Christa Wolf: Ich habe nicht an Flucht gedacht

Christa Wolf im Gespräch mit Sigried Wesener · 16.06.2010
Ihr Aufenthalt in der kalifornischen Stadt Anfang der 90er Jahre sei keine Flucht aus Deutschland gewesen, betont Christa Wolf. Los Angeles inspirierte sie zum Titel des Buches "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud", in dem sie auf die Brüche in ihrem Leben zurückblickt.
Susanne Führer: Heute Abend stellt Christa Wolf in der Berliner Akademie der Künste ihren neuen Roman "Stadt der Engel" vor. "Stadt der Engel" meint Los Angeles, wo Christa Wolf sozusagen überwinterte, Anfang der 90er-Jahre, als in Deutschland bekannt wird, dass auch sie von der Stasi als IM geführt wurde. Meine Kollegin Sigried Wesener hatte Gelegenheit, mit Christa Wolf über ihren neuen Roman, die Zeit in den USA und die Schwierigkeiten des Erinnerns zu sprechen.

Sigrid Wesener: "Stadt der Engel", Christa Wolf – im Titel Ihres neuen Buches ist bereits ein Hinweis auf die Stadt Los Angeles. 1992, 1993 waren Sie für einige Monate in Kalifornien. Wodurch ist diese Stadt in den Titel Ihres neuen Buches gekommen, was hat ihr diesen Platz gesichert?

Christa Wolf: Ja, wissen Sie, ehe ich noch überhaupt was von dem Buch hatte – außer dass ich Aufzeichnungen dort gemacht habe, die noch gar nicht als Vorarbeit für ein Buch gedacht waren –, da hatte ich schon den Titel, das war das Allererste, was ich überhaupt von diesem Buch hatte, "Stadt der Engel". Er ist einerseits, wie soll ich sagen, respekt- und achtungsvoll, und andererseits ist er natürlich auch ironisch, so ironisch, dass am Ende ja ein wirklicher Engel auftaucht, wenn ich das mal vorwegnehmen darf.

Wesener: Diese Zeit war politisch hoch aufgeladen und Sie selbst standen im Kreuzfeuer von Kritik. War dieser Aufenthalt in Kalifornien eine Zäsur im Leben, aber auch im Schreiben?

Wolf: Wahrscheinlich eine Zäsur, ganz sicher nicht, was viele mir damals zu meiner Überraschung auch heute noch zumuten oder von mir denken, dass es eine Flucht war. Das war es überhaupt nicht. Ich meine, hier ... Natürlich, es war gerade die Wendezeit in Deutschland, sehr aufgewühlte Zustände, und ich stand sehr in der Kritik. Das hat mich zwar sehr berührt und eben auch aufgewühlt, wir waren in einem seelischen Ausnahmezustand, kann man sagen, aber ich hatte nicht eine Sekunde an Flucht gedacht. Diese Einladung zum Getty-Center lag schon vor, und ich habe sie wahrgenommen, ganz normal, und auch dort, als mich einige meiner Kollegen, Italiener, Franzosen, Russen, alles, wer immer dort war, zu mir sagten, du wirst doch bestimmt hierbleiben, du wirst doch jetzt nicht in den Hexenkessel Deutschland zurückgehen, da war ich ganz perplex, weil ich nicht eine Sekunde daran gedacht habe.

Wesener: Es gibt ja einen Brief von Günter Grass, einen öffentlichen Brief, in dem er Sie bittet, sich nicht als Emigrantin zu empfinden.

Wolf: Ja, ich glaube, ich habe ihm darauf geantwortet und habe ihm eben das gesagt, was ich jedem gesagt habe. Ich hätte mich auch nie etwa verglichen mit den Emigranten, die dort in der Nazizeit nun haben wirklich flüchten müssen und die dort gelebt haben.

Wesener: Es waren die härtesten Wochen Ihres Lebens, haben Sie in einem Brief 1993 an Friedrich Schorlemmer geschrieben, und jetzt haben Sie sich doch noch mal eingelassen auf diese Zeit. Warum?

Wolf: Sicher war der Kern der Sache, dass ich so ein Gefühl hatte, gar nicht mal so rational, aber dass ich so ein Gefühl hatte, dass ich diesen Vorgang doch aufarbeiten könnte, ihn noch mal betrachten und sehen, wie ich mich heute dazu verhalte oder was ich heute davon öffentlich machen kann. Es war irgendwo noch etwas, was ich machen musste. Aber eigentlich war ... Der irrationale, kreative Anstoß war eigentlich der Aufenthalt in Amerika, also das Neue, was ich dort erlebte und was mich doch sehr mitnahm, auch im positiven Sinne, und vor allen Dingen die Menschen, auch natürlich die Menschen der sogenannten Second Generation, die Nachkommen von meist jüdischen Immigranten, die nun zum Teil schon tot waren, deren Kinder sich mit mir unterhielten, sehr oft auch über Deutschland unterhielten, das heißt, ich musste dort mich ganz deutlich zu Deutschland stellen.

Wesener: Ich will etwas, Christa Wolf, sagen zur Chronologie der Zeit. Sie haben am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gesprochen, dann waren Sie in der Kommission zur Aufdeckung von Übergriffen der Polizei am 7. Oktober, 1990 dann die Veröffentlichung der Erzählung "Was bleibt", die löst einen Literaturstreit aus, danach dann die Debatte um Täter und Opfer der Staatssicherheit – und in diesem Buch schreibt die Erzählerin: "Ich fühlte mich ganz und gar unbelastet." Dieses Schockerlebnis beim Anschauen dieser Akte, in der Sie Auskunft geben und auch die Frage, warum Sie mit der Staatssicherheit gesprochen haben, beschäftigt die Erzählerin in diesem Buch. Wie sehen Sie diese Auskunftswilligkeit heute?

Wolf: Ich selbst war erschrocken darüber, als ich diese kleine Faszikel, das die Stasi als sogenannte Täterakte angelegt hatte, übrigens ein unmögliches Wort, genauso wie Opferakte, unmöglich ist. Und da war ich schon erschrocken auch und gerade darüber, dass ich es vergessen hatte. Andererseits habe ich es schon doch als einen Anstoß genommen, mich noch einmal in diese Zeit zurückzuversetzen und mich zu fragen: Wie kam es eigentlich, dass ich überhaupt mit denen gesprochen habe? Kurze Zeit später wären die überhaupt nicht über meine Schwelle gekommen. Wie kam es, dass ich es dann vergessen habe? Diese Fragen waren für mich persönlich wichtig und ich habe mich daran redlich abgearbeitet. Aber was die Öffentlichkeit betraf, war ich doch, ja, fassungslos, sagte ich schon, dass es nicht möglich war, also, meine Entwicklung mit ins Auge zu fassen, dass sich tatsächlich so gut wie die ganze Öffentlichkeit, alle Medien, gar nicht noch mal zurückgucken, was ich eigentlich in der Zeit wirklich gemacht habe oder mal sich die Mühe nahmen, in eins meiner Bücher zu gucken oder mal vielleicht "Kassandra" zu lesen, und dass man vielleicht dann gar nicht auf die Idee kommen konnte, was man mir da vorwarf, dass ich Staatsdichterin gewesen sei oder dass ich eben tatsächlich also eine Mitarbeiterin der Stasi sein konnte. Das war ja eine unglaubliche Einseitigkeit, die aber ja nicht nur mich betraf.

Wesener: Dieses Buch ist, Christa Wolf, radikal ehrlich, in Zweifeln, Verzweiflung, in einer Art – ich will mal ein Wort aus dem Roman "Kindheitsmuster" nehmen – Kreuzverhör begeben Sie sich als Autorin selbst. War diese Haltung zu sich, auch zu dieser Zeit, auch zum Land DDR, diese kritische Haltung, diese fragende Haltung, warum und wie habe ich in diesem Land gelebt, Voraussetzung, um dieses Buch überhaupt schreiben zu können?

Wolf: Ja, das war natürlich die Voraussetzung. Wissen Sie, ich könnte da zwei Sachen dazu sagen, die erste ist etwas oberflächlich: Ich möchte mich ja beim Schreiben nicht selber langweilen, also, es muss schon etwas sein. Ich will etwas erfahren, was ich noch nicht weiß, wenn ich schreibe. Und es ist oft oder meistens will ich über mich etwas mehr erfahren, als ich vorher weiß. Ja, man hat mich jetzt gerade in diesen Tagen auch mehrmals gefragt, warum ich das mache und ob ich nicht sehe, dass ich mich damit aussetze und verletzlich mache und so weiter. Na klar, ich kann einfach nichts mir selber Gleichgültigeres schreiben.

Wesener: Ist dieses Buch auch der Versuch, die Deutungshoheit über die Biografie zurückzuerobern?

Wolf: Also, nicht bewusst, nicht in diesen bewussten Worten. Es wäre schön, wenn sozusagen dieses Buch auch in dem Sinne Auskunft gäbe und es Menschen dazu brächte, also sozusagen meine Sicht der Dinge auch wahrzunehmen.

Wesener: Sie haben mit Ihren Büchern, Christa Wolf, immer auch die Entwicklung des Landes DDR, vor allem der Menschen, auch der Irrtümer und der Fragen, aber auch der Hoffnungen beschrieben und erzählt. War aber für das Schreiben dieses Buches der Untergang, der Niedergang, das Ende der DDR die Voraussetzung, um überhaupt ehrlich und in dieser Zuspitzung schreiben zu können?

Wolf: Ja, das glaube ich schon. Das Buch spielt ja auf mehreren Ebenen, wie zum Beispiel auch "Kindheitsmuster", und eine dieser Ebenen ist eine Erinnerungsebene, und in der spielt die revolutionäre Erhebung '89 in der DDR eine große Rolle. Meine Erinnerung daran und meine Deutung dieses Ereignisses, und da natürlich dann das Scheitern oder der Untergang der DDR – das alles spielt eine große Rolle und gibt natürlich allem noch weiter Zurückblickenden eine neue Beleuchtung. Wenn man das erlebt hat und daran verzweifelt ist und keine Hoffnung mehr hatte, so war doch aber immer noch nicht abzusehen, dass es wirklich in ganz kurzer Zeit, in der eigenen Lebenszeit noch vollkommen an sein Ende kommen würde. Und wenn man das jetzt weiß, dann ist ... Das Zurückblicken hat dann natürlich einen anderen Ton. Ich hatte Zweifel öfter, also, wenn es ziemlich hart wurde, dann haben mein Mann und ich manchmal gedacht: Sollten wir, müssten wir nicht vielleicht doch weggehen? Wir wollten es nicht, wenn es irgend möglich ist. Franz Fühmann hat mal gesagt, Ärzte und Schriftsteller und Pfarrer sollten versuchen, in der DDR zu bleiben, die werden gebraucht. Das war so ein Punkt, man wurde gebraucht, das stimmt wirklich. Und dann, als diese Revolution kam, da war ich sehr froh, dort geblieben zu sein, weil: Welcher deutsche Schriftsteller erlebt schon mal in Deutschland eine Revolution?

Wesener: Ich lese diesen Roman "Stadt der Engel", Christa Wolf, wie eine Fortsetzung von "Kindheitsmuster". Ist dies gewissermaßen auch der Abschied von der DDR?

Wolf: Also, ich brauchte das eigentlich nicht so, aber es ergibt sich ja dann rein vom Stoff her: Der Abschied in einem selbst geht in Wellen vor sich, am Anfang gab es noch so etwas wie einen Phantomschmerz, der ist dann auch weggegangen, und ich muss sagen, es ist für mich jetzt kein emotionales Problem mehr. Sehr wohl ist es manchmal ein Problem des Nachdenkens, wobei ich ja immer wieder aber dann zurückdenke an diese wenigen Wochen, wenigen Monate der Revolution am Ende der DDR, in der also die Menschen aus sich herausholten, was man nicht für möglich gehalten hatte.

Wesener: Sehr vage ist auch die Erklärung des Wörtchens Utopie, das Sie ja immer wieder auch umgetrieben hat in Ihren literarischen Arbeiten, nicht nur nach Geld, Macht und Konsum streben, das ist wie eine Zustandsbeschreibung, aber keine Vision mehr?

Wolf: Na ja, das ist auch nicht die endgültige Definition. Ich denke ja, dass eine Gesellschaft ohne Utopie eigentlich sehr fade wird und, ich glaube, auch nicht entwicklungsfähig, wie wir es ja heute sind, nicht? Eine Gesellschaft ohne Utopie sind wir ja, das sieht so aus, als ob sich da heraus keine für Menschen annehmbare Entwicklung ergeben kann.

Wesener: Eine gefürchtete Frage der Erzählerin in Kalifornien, wenn sie eingeladen war, war: "What's about Germany today?" Wenn ich die Frage jetzt mal an die Autorin Christa Wolf weitergeben kann ...

Wolf: Damals waren die ersten größeren Anzeichen von rechtem Verhalten, von Neonazitum im dann schon vereinigten Deutschland. Heute die Frage gestellt "What about Germany today?" Na ja, ein Land in einer sehr tiefen Krise. Wie es da rauskommt, weiß ich nicht und wage ich da auch keine Voraussage, aber ich glaube, dass sehr viele Menschen in diesem Land heute sehr unsicher sind, auch über ihre persönliche Zukunft.

Mehr hören zu "Stadt der Engel" in Deutschlandradio Kultur:

Montag, 21.6.2010, 14.33 Uhr,
Radiofeuilleton, Kritik
Doppelrezension von Sigrid Löffler und Michael Opitz

Dienstag, 22.6.2010, 19.30 - 20.00 Uhr,
Literatur
"Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" - Der neue Roman von Christa Wolf
Eine Sendung von Sigried Wesener

Samstag, 26.6.2010, 17.30 - 18 Uhr,
Lesung
Christa Wolf liest aus "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"
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