Im Feuerberg

Meine Expedition in den Vulkankrater

36:51 Minuten
Blick aus zwei großen Eis-Toren einer Gletscherhöhle
Weniger als 50 Menschen haben die surreale Schönheit der Gletscherhöhlen des Mount St. Helens bisher mit eigenen Augen gesehen. © Jörn Auf dem Kampe
Jörn Auf dem Kampe · 01.01.2024
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Schon als Kind wusste unser Reporter, dass er irgendwann in den Krater des Mount St. Helens steigen will. 2021 wird der Wunsch wahr: Er begleitet ein Team von Forschenden in die Welt aus Eis und Stein. Der Trip wird zu einer ungewollten Mutprobe.
Der Sturm kommt gegen Mitternacht. Er rüttelt an unseren Zelten, er drückt sie nieder. Schon bald wächst er sich zu einer Art Tornado aus, der durch den Kessel des Vulkans Mount St. Helens jagt. Craternado – Krater-Tornado – nennen die Bergführer einen solchen Sturm. Wir hören es fauchen, wenn der Wind in den Krater fährt. Immer an der Wand entlang fegt er, dann donnert er über uns hinweg, mit bis zu 90 Kilometern in der Stunde, und dreht dann wie in einem Karussell die nächste Runde.

Die Sendung wurde am 1. Januar 2023 erstmals ausgestrahlt.

Bei einem der beiden großen Zelte reißt die Stirnseite auf. Expeditionschef Eddy Cartaya alarmiert das ganze Camp. Andreas Pflitsch, der wissenschaftliche Leiter, eilt herbei, in karierter Schlafanzughose. Es ist der vorletzte Abend eines Forschungstrips in den Vulkan Mount St. Helens. Wir müssen das Zelt sichern, sonst reißt es der Wind in Stücke.

Der Vulkan macht Angst

Fünf Tage zuvor hat uns der Hubschrauber auf den Berg geflogen, damit wir dessen Welt aus Eis und Stein erforschen können: 24 Menschen für eine Woche in einem der unruhigsten Feuerberge der USA. Gar nicht so weit weg von der Interstate 5 zwischen Portland und Seattle im Bundesstaat Washington – und doch an einem so abgeschiedenen Ort, dass nur der Helikopterflug eine sichere Rückkehr garantiert. Der Fußmarsch aus dem Kessel wäre zu gefährlich, und kein Hubschrauber würde uns jetzt bei diesem Sturm hier rausholen.
Mit einer Eissäge in der Hand versuche ich so schnell wie möglich, Blöcke aus dem Firnschnee zu schneiden, auf dem wir kampieren. Aus den Blöcken wollen wir eine Mauer bauen, um das beschädigte Zelt vom Wind abzuschirmen. Wie werden wir diese Nacht überstehen? Seit unserer Ankunft im Krater stelle ich mir Fragen über unsere Sicherheit. Der Vulkan macht mir Angst. Dabei kann ich mir nichts Magischeres vorstellen, als hier oben zu sein. Immer schon wollte ich auf den Mount St. Helens.

123 Jahre hatte der Gigant geschlafen

Gut zwei Monate zuvor stehe ich an einem Samstag in einem Outdoorladen und kaufe klobige Hochgebirgsstiefel. Im sommerlichen München laufe ich sie ein. Ich trage dabei kurze Hosen und kann mir nur schwer vorstellen, dass ich bald Steigeisen an diese Stiefel schnallen werde, um damit einen Gletscher im Inneren eines Vulkans zu besteigen.
Für die Expedition packe ich eh viele Dinge zusammen, die jetzt seltsam deplatziert wirken: Skibrille, regenfeste Outdoor-Kleidung, Klettergurt, Kopflampen, Eisaxt. Außerdem lese ich wie ein Wahnsinniger, seitenlange Instruktionen und Aufklärungen über die Expedition und deren potenzielle Risiken, und ich schaue haufenweise Dokus und Videos über den Ausbruch vor mehr als 41 Jahren.
Blick von einem schneebedeckten Berg auf einen anderen Berg. An einem der Berghänge ist rotes Vulkangestein erkennbar.
Der von Eis und Schnee umhüllte Gipfel des Vulkans Mount Rainier, nördlich des Mount St. Helens. Der Ausbruch von 1980 ging genau in die Richtung des Mount Rainier ab.© Jörn Auf dem Kampe
Am 20. März 1980 bemerkte eine junge Wissenschaftlerin, dass mit dem Mount St. Helens etwas nicht stimmte. In einem Labor der University of Washington in Seattle schaute sie routinemäßig auf die Muster, die ein Seismograf aufzeichnete. Strebte die Linie sonst unaufgeregt mehr oder weniger geradeaus, schaute die Forscherin jetzt auf einen gedrängten, geschwungenen Strich. Es war eine zarte Kalligrafie, die Signatur eines Erdbebens, Magnitude 4.2 auf der Richterskala. 123 Jahre hatte der Gigant geschlafen, jetzt rumorte er.

Mit Schallgeschwindigkeit Richtung Seattle

Zu diesem Zeitpunkt sah der Berg mit seinem beinahe symmetrischen Kegel noch aus wie ein Bilderbuch-Vulkan. Vier Tage später bebte die Erde minütlich. Ranger vom United States Forest Service sperrten oberhalb der Baumgrenze die Zugänge zum Berg.
Am 27. März 1980 öffnete sich auf dem Gipfel unvermittelt ein 75 Meter breites Loch. Wie aus einem Granatwerfer jagte der Vulkan Asche in den Himmel. Schaulustige aus der ganzen Welt reisten an. Die Behörden ließen die Nachbarschaft des Vulkans evakuieren und Zufahrten blockieren. Über Wochen stiegen Aschewolken auf. Dann schien sich der 2949 Meter hohe Riese zu beruhigen. Kaum jemand rechnete mit einem Inferno. Doch ab Mitte April 1980 blähte sich die Nordflanke auf wie ein Kuchenteig. Magma schob sich durch Spalten und Risse nach oben und beulte den Hang aus.
Eine riesige Wolke aus Gas und Staub erhebt sich am 18. Mai 1980 nach der Eruption über dem Mount St. Helens.
Mit einem gewaltigen Dröhnen, das 250 km weit zu hören war, explodierte am 18. Mai 1980 der Vulkan Mount St. Helens im US-Bundesstaat Washington.© picture-alliance / dpa / UPI
Am Sonntag, 18. Mai 1980, um acht Uhr, 32 Minuten und elf Sekunden bebte wieder einmal die Erde. Wenige Augenblicke später fiel die Ausbuchtung in sich zusammen. Das war der Moment, als der Mount St. Helens explodierte. Die größte je beobachtete Lawine setzte sich in Gang: eine Wolke aus zerschmettertem Fels, Gasen und Asche fegte mit nahezu Schallgeschwindigkeit nordwärts Richtung Seattle. Ein heißer Mahlstrom, der unterwegs das Leben ausradierte und den Grund sterilisierte. Die chaotisch wirbelnden Massen rasierten Wälder ab, ließen Tiere verdampfen, verleibten sich Erdboden ein, sodass nur blankes Gestein übrigblieb. Erst in 27 Kilometer Entfernung ging der Wolke die Zerstörungskraft aus.
Neun Stunden lang erschütterten Explosionen den Berg. Zurückblieben das nach Norden geöffnete Hufeisen aus Kraterwänden und verwüstete Brücken, Straßen, Häuser, mit Asche und Schutt angedickte Flüsse und eine perplexe Geologenschaft. Zurückblieben auch 57 Tote, und der Mount St. Helens gab noch immer keine Ruhe.

Gigantischer Gugelhupf

Der Pilot hebt seinen Daumen, dann lässt er den Hubschrauber steigen. Ich sitze vorn, im Cockpit, ohne eine Tür zu meiner Linken, mit bester Sicht. Schon bald fällt mein Blick auch auf das Reiseziel: Vor uns erhebt sich der Mount St. Helens. Sein Anblick ist beinahe surreal. Von oben erinnert er an einen gigantischen Gugelhupf. An einen Gugelhupf allerdings, dem ein Stück fehlt. In der Nordflanke des Feuerbergs gähnt ein zwei Kilometer breites Loch. Dort hat die Explosion damals die Kraterwand herausgesprengt.
Entlang der alten Kraterwand schmiegt sich ein grauweißes Band: der Gletscher. Und ich frage mich: Wo um Himmels willen sollen wir denn hier campen? Als kleiner Junge sah ich im Fernsehen Bilder des Ausbruchs. Ich sah die Zerstörung eines Vulkans und die Entstehung eines neuen – und ich wusste: Irgendwann will ich in diesen Krater steigen. Jetzt bin ich überwältigt von seiner Präsenz.
Nach und nach wird das Expeditionsteam eingeflogen, zwei Frauen, 22 Männer, darunter Bergführer, Höhlenforscher und Leute aus der Geochemie. Zudem eine Geografin, ein Vermessungsspezialist des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt und der Ingenieur Kalind Carpenter vom „Jet Propulsion Lab“ in Kalifornien.
Helikopter landet in schneebedeckter Berglandschaft. Menschen stehen daneben.
Ein Team von 24 Frauen und Männern landet nach und nach im Krater des Mount St. Helens, um dessen bizarre Gletscherhöhlen zu erforschen.© Jörn Auf dem Kampe
Carpenter baut einen Roboter, den er auf dem Mount St. Helens testen will. „Ich bin hier auf den Mount St. Helens gekommen, weil ich die Umgebung verstehen muss, in der unser Roboter arbeiten soll. Er ist für eine Ozeanwelt konzipiert. Die Erde ist eine Ozeanwelt. Es gibt auch andere Ozeanwelten in unserem Sonnensystem, die einen Ozean haben. Aber die meisten von ihnen befinden sich unter Eis.”

Höhlen als Orte der Erkenntnis

Eisige Bedingungen, wie auf einem fernen Planeten sucht der Ingenieur hier, im Vulkan. Genauer gesagt: in den Höhlen des Gletschers. Die 13 bisher bekannten Höhlen tragen allesamt Fantasienamen, zum Beispiel Mothra, Godzilla Hole, Ghidora oder Hedorah. Die längste unter ihnen, Rodan, ist beinahe 800 Meter lang. 
Auch Roberto Anitori ist auf diese Höhlen aus. Der Mikrobiologe vom Clark College in Vancouver, Washington State, sucht darin nach Mikroben, nach sogenannten Extremophilen: Lebewesen, die mit härtesten Bedingungen klarkommen und die nirgends sonst existieren.
Für den wissenschaftlichen Leiter der Expedition sind die Höhlen so etwas wie Orte der Erkenntnis. Seit Jahren kommt Andreas Pflitsch immer wieder, misst im Inneren des Gletschers Temperaturen, beobachtet das Eis. Der Bochumer Klimaforscher weiß, dass sich die Gebilde ständig verändern, und er hofft, aus dem Wandel der Form auf Warnzeichen zu schließen: Warnzeichen, dass ein neuer Ausbruch bevorsteht.
Wir bauen die Zelte auf. Zum Glück. Denn, wenn bei solchen Gedanken ganz konkret Dinge zu tun sind und so etwas wie Routine einkehrt, lenkt das schon ab. Die Arbeit im Camp klingt erst einmal danach. Die Bedingungen an dem Ort, wo wir es errichten, lassen mich allerdings unruhig werden: Das Firnfeld verändert sich fast stündlich. Schon bald reißt der Firn an einer Stelle auf. Die Öffnung wird sich nach und nach vergrößern wie eine Gletscherspalte.

Steinschlag als Soundtrack

Es ist viel zu warm, selbst für einen Hochsommer auf 1900 Meter Höhe. Zu dieser Jahreszeit herrschen im Krater sonst Temperaturen von ein paar Grad über null, nachts friert es. Wir ziehen schon die Daunenjacken aus. Der Wetterbericht sagt: Es wird noch wärmer werden, wie überall im Bundesstaat Washington.
Unser Problem: Wir wohnen nicht auf einem massiven Klumpen Firn, auch unter uns wölben sich Hohlräume über dem kantigen, spitzen Gestein. Ein Einsturz könnte lebensgefährlich sein. Werden wir irgendwann meterweit in die Tiefe stürzen? Das Dilemma: Wir könnten kaum irgendwo sonst zelten, denn es gibt nur wenige sichere Zonen hier. Fast überall droht Steinschlag von den Kraterwänden. Seit uns der Hubschrauber abgesetzt hat, lösen sich aus der Wand des Kraters Felsbrocken.
Steinschlag ist deshalb so etwas wie der Soundtrack dieses Trips, die schwarze Asche die allgegenwärtige Substanz, eine Botschaft des Vulkans: Wo ihr seid, bin auch ich, besagt sie. Asche färbt den Schnee, Asche sammelt sich in der Unterwäsche, Asche knirscht zwischen unseren Zähnen.
Menschen mit Bergsteigerausrüstung und Stöcken gehen einen schneebedeckten Hang hinauf.
Schon nach ein paar hundert Metern steigt der Weg, den die Teams vom Camp zu den Höhlen auf dem Gletscher beschreiten, steil an.© Jörn Auf dem Kampe
Unser Rückzugsort Camp Rembrandt liegt am Rand des Gletschers, außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone. Aber wenn wir morgen zum ersten Mal den Gletscher aufwärts bis zu den Höhlen besteigen, werden wir dem Steinschlag sehr nahekommen. Weitere Gefahren sind Gletscherspalten auf dem Weg und Gletscherhöhlen, die kollabieren können. Gesteine, die in der Höhlendecke stecken, können abstürzen, und der Berg selber ist eine Wettermaschine, die urplötzlich einen Sturm entfesseln kann – etwa, wenn im Sommer erwärmte Luft im Krater emporsteigt wie in einem Schlot. Noch sieht nichts nach einem Unwetter aus.

Im Notgepäck: zwei Ampullen Morphium

Nach dem Frühstück im Mannschaftszelt, Tag drei: Auftritt von Dr. Cornelius Peebles, genannt Woody. Er spricht darüber, was die Asche des Vulkans in den Augen anrichten kann. „Mindestens zwei Leute und wahrscheinlich alle, spüren eine gewisse Reizung der Augen", sagt er. "Je mehr ihr eure schützende Skibrille tragt, desto hilfreicher ist das, und versucht, euch nicht die Augen zu reiben, wenn ihr etwas in hineinbekommt. Wässert eure Augen, damit ihr sie euch nicht aufkratzt."
Woody Peebles ist unser Expeditionsarzt und immer dort zu finden, wo es heftig zugeht. Er hat im Irak Soldaten während der Kämpfe gegen den Islamischen Staat zusammengeflickt, Covid-19-Patienten in New York behandelt und in Sierra Leone Ebola-Infizierte betreut. 
Personen in einem Zelt. Ein Mann im Vordergrund hält ein Atemgerät in den Händen.
Jedes Team, das tief in die Höhlen vorstößt, hat Schutzmasken und Atemgeräte im Gepäck. © Jörn Auf dem Kampe
In seinem Gepäck hält er für den Notfall bereit: unter anderem Injektionsnadeln, Handschuhe, Skalpelle, zwei Ampullen Morphium für starke und sehr starke Schmerzen, Entspannungsmittel für eine Beatmung, Aspirin und Ibuprofen, Vaseline. Kleinigkeiten sind entscheidend an einem solchen Ort, sagt Woody. Wer zum Beispiel zu wenig schläft, ist unkonzentriert, macht Fehler, die zum Verhängnis werden können. "Die andere Sache, die heimtückisch ist, aber wichtig zu verstehen, ist, dass ihr hier oben immer müder werdet und es vielleicht gar nicht merkt.”
Jeden Morgen hält Woody Peebles im größten Zelt des Camps ein Briefing ab. Bevor wir aufsteigen zu den Gletscherhöhlen, weist er uns auf die Gefahren im Vulkan hin. Besonders auf die in den Höhlen. „Wenn man auf diesen Felsen herumhüpft, muss man sich langsam bewegen. Ich ziehe es vor, immer drei Punkte auf dem Boden zu haben, ob es nun eine Eisaxt ist oder zwei Füße und eine Hand, denn ein Sturz hier, auch wenn man nur umkippt und fällt, kann mit einer schrecklichen Landung enden.”

Regeln wie bei einem Militäreinsatz

Cartaya weiß auch, dass sogar Banalitäten eine Katastrophe auslösen können. Er hat deshalb zuvor alle Zelte zur Probe im Garten aufgebaut und jeden Quadratzentimeter inspiziert. Er hat jede Benzinkocherdüse und jedes Seil geprüft. Er hat für unseren Aufenthalt Regeln wie bei einem Militäreinsatz definiert:
Niemand verlässt das Lager, ohne seinen Lawinenpiepser einzuschalten, mit dem sich Verschüttete lokalisieren lassen. Niemand betritt den Gletscher ohne Absprache, und immer sind Bergführer dabei. Nachts sind bei Schneetreiben Ausflüge zum Klo möglichst zu unterlassen, hat Cartaya außerdem festgelegt. Stattdessen sollen wir im Schlafsack in Flaschen pinkeln, um nicht in der Dunkelheit herumzuirren und in einer Gletscherspalte zu verschwinden. 
Es geht steil bergan. Ich ramme meine Steigeisen in den aufgeweichten Schnee, stütze mich auf die Eisaxt. Bis zu den Höhlen, die wir heute am dritten Tag erkunden wollen, sind es nur einige Hundert Meter den Gletscher hinauf. Aber schon jetzt, immer noch in Sichtweite des Lagers, fangen wir an zu keuchen. Schwer wiegt der Schlitten voller Ausrüstung, den wir im Gespann ziehen. Schon bald läuft mir der Schweiß den Rücken runter.
Alle paar Minuten machen wir Halt. Links von uns türmt sich die Kraterwand auf. Wir sind hier eine ganze Ecke näher dran als im Camp, vielleicht noch 50 bis 100 Meter vom Saum entfernt, wo der meiste Steinschlag liegen bleibt. Manche Trümmer aber sind bis zu unserer Route über den Gletscher gerollt. Viele davon sind so groß wie Honigmelonen, manche haben die Maße eines Reisekoffers.

Eisbrocken so groß wie Wohnmobile

Der Gletscher ist eine Bowlingbahn, wir könnten die Kegel sein, denke ich. Eine Sektion weiter oben nennen die Bergführer „The Shooting Gallery“, „Die Schießbude“. Vor Jahren ging ein Brocken ab, dessen Furche über das Eis man noch im Besucherzentrum sehen konnte, aus einer Distanz von neun Kilometern. Er war so groß wie ein Wohnmobil.
Menschen in einer Schneelandschaft
Unterwegs wie auf einem fernen Planeten. Bis zu 152 Meter mächtig ist der junge Gletscher, der sich nach dem Ausbruch geformt hat.© Jörn Auf dem Kampe
„Die Geschichte eines beliebigen Teils der Erde besteht, wie das Leben eines Soldaten, aus langen Perioden der Langeweile und kurzen des Terrors“ hat der britische Geologe Derek Ager die Eigenheiten seines Forschungsgebiets mal zusammengefasst. So gesehen bin ich innerlich auf einen Terroranschlag des Vulkans vorbereitet.
Sobald es poltert, irrt mein Blick umher. Dann meldet sich die Angst. Irgendwo in meinem Schädel hat sie sich eingenistet und bleibt auf Standby. Aber die surreale Intensität der Landschaft betäubt sie auch, und wie jeder Mensch bin auch ich notorisch schlecht darin, Risiken einzuschätzen. Außerdem neigen wir alle zur Verdrängung, und nicht zu oft in Besorgnis zu erstarren, ist sicherlich hilfreich, denn wir verfolgen ja wissenschaftliche Ziele auf dem Vulkan. Wie der Ingenieur Kalind Carpenter vom Jet Propulsion Laboratory (JPL), der im Jahr 2031 einen Roboter auf den Saturnmond Enceladus schicken will, um dort Aliens aufzustöbern. Genauer: extraterrestrische Mikroben.

Live-Bilder von Lebewesen im Eis

Carpenter, 42 Jahre alt, keine 1.70 Meter groß, strotzt nur so vor Energie. Er hat einen 3-D-Laserscanner mitgebracht. Ein ähnlicher Scanner soll das Sehorgan des Roboters sein, nur viel kleiner. "Der Wasserdampf, der hier aus dem Eis austritt, erzeugt ähnliche visuelle Bedingungen, die wir auch auf Enceladus erwarten, wo es diese Fontänen gibt, die aus offenen Spalten herausschießen.“
Carpenter testet den Scanner in den Höhlen, weil der Wasserdampf eben ähnlich wie auf Enceladus oft die Sicht versperrt, und Carpenter erprobt zusammen mit seinem Team auch ein Hightech-Mikroskop, das Live-Bilder von Lebewesen im Eis senden kann. Der Mount St. Helens ist ihr Labor, in dem sie in den kommenden Jahren einen Roboter-Prototypen testen wollen. „Außerdem wollen wir wissen, wie er die Welt wahrnimmt. Wir wollen wissen, wie er schmecken kann. Hier stürzen überall Steine ab, was für eine erstaunliche Welt. Wir wollen wissen, wie der Roboter diese neue exotische Umgebung, in der wir noch nie waren, verstehen wird."
Ein Mann mit Skibrille steht im Schnee und hält ein kleinen Metallstift der Kamera entgegen.
Dieser Metallstift erhitzt sich, dringt ins Eis, gewährt Halt, zeigt der Ingenieur Kalind Carpenter. Solche Hightechbauteile sollen einem NASA-Roboter helfen, den eisigen Saturnmond Enceladus zu erforschen.© Jörn Auf dem Kampe
Auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen will, antwortete der britische Bergsteiger George Mallory: „Weil er da ist.“ Wir sind auf dem Vulkan, weil er extreme Bedingungen zu bieten hat. Sie sind ideal für Carpenter und sein Roboter-Projekt und auch für den Mikrobiologen Roberto Anitori.

Hoffnung auf neue Antibiotika

Der gebürtige Australier sucht nach Mikroben, die eine Spezialität aufweisen: Als Extremophile überleben sie fürchterliche Bedingungen. Fürchterlich jedenfalls aus menschlicher Perspektive – Kälte, kein Licht, kaum Nahrung. Und sie kommen mit der Tatsache zurecht, dass der Ausbruch alles auf dem Berg sterilisiert hat.
Die Mikroben könnten zur Entdeckung neuer Antibiotika führen, hofft Anitori, 55 Jahre alt, kräftige Gestalt, ausgestattet mit einer wohltönenden, tiefen Stimme. "Zurzeit erlebt die Welt eine sogenannte Antibiotikakrise, was bedeutet, dass es im Grunde eine Menge Antibiotika gibt, aber die Organismen im Wesentlichen gegen diese Antibiotika resistent werden", sagt er. "Wir müssen also grundsätzlich neue Antibiotika finden. Dies ist eine der Umgebungen, in denen wir nach Mikroben suchen, die neue Antibiotika produzieren.” Zusammen mit einem Kollegen hat Anitori in den Eiskammern bis zu 100 neue Arten aufgespürt, die möglicherweise nur hier leben.

Forschungsobjekt heiße Quellen

Keine Wolke zeigt sich, während wir weiter zu den Höhlen aufsteigen. Kein Lufthauch regt sich. Nichts deutet darauf hin, dass das Wetter umschlagen könnte. Als wir unser Tagesziel, die Höhle Mothra, erreichen, schauen mich zwei Löcher im Gletscher an, dicht beieinandergelegen wie die Augenöffnungen eines Totenkopfs. Sie gähnen dort, wo das Eis auf einen der Gesteinshaufen des neuen Vulkans trifft. Schwaden steigen auf und verschleiern die Sicht. Zusammen mit dem wissenschaftlichen Leiter Andreas Pflitsch und einem der Bergführer trete ich ein durch das rechte Augenloch. Das Wetter in der Tagwelt ist fortan nur noch Nebensache.
Hinter dem Eingang weitet sich der Hohlraum zu einer mehrere Meter hohen Kammer. Was sich anhört wie Regen, ist das Schmelzwasser des Gletschers. In feinen Fäden rinnt es von der Decke und trommelt auf unsere Helme. Es läuft mir in den Kragen. Ich stülpe die Kapuze meiner Jacke über den Helm. Die Sicht ist ähnlich schlecht wie an einem Nebelmorgen im herbstlichen Deutschland. Meine Helmlampe locht einen Lichtkegel in den Wasserdampf, der von unten aufsteigt. Kalt ist es, die Lufttemperatur liegt bei knapp über null Grad Celsius.
Wir quetschen uns durch eine Engstelle. Andreas Pflitsch hat keine Zeit für Träumereien. In den Höhlen will der Wissenschaftler die Daten seiner Temperatursensoren herunterladen, die dort zwischen den Steinen liegen, und er hat neue Messgeräte mitgebracht.
Zwei Menschen stehen in einer Eishöhle.
Andreas Pflitsch (rechts) erforscht, wie sich das Eis der Höhlen verändert. Eine starke Zunahme der Wärme könnte ein Hinweis auf einen drohenden Ausbruch sein.© Jörn Auf dem Kampe
Unter dem Gletscher stoßen heiße Quellen Dämpfe aus. Man nennt sie Fumarolen. Der Vulkan heizt sie an. Sie sind Pflitschs Forschungsobjekt. „Die Temperatur ist sehr wichtig, um zu sehen, wie die Höhlen in dieser kalten Umgebung temperiert sind. Hier haben wir den besonderen Einfluss des Vulkans. Wir haben die Fumerolen. Sie sind ziemlich heiß.” Wo die Dämpfe austreten, taut das Eis, formen sich Höhlen. Andreas Pflitsch will wissen, ob sich die Aktivität der Fumarolen, der heißen Quellen, mit der Zeit verändert, und misst deshalb ihre Temperatur. Dafür dreht er immer mal wieder Eisschrauben in die Wände des Gletschers.

Der Gletscher walzt täglich anderthalb Zentimeter

Im nächsten Jahr will er nachschauen, wo die Wärme seine Schrauben freigelegt hat: ein Hinweis auf einen Anstieg der Aktivität an dieser Stelle. Pflitsch, Nickelbrille, Jahrgang 1958, blass und sehnig, hat auf Hawaii ein Grundstück gekauft, weil auf ihm der Eingang zu einer Höhle liegt. Über seinen Körper windet sich ein verschlungenes Tattoo, das polynesische Höhlensymbole zeigt.
Gern macht er diesen Witz, den er mir später erzählt: „Meine Freunde schließen Wetten über meinen Tod ab, entweder sterbe ich demnach auf dem Rückweg von einer Expedition in der Lounge eines Fliegers an Entkräftung oder ich werde in einer Höhle von einem Stein erschlagen.“ Zum fünften Mal untersucht Andreas Pflitsch jetzt zusammen mit Vermessungsteams das Innere des Gletschers, immer riskiert er auf dem Berg sein Leben.
Bisher aber kann er noch kein präzises Muster erkennen, nach dem sich die Hohlräume verändern. „Das funktioniert ganz anders als bei einem normalen Gletscher, weil wir eine starke Wärmequelle haben. Diese Wärmequelle ist ursächlich für die Höhlen. Wir haben riesige Höhlen. Manchmal haben wir große Eingänge, manchmal haben wir kleine Eingänge, aber wir haben riesige Höhlensysteme da unten. Sie können bis zu ein paar Meilen lang sein. Das wird durch die Fumarolen verursacht.”
Klar ist auch: Der Gletscher walzt immer weiter, mit einem Tempo von anderthalb Zentimetern täglich. Als wir zurück im Lager sind, sehen wir: Die Sonne hat Camp Rembrandt zugesetzt. Das Firnfeld, auf dem unsere Zelte stehen, ist weiter abgeschmolzen. Die tief hereingeschlagenen Heringe, die unsere Zelte sichern, sind gut zur Hälfte sichtbar. Vier lange Tage noch, dann holt uns der Hubschrauber ab.

Zweifel am eigenen Urvertrauen

Expeditionsleiter Cartaya weiß aus langer Erfahrung: Feldforschung folgt leider oft genug dem Prinzip Chaos. Nicht alles lässt sich kontrollieren, wie die Wärme. Die Heringe werden jeglichen Halt verlieren, wenn die Sonne sie weiter freilegt.
„Ein Windstoß und die Zelte fliegen davon. Dann sind wir erledigt“, hat uns Cartaya mehr als einmal gesagt. Sein Problem-Management sieht folgendermaßen aus: Wir sägen handliche Blöcke aus dem Firnfeld, das Camp Rembrandt trägt. Wir stapeln die Blöcke über den Heringen, um sie wenigstens für kurze Zeit vor der Sonne abzuschirmen. Wir schichten Blöcke auch dort auf, wo die Zeltplanen den Boden berühren, damit der Wind den Stoff nicht greifen kann.

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Aber wir müssen den Nachschub eben aus dem Material gewinnen, das uns trägt. Es scheint, als würde eine verbrauchte Metapher zur Realität werden: Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Das ist etwas, was ich noch nie erlebt habe. Auch die kommenden Tage zieht die Temperatur kontinuierlich an. Dann sind es noch zwei Tage bis zum Abflug. Noch immer sieht nichts nach einem Sturm aus. Es soll heute sogar noch wärmer werden.
Die Spalte im Firnfeld hat sich inzwischen vertieft. An den Rändern des Firns brechen Stücke ab. Einen Kanister hat es schon zerquetscht. Wo wir vor zwei, drei Tagen zum Test eine Lawinensonde in den Firnschnee geschoben hatten, öffnet sich nun ein kreisrundes Loch, so groß wie eine Familienpizza. Darunter sind Felsen sichtbar, und wir sägen immer weiter Blöcke aus und schleppen sie zu den Zelten, um die Heringe zu schützen. Cartaya rackert genauso wie die Bergführer.
Nachts trage ich jetzt meinen Lawinenpiepser, falls unser Zelt in die Tiefe stürzt und man mich suchen muss. Mein Leben lang habe ich dem Untergrund vertraut. Wenn ich in den Alpen an einem Felsen klettere, ja, dann kann schon mal ein Tritt abbrechen. Aber dass sich der Boden unter mir plötzlich öffnen könnte? Das rührt an einem existenziellen Gefühl, an dem Urvertrauen in die Stabilität der Welt unter meinen Füßen.

Bei Sturm fliegt kein Hubschrauber

Es sind noch etwa 48 Stunden bis zum Rückflug, und dies wäre eigentlich der Moment, Bilanz zu ziehen. Über zig Proben, die wir, in Säckchen und Plastikflaschen verstaut, mit ins Tal nehmen wollen, über die gut 700 zusätzlichen Höhlenmeter, die wir kartografiert haben, oder über präzise Laserscans und Drohnenbilder vom Gletscher und über die Tatsache, wie wenig Menschen bisher diesen gefährlichen, aber auch hinreißend schönen Ort gesehen haben, wie glücklich wir uns schätzen dürfen. Der Berg allerdings ist noch nicht fertig mit uns.
Als es am vorletzten Abend dämmert, kommt urplötzlich der Wind auf. Gegen Mitternacht wächst er sich zu jenem Craternado aus, dem Krater-Tornado. Über mir biegt sich das Gestänge des Mannschaftszelts und vibriert, wenn der Sturm mit aller Kraft über uns hinwegwalzt. Dann reißt die Frontseite des Zelts mit einem ratschenden Geräusch ein.
Expeditionschef Eddy Cartaya alarmiert das ganze Camp. Aber geschlafen hatte bei diesem Getöse des Windes sicherlich eh niemand. Ich auf jeden Fall nicht. Ich sehe das hektische Hin- und Herschwenken von Kopflampen. Professor Andreas Pflitsch stakst in karierter Schlafanzughose über den Schnee. Wir versuchen, das beschädigte Mannschaftszelt zu retten.
Heftig atmend säge ich zusammen mit ein paar anderen Blöcke aus dem Firnschnee. Wir bauen daraus eine Schutzmauer gegen den Wind, hieven eine Kiste in das Zelt, versuchen, das flatternde Stück Plane daran festzukleben. Nichts hilft. Am Ende ist der Sturm stärker. Wir müssen das Zelt evakuieren und mit Gewichten beschweren, sonst zerfetzt es der Wind. Mit zehn Leuten legen wir uns auf die Planen, stellen Kisten und Taschen darauf. Gegen drei Uhr morgens haben wir es geschafft. Das Zelt ist gerettet, zum Glück. Wir wissen aber auch: Bleibt es bei dem Sturm, kommt kein Hubschrauber. Am Morgen des letzten Tages nimmt der Wind endlich ab. Der Helikopter kann starten. Der Mount St. Helens lässt uns ziehen.

"Danke, dass keiner von euch gestorben ist"

Alle kommen heil davon. Zwei von uns waren für ein paar Stunden schneeblind, einer Forscherin haben Aschepartikel das Auge verletzt. Dr. Woody Peebles entdeckte eines Morgens Blut in einem der beiden Eimer, die uns als Toiletten dienten, und ermahnte uns, dass der oder die mit dem Blut-Problem bei ihm vorstellig werden müsse, zu einem vertraulichen Gespräch, das niemand mitkriegen sollte. Sonst ist nichts passiert.
Ich werde noch tagelang nachts aufschrecken und zu Hause in München im Halbschlaf auf dem Boden herumkriechen und prüfen, ob er trägt, auf der Suche nach Halt und aus Sorge, der Untergrund könnte sich unter mir auftun und ich ins Nichts stürzen. Ich werde in meinen Notizbüchern eine hektisch geführte Handschrift vorfinden, die pure Anspannung verrät, und ich werde noch lange an eine Szene denken.
Wir standen nach dem Rückflug noch auf dem Helikopterlandeplatz zusammen, mit Dosenbier in der Hand. Da sagte einer der Bergführer: „Danke, dass keiner von euch gestorben ist.“ Ich bin heute froh, dass es vorbei ist. Aber auch glücklich, dass ich dabei war.

Diese Geschichte ist auch im Januar-Heft 2022 im Magazin der Zeitschrift "GEO" erschienen.

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