Debatte über Atomstrom

Kernkraft als Klimaretter?

29:41 Minuten
Sonnenblumen wachsen am Atomkraftwerk Grohnde.
Das Atomkraftwerk Grohnde wurde bereits stillgelegt: Deutschland hält am Atomausstieg fest, andere Länder in Europa bauen die Kernenergie aus. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Martin Reischke · 28.06.2022
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Aufgrund der Klimakrise und des Ukraine-Kriegs erlebt die Atomkraft in vielen europäischen Staaten wie Finnland, Großbritannien oder Frankreich eine Renaissance. Doch lässt sich der Klimawandel so tatsächlich wirksam bekämpfen?
An einem Frühlingstag im April dieses Jahres hat sich eine kleine Gruppe von Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe versammelt. Sie wollen ein Schreiben in den Briefkasten des höchsten Gerichtes der Bundesrepublik einwerfen. Im Video haben sie den Moment festgehalten. „Jetzt ist es so weit, jetzt reichen wir Verfassungsbeschwerde ein gegen den Atomausstieg.“
Rainer Klute ist Vorsitzender von Nuklearia e.V. – einem Verein, der die Atomkraft in Deutschland wieder salonfähig machen will. Als einer von zwölf Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern war Klute maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassungsbeschwerde gegen den Atomausstieg beteiligt.
Nur: Den deutschen Atomausstieg hat der Bundestag schon im Dezember 2001 beschlossen, vor über 20 Jahren also, zuletzt wurde das Gesetz im Juni 2011 novelliert. Bis zum Ende des Jahres sollen die letzten drei deutschen Kernkraftwerke vom Netz gehen. (*)
Ist da der Zug nicht längst abgefahren? Nicht ganz, findet Rainer Klute. „Jetzt ist es aber so, dass ein Gesetz auch verfassungswidrig werden kann, nämlich, wenn neue Tatsachen vorliegen“, sagt er. „Das ist beim Atomausstieg der Fall. Grundlage für den Atomausstieg war ja die Annahme der Bundesregierung, dass die Kernenergie eine Hochrisikotechnologie sei. Da sagt die Wissenschaft etwas anderes.“

EU-Studie stuft Atomkraft als nachhaltig ein

Klute bezieht sich auf einen Bericht des Joint Research Centres, also des wissenschaftlichen Dienstes der Europäischen Kommission, der die Frage untersucht hat, ob Kernenergie als nachhaltig einzustufen ist. „Und dieser Bericht sagt ganz klar, dass die Kernenergie von ihren Folgen her etwa mit Sonne und Wind gleichgesetzt werden kann“, so Klute.
Tatsächlich steht dies so in der Zusammenfassung der Untersuchung. Auch auf diesen Bericht stützte sich die Europäische Kommission, als sie Ende 2021 vorschlug, Kernkraft in die EU-Taxonomie aufzunehmen – eine Verordnung, die diese Energieart damit als nachhaltig einstufen würde und zu höheren Investitionen in die Atomkraft führen dürfte.
Das ist Wasser auf die Mühlen von Atomfreunden wie Rainer Klute. Nicht die Atomkraft sei gefährlich, sondern der deutsche Ausstiegsbeschluss – so sieht es der Vereinsvorsitzende. Denn weil die Erneuerbaren Energien noch nicht den kompletten Energiebedarf decken könnten, sei Deutschland ohne Atomstrom auf fossile Energieträger angewiesen. „Das bedeutet Erdgas, das bedeutet Kohle und das bedeutet CO2-Emissionen und bei Kohle gerade auch Luftverschmutzung“, sagt Klute. „Luftverschmutzung wiederum gefährdet die Gesundheit. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird da bedroht. Die Freiheitsrechte werden bedroht.“
Pro Kernkraft: Menschen demonstrieren für Kernenergie
Möchte den Atomausstieg wieder rückgängig machen: Rainer Klute vom Verein Nuklearia e.V..© picture alliance / dpa / Jonas Walzberg
Deshalb hat Klute nun die Verfassungsbeschwerde auf den Weg gebracht. Folgt man seiner Argumentation, wäre die Lösung eigentlich ganz einfach. „Die Kernenergie ist ja die einzige Möglichkeit, die wir in Deutschland haben, um die Lasten tatsächlich zu verringern, nicht nur in der Zukunft, sondern auch jetzt schon. Eine andere Möglichkeit gibt es ja gar nicht!“

Ukraine-Krieg hat Energiedebatte verändert

Doch Klutes Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 18. Mai nicht zur Entscheidung angenommen. Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen glaubt nicht, dass wir im Kampf gegen den Klimawandel auf Kernkraft setzen müssen. „Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine macht ja auf erschreckende, auf wirklich schrecklich Art und Weise deutlich, was im Alltag manchmal vergessen wird: Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie, und gerade in Zeiten, wo wenige hundert Kilometer von uns entfernt ja AKWs angegriffen worden sind, erscheint es wirklich aus Sicherheitsgründen nicht sinnvoll, Laufzeiten in Deutschland zu verlängern.“
Doch der Krieg in der Ukraine hat auch die Energiedebatte verändert. Tatsächlich zeigte der russische Angriff auf das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja Anfang März, welches Gefahrenpotenzial ein AKW im Kriegsfall darstellen kann – einerseits. Andererseits aber wurden gleichzeitig Forderungen nach Laufzeitverlängerungen lauter, etwa durch den bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, um sich so von russischen Öl- und Erdgaslieferungen schneller lösen zu können.

Betreiberunternehmen stehen zum Atomausstieg

Belgien will nun den ursprünglich für 2025 geplanten Atomausstieg um zehn Jahre verschieben. Auch das Bundesumwelt- und das Bundeswirtschaftsministerium ließen den möglichen Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke prüfen. Ein Zitat aus dem Prüfvermerk der beteiligten Ministerien: „Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gas-Krise nicht zu empfehlen.“
Zu gering seien die zusätzlich produzierten Strommengen. Und es gebe noch andere Hindernisse, sagt Bundesumweltministerin Lemke. „Man muss vielleicht dem Eindruck widersprechen, dass man wie ein Lichtschalter einfach die AKWs anlassen könnte, dass das mit An- und Ausknipsen geht. Wenn wir über drei oder fünf Jahre Laufzeitverlängerung reden, ist das nicht der Sachverhalt, über den dort gesprochen wird, sondern nochmal: Brennstoff müsste besorgt werden, Sicherheitsüberprüfungen müssten nachgeholt werden, vermutlicher Weise müsste nachgerüstet werden und sämtliche Risiken würden an den Staat übergehen. Und demgegenüber ist der verstärkte und schnellere Ausbau der Erneuerbaren einfach billiger und sicherer, deshalb ist das der präferierte Weg.“
Auch die Betreiberunternehmen der noch verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke stehen fest zum Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung. Das Thema Atomkraft, so teilen sie auf Anfrage schriftlich mit, sei für sie in Deutschland erledigt. Es bleibt also dabei, dass die letzten drei deutschen Kraftwerke zum Ende des Jahres vom Netz gehen sollen.

Finnland – Vorzeigestaat für Atomkraftbefürworter

Rainer Klute vom Verein Nuklearia e.V. hält die ministerielle Prüfung dagegen für ideologiegetrieben und das Ergebnis für falsch – und Klute ist nicht allein. Unterstützung findet er in anderen EU-Staaten. Denn in Europa ist eine heiße Diskussion darüber entbrannt, welche Rolle Kernkraft im zukünftigen Energiemix spielen soll – und nicht überall sind die Fronten so klar wie in Deutschland.
„Ich bin Biologin und Umweltschützerin. Ich kümmere mich um Wölfe in Finnland. Ich bin keine Lobbyistin und werde nicht von der Atomindustrie bezahlt. Durch uns ist es zum Mainstream geworden, dass man Umweltschützer sein kann und gleichzeitig Atombefürworter“, sagt Tea Törmänen. Seit ihrer Jugend engagiert sich die 39-jährige Finnin im Umwelt- und Artenschutz – und ist eine enthusiastische Verfechterin von Atomkraft. Törmänen ist auch Grünen-Mitglied geworden, seit sich die Partei in Finnland vor einigen Jahren für Kernkraft geöffnet hat.
Blick durch Bäume auf das Atomkraftwerk von Olkiluoto in Finnland
Das Atomkraftwerk von Olkiluoto in Finnland wird ausgebaut.© picture alliance / dpa / Lehtikuva / Heikki Saukkomaa
Für die Unterstützer von Atomkraft gilt Finnland als Vorzeigestaat: Als erstes Land weltweit wurde an der finnischen Westküste ein Endlager für hochradioaktiven Müll errichtet, das schon in wenigen Jahren in Betrieb gehen soll. In der Nähe des Lagers soll noch im Sommer der neue Block des Kraftwerks Olkiluoto in Betrieb gehen.
In ihrem Land gebe es wenig Proteste gegen die Atomkraft, erzählt Törmänen. Doch wenn die Umweltaktivistin im Ausland für die Kernenergie eintritt, werde die Stimmung bisweilen aggressiv. „Wir sind auf Klima-Demos von deutschen Teilnehmern attackiert worden, zum letzten Mal beim Klimagipfel in Glasgow. Da wurden wir physisch angegriffen von jemand aus Deutschland. Das hat mich wirklich schockiert, weil ich in Finnland ständig an Klima-Demos teilnehme und sich niemand daran stört. Wir hatten da auch nie irgendwelche negativen Rückmeldungen. Es war wirklich ein Kulturschock.“

CO2-arme Kernenergie

Denn wer gegen den Klimawandel kämpfen will, müsse auch auf die Nutzung der CO2-armen Kernenergie setzen – so sieht es Törmänen. Einwände wie die ungelöste Frage des Atommülls oder die Risiken einer Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima wischt sie schnell vom Tisch: Was die Abfälle angeht, so hätten die Finnen mit dem Bau des Endlagers für hochradioaktiven Müll ihre Hausaufgaben schließlich schon längst gemacht, und das Risiko eines Atomunfalls müsse man eben gegen andere Risiken abwägen.
„Der Klimawandel wird noch viel, viel schlimmer sein als mehrere schwere nukleare Unfälle“, sagt Törmänen. „Das ist etwas völlig anderes. Heute schon sterben Tausende Menschen an Luftverschmutzung, weil wir fossile Brennstoffe nutzen. Auch das ist ein völlig anderes Level. Wir müssen wirklich anfangen, das Risiko der Atomenergie mit dem Risiko zu vergleichen, sie eben nicht zu nutzen. Wenn man das tut, wird man feststellen, dass die Vorteile der Atomenergie ganz klar überwiegen. Da ist es doch völlig verrückt, noch funktionierende AKWs abzuschalten.“
Wer einen Blick auf die Electricity Map wirft, versteht, wovon Törmänen spricht: Auf einer virtuellen Landkarte stellt die App den CO2-Verbrauch bei der Stromerzeugung verschiedener Länder dar. Länder mit hohen Emissionen sind tiefrot gefärbt, Staaten mit geringem CO2-Ausstoß in der Stromproduktion dagegen grün – so wie Frankreich, dass mehr als die Hälfte seines Stroms aus Kernkraft bezieht.
Plakat, auf dem "Brückentechnologie" steht udn darunter auf Atomunfälle wie in Fukushima verwiesen wird
Jahrzehntelang demonstrierten Atomkraftgegener in Deutschland für das Abschalten der Reaktoren: Hier 2011 in Grundremmingen.© picture alliance / Joker / Walter G. Allgöwer
Deutschland dagegen ist eher orange, weil noch viel Energie aus fossilen Rohstoffen produziert wird. Auch Simon Müller, Direktor der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende, findet die Weiternutzung von Kohle und Gas problematisch. Doch seine Analyse unterscheidet sich grundsätzlich von der von Törmänen. „Es ist ja richtig, wenn man sagt: Wir haben sehr viele Tote durch Luftverschmutzung von fossilen Energien“, räumt er ein.
„Aber daraus muss man den Schluss ziehen, dass man aus den Fossilen aussteigen muss, sich ganz nüchtern hinsetzen und angucken: Was ist der schnelle, günstige Weg da rauszukommen, und da sind wir nun mal in der Situation, dass die Zeiten sich geändert haben, und die günstigste Energieform, die wir zur Verfügung haben, die darüber hinaus auch schnell ausgebaut werden kann, sind eben die Erneuerbaren.“

Erneuerbare Energien – bezahlbar und sicher

Für Müller ist die Diskussion um die Kernkraft als Klimaretter eine Phantomdebatte, da heute selbst traditionell atomfreundliche Organisationen wie die Internationale Energieagentur in Paris der Kernkraft keine großen Zukunftschancen einräumen würden. „In ihrem ambitioniertesten Klima-Szenario, dem Global Net Zero by 2050, also auf Netto-Null bis 2050 zu kommen, um eben das 1,5 Grad-Limit einzuhalten – in diesem Szenario schafft es die Atomenergie gerade, ihren Anteil am globalen Stromverbrauch bei gut zehn Prozent zu halten. Also: Es ist weit davon entfernt, wirklich die Hauptlast der Energieversorgung zu stemmen.“
Dunkle Regenwolken ziehen über die Landschaft mit einem Windenergiepark im Landkreis Oder-Spree
Deutschland möchte auf Erneuerbare Energien setzen. Diese bieten keine ausreichende Versorgungssicherheit, meinen Kritiker.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Tatsächlich sind die Kosten für Strom aus Sonne und Wind in den vergangenen Jahren massiv gesunken, während Atomstromkosten aufgrund immer neuer Sicherheitsmaßnahmen in den Kraftwerken tendenziell eher steigen – von den Aufwendungen für die teure und aufwändige Entsorgung des Atommülls ganz abgesehen, die in Deutschland vom Steuerzahler getragen werden.
Kernkraftbefürworter argumentieren jedoch, dass nur die Atomkraft die Versorgungssicherheit bieten könne, die Erneuerbaren Energien fehle, weil diese aufgrund der Abhängigkeit von den Wetterverhältnissen zu unregelmäßig Strom produzieren – und große Stromspeichermöglichkeiten noch nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stünden. Müller widerspricht. „Die Technologien sind entweder bereits im Markt oder unmittelbar davor, marktreif zu werden“, sagt er. „Das heißt, wir haben alle Zutaten, um ein sicheres, bezahlbares Energiesystem auf Basis von Erneuerbaren Energien jetzt sofort aufzubauen, das ist lediglich eine Frage des politischen Willens und der praktischen Umsetzung.“

Polen setzt auf Atomkraft

Noch aber nutzt auch Deutschland viel Kohle und Gas – und nicht alle Länder in Europa teilen Simons Einschätzung. Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Finnland oder die Slowakei wollen weiter auf die Kernenergie setzen. Polen will sogar neu in die Technologie einsteigen, um endlich von der klimaschädlichen Kohle wegzukommen.
Aktion gegen einen Atomkraftwerk-Neubau in Polen
Deutsche und polnische Grünen-Mitglieder protestieren auf dem Grenzfluss Oder gegen die Pläne Polens für einen AKW-Neubau: eher ungewöhnlich. Denn Protest gegen Atomkraft gibt es in Polen nur wenig.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
„Polen will eine Leistung von sechs bis neun Gigawatt Nuklearstrom an mindestens zwei Standorten installieren, einer im Norden und einer in der Mitte des Landes, das ist Teil unserer Dekarbonisierungsstrategie. Das erste Kraftwerk soll an der Ostsee westlich von Danzig entstehen. Der Umweltbericht ist schon veröffentlicht worden, der Standort ist ausgewählt, und bis zum Ende des Jahres soll der Fabrikant bestimmt werden. Wenn alles glatt läuft, können die Kraftwerke 20 bis 30 Prozent der polnischen Energie produzieren“, sagt Adam Blazowski von der polnischen Umwelt-Organisation Fota4Climate, die die Pläne der Regierung unterstützt. So wie die Finnin Tea Törmänen sieht Blazowski keinen Widerspruch zwischen Umweltschutz und Atomkraft.
Auch in Polen gebe es wenig Proteste gegen die Atomkraft. Aber warum unterstützen die polnischen Bürgerinnen und Bürger die neue Technik? Es gehe um Umweltaspekte und energiepolitische Autarkie, erklärt Blazowski, und dann gebe es da noch einen anderen Grund: „Ich will ehrlich sein: Für manche Menschen ist das beste Argument für die Atomkraft die Tatsache, dass Deutschland dagegen ist. Für viele ist das wirklich ein starkes Argument, dass man so seine Unabhängigkeit zeigen kann, dass man tun kann, was man möchte, und dass niemand anders dir sagen kann, was richtig ist und was nicht.“
Ist Deutschland ein so sendungsbewusster Musterschüler der Energiewende, dass es durch sein schulmeisterhaftes Verhalten potenzielle Partner zu Gegnern gemacht hat?
Ganz abtun will auch Simon Müller von der Denkfabrik Agora Energiewende diesen Vorwurf nicht. „Es ist tatsächlich so: Deutschland tritt international schon ab und zu auf eine Art und Weise auf, dem Rest der Welt zu erklären, wie es funktioniert“, sagt er. „Deutschland hat sich verdient gemacht gerade mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Kosten für Erneuerbare zu reduzieren. Aber in einigen Fällen ist es vielleicht das Beste, dann einen Schritt zurückzutreten und es den anderen Ländern zu überlassen, nüchtern auf die Zahlen draufzugucken und weniger zu schieben. Das ist dann, glaube ich, auch ein Weg, der hilft, damit diese Entscheidung auch auf Basis von rationalen Zahlen getroffen werden.“

Im stillgelegten Atomkraftwerk

Ein nüchterner Blick auf die Dinge – das ist es auch, was Hartmut Schindel vom Entsorgungswerk für Nuklearanlagen (EWN) an diesem sommerlichen Vormittag auf dem Betriebsgelände des stillgelegten Kernkraftwerks Lubmin in der Nähe von Greifswald anbietet. „Schön, dass Sie sich heute mal Zeit genommen haben, sich eine alte russische kerntechnische Anlage anzuschauen“, begrüßt er eine Besuchergruppe. „Ich denke mal, es ist ja nicht verkehrt, sich so etwas mal anzuschauen. Denn in der Welt sind solche Anlagen ja noch in Betrieb.“
Schindel hat sein ganzes Berufsleben im KKW Lubmin zugebracht. Früher als Schichtverantwortlicher im Kraftwerk, heute in der Unternehmenskommunikation des EWN, das für den Rückbau der Anlage verantwortlich ist. Für die kleine Besuchergruppe hat Schindel eine Präsentation vorbereitet.
Auf dem riesigen Areal am Greifswalder Bodden stehen acht Kraftwerksblöcke. Vier davon waren zu DDR-Zeiten in Betrieb, 1990 wurden sie stillgelegt. Block 6 ist ein ganz besonderes Industriedenkmal: Weil er noch vor der politischen Wende fertiggestellt, aber nie mit radioaktiven Brennelementen bestückt wurde und auch nie in Betrieb gegangen ist, kann man ihn heute ohne Strahlenschutzmaßnahmen besichtigen.
Mann in Blaumann und mit Helm steht in einem Raum mit sehr viel technischen Geräten.
Hartmut Schindel führt über Betriebsgelände des stillgelegten Kernkraftwerks Lubmin. Hier hat er sein gesamtes Berufsleben zugebracht.© Martin Reischke
Mit einem Kleinbus fährt Schindel mit seinen Gästen auf das Werksgelände. Dann hält er vor der mächtigen Betonfassade von Block 6. Hinter einer schweren Stahltür führen lange, blau gestrichene Gänge ins Innere des Kraftwerksblocks.
„Schon stehen wir hier vor dem Reaktor. Der ist natürlich genau in der Mitte von diesem Gebäude, aber so viel sehen wir nicht“, sagt Schindel. Denn der Reaktor ist von einer vier Meter dicken Betonhülle umgeben. Durch dicke Brandschutztüren und über Treppengänge geht es weiter nach oben. Dann steht Schindel plötzlich vor ein paar Metallstufen, die hoch zu einer Luke führen. Sie gibt den Blick auf den Reaktorkern frei.

Schwere Havarien und Störfälle

Ruhig und sachlich erklärt Schindel die Anlage, und wenn man ihm so zuhört, kann einen schnell das wohlige Gefühl beschleichen, dass bei Menschen wie ihm die Atomkraft und der nukleare Abfall in sicheren Händen sind. Denn für Schindel ist klar: „Egal, was wir hier machen, es darf eines nicht passieren: Es darf nicht zur unkontrollierten Freisetzung von Radioaktivität kommen. Die Radioaktivität ist das Entscheidende, die Strahlung ist erst die Folge der Radioaktivität. Denn die Radioaktivität zerfällt ja, und dabei entsteht Strahlung. Wenn Sie keinen Kontakt zur Radioaktivität haben, haben Sie auch keinen Kontakt zur Strahlung. Das ist unser Ziel, und das setzen wir hier um.“
Raum mti vielen technischen Gerätschaften
Im Eingangsbereich des stillgelegten Atomkraftwerks Lubmin: Weil der Meiler nie in Betrieb genommen wurde, können Besucherinnen und Besucher alle Bereiche ohne Sorge vor Strahlung besuchen.© Martin Reischke
Nur: Was Hartmut Schindel hier modellhaft erklärt, funktioniert in der Betriebspraxis von laufenden Kernkraftwerken zwar meistens, aber eben leider nicht immer, wie die schweren Havarien von Tschernobyl oder Fukushima zeigen. Außerdem heißt es, dass sämtliche sicherheitsrelevante Bauteile regelmäßig überprüft und gewartet werden müssen, um mögliche Störfälle schon im Vorfeld zu verhindern. Das ist extrem aufwendig und teuer – und führt aktuell etwa in Frankreich dazu, dass rund die Hälfte der Reaktoren abgeschaltet sind, weil Korrosionsrisse im Kühlsystem entdeckt wurden, die erst untersucht werden müssen.
Auch deshalb glaubt Simon Müller von der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende nicht daran, dass Kernkraftwerke einen nennenswerten Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten können. „Das Problem der Atomenergie ist gar nicht so sehr, dass sie jetzt zur Rettung kommen kann als Brückentechnologie, im Gegenteil, sie ist im Moment das große Sorgenkind für die Energieversorgung, die Sicherheit der Stromversorgung in Europa, eben, weil im Moment die Hälfte der Atomreaktoren in Frankreich vom Netz gegangen sind“, sagt er.

Kernkraftwerke oft teurer als gedacht

Hinzu kommt: Ausbaupläne wie etwa im englischen KKW Hinkley Point, im französischen Kraftwerk Flamanville oder im finnischen Olkiluoto sind stets viel teurer geworden und haben deutlich länger gedauert als ursprünglich geplant.
Den polnischen Umweltaktivisten Adam Blazowski schreckt das nicht ab – zumal sein Land einen anderen Weg gewählt habe. „Das Projekt im finnischen Olkiluoto wurde immer wieder verschoben, weil es natürlich immer länger dauert als erwartet, wenn man wie dort einen neuen Reaktortyp zum ersten Mal baut“, sagt er. „Das ist ganz normal. Aber in Polen bauen wir einen Druckwasserreaktor. Den gibt es schon, also geht es schneller. Natürlich ist das Projekt ambitioniert, aber das Umweltgutachten wurde bereits veröffentlicht und bisher liegen wir gut im Zeitplan.“

Atommeiler „vom Fließband“

Schon 2033 soll das polnische Kraftwerk ans Netz gehen – ein sehr straffer Zeitplan für ein so großes Projekt. Und glaubt man den Versprechungen der Atomindustrie, könnte es in Zukunft sogar noch viel schneller gehen. In einem Video wirbt der britische Rolls-Royce-Konzern für die sogenannten Small Modular Reactors (SMRs), die das Unternehmen entwickeln und so die Energieversorgung des Vereinigten Königreiches langfristig sichern will.
Der Konzern verspricht günstige und saubere Energie für Industrie und Endverbraucher, hergestellt in einem Kernkraftwerk, das praktisch vom Fließband kommt. Erst vor einigen Monaten hat die britische Regierung verkündet, das Vorhaben mit umgerechnet rund 250 Millionen Euro zu unterstützen.
Weltweit setzt die Atomindustrie große Hoffnungen in das neue System. Die kleinen, modularen Reaktoren sollen wie Fertighäuser in einer Fabrik hergestellt und am Montageort ganz einfach installiert werden – schnell, kostengünstig und flexibel. Auch Länder wie Kanada, Frankreich, die USA und Russland wollen viel Geld in die Entwicklung der modularen Reaktoren stecken.

Viele kleine AKW – statt ein großes

Doch Bundesumweltministerin Lemke ist skeptisch. „Wenn Sie statt einem großen AKW – wenn ich es so ausdrücke – viele kleine bauen, dann ist das Risiko damit ja nicht weg, aber es ist massiv verbreitert“, so ihre Einschätzung. „Das heißt, Sie haben es nicht in einem, sondern Sie haben es in vielen Reaktoren, die dann möglicherweise kleiner, aber trotzdem risikobehaftet sind. Ich glaube, dass das die Grundsatzfrage – im Übrigen auch die nach der Endlagerung – auch nicht löst.“
In der Bundesrepublik werden die neuartigen Reaktoren ohnehin nicht zum Einsatz kommen, weil auch für sie der Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung zum Ende diesen Jahres gilt. Und auch der deutsche Kerntechnik-Experte Bruno Merk ist vom Konzept der kleinen, modularen Reaktoren nicht überzeugt. „Wir wissen: Die Economy of Scale, dass das Ganze billiger wird, wenn es größer wird, das ist ganz klar. Also kleiner ist mit Sicherheit teurer. Jetzt sagt Rolls Royce: Das Problem lösen wir dadurch, dass wir die Dinger so klein machen, dass wir sie in der Fabrik bauen können und einfach reihenweise ausstoßen können. Die Ökonomie der Serienproduktion in der Kerntechnik wurde leider nie nachgewiesen.“
Denn bisher gibt es keinerlei Erfahrung mit der Massenfertigung von Atomanlagen. Merk, der viele Jahre in Deutschland zu Partitionierung und Transmutation, also der Aufbereitung von hochradioaktiven Abfällen geforscht hat, ist vor einigen Jahren an die Universität Liverpool gegangen. In Deutschland gab es nach dem endgültigen Ausstiegsbeschluss für einen Kernforscher wie ihn keine berufliche Perspektive mehr.

Atommüll recyceln?

Nun tüftelt er in England am Atomreaktor der Zukunft, Arbeitstitel des Programms: Imagine. „Aus meiner Sicht ist das die Kernenergie des 21. Jahrhunderts. Eine Kernenergie, die das Ziel hat, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern: Energiesicherheit, Ressourcensicherheit, Partitioning und Transmutation. Das Endlager leichter zu machen und das Ganze natürlich sicher und das Ganze machbar in vernünftigen Kosten und einer vernünftigen Zeit des Baus eines Reaktors. Das war das übergeordnete Gebilde, als ich angefangen habe. Das ist Imagine.“
Wenn man den Worten Merks Glauben schenken darf, könnte Imagine auf einen Schlag gleich mehrere Probleme der Energiewirtschaft lösen: Denn der neue Reaktor soll auf Basis des Uranisotops 238 laufen, das in herkömmlichen Reaktoren bisher nicht genutzt werden kann, aber in sehr großen Mengen in abgebrannten Brennstäben und Nebenprodukten der Atomindustrie vorhanden ist. So könnte vorhandener Atommüll recycelt werden, gleichzeitig wäre der umweltschädliche Uranabbau für sehr lange Zeit nicht mehr nötig.
„Wir bekommen einen Faktor 100 Energie aus Rohstoffen, die wir schon ausgegraben haben“, sagt Merk. „Das sind Materialien, die liegen entweder in Form abgebrannten Brennstoffs vor oder in Form sogenannter Tailings, also das Material, das anfällt, wenn das Uran angereichert wird. Es ist ja immer nur ein kleiner Teil, der angereichert wird, ein ganz großer Teil wird ja abgereichert – und der kann momentan nur bedingt weiterverwendet werden. Das könnte man alles nutzen.“

Energieautarkie für Jahrtausende?

Mussten die Brennelemente bisher teuer und langwierig in separaten Anlagen wiederaufbereitet werden, soll all das in Zukunft im Reaktor selbst passieren. Selbst hochradioaktiver Müll würde im Vergleich zu heute nur in kleinsten Mengen anfallen, erklärt Merk. „Das heißt, der abgebrannte Brennstoff plus die Tailings, die in UK rumliegen, würden genügen, um UK beim derzeitigen Stromverbrauch für 7500 Jahre mit Strom zu versorgen. Und das vor dem Hintergrund: vollkommen unabhängig, weil die Rohstoffe sind im Land. Es ist nur eine Frage der Technologie, diese Rohstoffe nutzbar zu machen.“
Energieautarkie für Jahrtausende – eine verlockende Vorstellung. Doch auch Merk muss zugeben: Die Forschung an der neuen Technologie wird extrem teuer – und bis ein Reaktor in Industriegröße einsatzbereit sein könnte, werden wohl noch mindestens zwei Jahrzehnte vergehen.
Ein Zug mit insgesamt sechs Castoren fährt vom Bahnhof Biblis zum Zwischenlager am stillgelegten Kernkraftwerk Biblis.
Atommüll fährt durch das Land: Ein Endlager gibt es in Deutschland noch immer nicht.© picture alliance / dpa / Arne Dedert
Trotzdem setzen viele Länder auf die Atomkraft, um ihre Klimaziele zu erreichen, und mit der EU-Taxonomie ist der Streit um die Nutzung der Kernkraft längst auch in Brüssel angekommen. Länder wie Frankreich werben dafür, Kernkraft in die Verordnung aufzunehmen und so als nachhaltig einzustufen – schließlich ist das Land mit der hohen Atomstromquote und Plänen für den Bau kleiner modularer Kraftwerke auf gute Rahmenbedingungen für Investitionen in die Atomkraft angewiesen. Genau das sieht der Vorschlag der Europäischen Kommission nun auch vor.
Für die finnische Umweltaktivistin Tea Törmänen ein logischer Schritt. „Wenn Atomkraft nicht Teil der Taxonomie wird, ist es keine wissenschaftliche Entscheidung, sondern eine politische – und es gibt keine Argumente dafür“, sagt sie. „Ich denke, dass wir anerkennen müssen, dass man aus anderen Gründen gegen Atomkraft sein kann – aber bitte behaupten Sie nicht, dass es nicht nachhaltig sei, wenn alle Untersuchungen das Gegenteil zeigen.“
Doch ganz so klar ist die Sache dann doch nicht – schließlich wird weiter über den Umgang mit dem Atommüll und die Gefahren eines nuklearen Unfalls gestritten. Staaten wie Deutschland, Österreich oder Luxemburg sind gegen ein grünes Label für die Atomkraft.
Die Bundesregierung will ein Veto gegen die Pläne der Europäischen Kommission einlegen. Verhindern wird Deutschland die Pläne damit allerdings nicht. Im Juli soll auch das Europäische Parlament über den Vorschlag der Kommission abstimmen.
„Die Taxonomie befasst sich ja mit der Frage, wohin öffentliches und privates Kapital in Zukunft gelenkt werden soll“, führt Bundesumweltministerin Steffi Lemke aus. „Und da halte ich Atomkraft wirklich für keinen sinnvollen Weg, weil sie viel zu lang braucht, wenn man neue Atomkraftwerke bauen will, ehe sie für die Energieversorgung einen Beitrag leisten, und sie einfach extrem teuer sind. Von daher bleibt die deutsche Bundesregierung dabei, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren präferieren. Wir werden sehen, wie die anderen europäischen Länder ihre Energieversorgung jetzt unter diesen verschärften Bedingungen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine in Zukunft gestalten werden.“
Auch, wenn der Anteil der Atomenergie am europäischen Energiemix in Zukunft nicht zunehmen dürfte – die Debatte um die Rolle der Kernkraft als Klimaretter ist noch längst nicht zu Ende.

Autor: Martin Reischke
Sprecherinnen und Sprecher: Barbara Becker, Ralf Bei der Kellen und Robert Frank
Technik: Jan Pasemann
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Carsten Burtke

*Redaktioneller Hinweis: Wir haben das Datum, an dem der Bundestag den Atomausstieg beschlossen hat, korrigiert.  

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