen gespielt, Chancen gehabt, in Führung gegangen.
„Und dann? Wir wollen den Gegner dominieren. Haben wir das?“ Nicht wirklich. Für die zweite Halbzeit fordert Elton da Costa: Ballkontrolle, den Gegner laufen lassen, auf außen ins Dribbling gehen und so in den Strafraum kommen.
Darmstadt kommt wie verwandelt aus der Kabine, kontrolliert Ball und Gegner. Aber dann: ein Rückpass auf Torwart Ares. Der will den Ball nach vorne dreschen, schießt aber einen gegnerischen Stürmer an, und der jagt dem Abpraller hinterher und schiebt den Ball aus spitzem Winkel ins leere Tor. Es dauert ein paar Minuten, dann fängt sich Elton da Costas Team wieder. Lucas Silva tanzt auf dem linken Flügel zwei Gegenspieler aus, zieht nach innen und spitzelt den Ball Richtung Lattenkreuz, einen Tick zu hoch.
Darmstadt ist drückend überlegen. Es scheint nur eine Frage der Zeit bis zur erneuten Führung. Doch dann spielt ausgerechnet Daví einen Querpass vorm gegnerischen Strafraum. Ein Gegenspieler geht dazwischen. Langer Ball nach vorn. Innenverteidiger Valentino steht falsch, und der Langstädter Mittelstürmer hebt den Ball über Torwart Ares: das 2:1. Darmstadt wirft alles nach vorne, trifft Pfosten und Latte. Alle wissen: ohne Punkte, kein Aufstieg. Ohne Aufstieg, kein Weiterträumen von der Profi-Karriere im Ausland. Doch in der hektischen Schlussphase reicht es nur noch für zwei gelb-rote Karten.

Zerplatzter Traum nach viereinhalb Jahren

Eine halbe Stunde nach Spielende: Elton da Costa kommt aus der Kabine. Abgekämpft, heiser, kopfschüttelnd. „Unerklärlich, wie wir das Spiel verlieren konnten. Wir haben das Spiel dominiert und wir haben uns selber geschlagen heute. Das wäre praktisch unsere letzte Chance, gut Boden zu machen.“ Luca Bergemann dagegen, der Manager, scheint das Spiel bereits verarbeitet zu haben.
Die Chance auf den Aufstieg war eh minimal, insofern zieht er insgesamt eine positive Bilanz der Saison.
„Auf jeden Fall sehr zufrieden. Wir sind ja letzte Saison erst in die Liga gekommen, dann wurde die Saison abgebrochen aufgrund der Pandemie. Dann gucken wir, dass wir nächstes Jahr angreifen. Wir sind noch in den Gesprächen, wollen gucken, dass wir möglichst viele Spieler hierbehalten. Wie zum Beispiel Daví, der jetzt einen italienischen Pass bekommt. Das ist natürlich eine super Situation.
So versuchen wir, den Kader zusammenzuhalten und ihn dann adäquat zu verbessern. Mit den Kontakten sprechen, die wir haben und die uns immer auf dem Laufenden halten, welche Spieler kommen können, welche Spieler interessiert sind, nach Europa zu gehen. Mit denen werden wir uns kurzschließen und gucken, wen wir neu zum Team dazugewinnen können.“
Fußballer auf dem Platz
Aufwärmen für das Spiel: Davi ist motiviert. Am ende zerplatzt der Traum vom Sieg.© Deutschlandradio / Tom Noga
Schließlich kommen auch die Spieler vom Duschen, einzeln, mit gesenktem Blick. Niederlagen tun immer weh. Vor allen, wenn man sie mit einem Fehler eingeleitet hat wie Daví. Andererseits ist da die Zukunft. Mit einem anderen Spieler will Daví eine Wohnung mieten. Auch der hat einen italienischen Pass und eine Freundin, die bald nach Deutschland zieht. „Als Fußballer brauchst du eine gute Struktur, gute Bedingungen zum Leben und zum Trainieren, zum Spielen. Die habe ich hier.“
Für Lucas Silva dagegen geht es bald zurück nach Brasilien. Sein Traum ist nach viereinhalb Jahren in der hessischen Provinz zerplatzt. Dabei klingt er so wie ein Spieler der zweiten Mannschaft des 1. FCA – einer von denen, die eher wegen des Erlebnises Europa kommen und dafür, für brasilianische Verhältnisse, viel Geld bezahlen.
„Für mich fühlt sich das nicht wie ein Scheitern an. Ich habe hier viel fürs Leben gelernt, viele Erfahrungen gesammelt. Es war eine gute Zeit hier. Im Moment ist es richtig, nach Brasilien zurückzugehen, für ein Jahr oder zwei. Vielleicht gehe ich dann wieder nach Darmstadt oder wer weiß, wohin mich das Leben treibt. Im Fußball weißt du nie, was passiert. Heute bist du hier, morgen spielst du irgendwo 1. Liga.“

Eine Wiederholung vom 29. Mai 2022.

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