Keine Klarheit nach langem Schweigen

05.07.2010
In ihrem neuen Werk wolle sie ihre Stasi-Vergangenheit aufarbeiten und erklären, hatte Christa Wolf angekündigt. Zu einer klaren Reflexion ihrer widersprüchlichen Doppelrolle in der DDR konnte sie sich aber nicht durchringen.
Christa Wolf konnte im Mai 1992 ihre Stasi-Akten einsehen. Demnach wurden die Eheleute Wolf seit 1968 observiert, galten als "feindliche Elemente" und waren von einem dichten Netz von Stasi-Zuträgern umgeben.

In den Akten fand sich allerdings auch ein Dossier, aus dem hervorging, dass Christa Wolf drei Jahre lang selbst der Stasi zugearbeitet hatte – als Informantin unter dem Decknamen "IM Margarete". Angeworben im März 1959, lieferte sie den Stasi-Offizieren mündliche und schriftliche Berichte zur Situation im Schriftstellerverband und im Verlagswesen der DDR sowie Charakterprofile zu Autoren und Verlagskollegen.

Im Oktober 1962 wurde die Akte geschlossen. Der Aktenfund traf Christa Wolf nach eigenem Bekunden "völlig unvorbereitet": Sie hatte den ganzen Vorgang vergessen. Im September 1992 ging sie für neun Monate nach Kalifornien, als Stipendiatin des Getty Center in Santa Monica.

Erst im Januar 1993 – ihre Stasi-"Täterakte" sickerte bereits zu den Medien durch – entschloss sie sich, ihre IM-Tätigkeit vor 33 Jahren einzubekennen. Sie versuchte ihr langes Schweigen darüber zu erklären und kündigte an, sie wolle ihre Entwicklung "in einem größeren Zusammenhang darstellen, in dem auch diese Aktenerkenntnisse ihren Platz finden sollen".

Diese Darstellung liegt jetzt vor. Die Frage ist nun, ob "Stadt der Engel" Christa Wolfs Absicht einer rückhaltlosen Analyse ihrer eigenen Rolle und ihrer Entwicklung in der DDR gerecht wird und ob das Buch die Erwartungen der Öffentlichkeit nach kritischer Selbstreflexion der Autorin erfüllt.

"Stadt der Engel" ist ein Buch ohne Genre-Bezeichnung, ein teils autobiografischer, teils fiktiv überhöhter Bericht über Christa Wolfs Aufenthalt in Los Angeles. Geschildert werden das freundschaftliche Leben im Kreise der Stipendiaten, Wolfs touristische Stadterkundungen und ihre Nachforschungen auf den Spuren jener Künstler, die als Emigranten aus Hitler-Deutschland einst in Kalifornien ein Zentrum deutscher Kultur gebildet hatten.

Außerdem grübelt die Ich-Figur über sich selbst. Die Erzählerin erscheint als unglücklich, niedergedrückt von unausgesprochenen Ängsten. Ihr erklärter Vorsatz: Sie will in L.A. "der Spur der Schmerzen nachgehen". Sie hadert mit ihren Selbstbildern, mit den alarmierenden Lücken in ihrer Erinnerung, mit ihrem ambivalenten Verhältnis zur DDR, die ihr abwechselnd als "unbedeutendes Nichts" und als "das bessere Deutschland" erscheint.

Sie fürchtet die Anprangerung in den Medien, die Beschädigung ihrer Reputation und ihres literarischen Werks, den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit als Leitfigur und moralische Instanz der DDR-Literatur.

Zu einer klaren Reflexion über ihre widersprüchliche Doppelrolle als privilegierte Staatsdichterin und zugleich Dissidentin der DDR, der sie gleichwohl durch die Utopie des Sozialismus verbunden blieb, kann sie sich nicht durchringen. Eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt ihrer "Täterakte" liefert das Buch nicht. Stattdessen herrscht ein larmoyanter Ton des Selbstmitleids und des Selbst-Freispruchs.

Besprochen von Sigrid Löffler

Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp, Berlin 2010
416 Seiten, 24,80 Euro

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