Thementag Enthinderung

"Aus dem 'ihr' muss ein 'wir' werden"

Bertolt Meyer im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 19.10.2017
Der Organisations- und Wirtschaftspsychologe Bertolt Meyer, ohne Unterarm und Hand geboren, sieht Behinderungen nicht nur als körperliche Beeinträchtigung. Das Stigma des "bemitleidenswerten Behindi" ist ihm genauso suspekt wie die Erzählung von Super-Sportlern bei den Paralympics.
Bertolt Meyer, Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz, trägt eine Handprothese. Die bionische Hand funktioniert auf faszinierende Weise: Jeder Finger hat einen eigenen Motor, der Daumen sogar zwei. 24 verschiedene Haltungen beherrscht die künstliche Hand.

Zwei Elektroden messen die Muskelspannung

Dennoch sei die Forschung noch "meilenweit" davon entfernt, einen gleichwertigen Ersatz für die menschliche Hand zu schaffen, sagte Meyer im Deutschlandfunk Kultur. Die Steuerung von Hand und Fingern läuft über zwei Elektroden, die die Bewegungsbefehle von einem Muskel an Meyers Oberarm abnehmen. Sie messen die Spannung von dem Muskel, der eigentlich dafür da wäre, das Handgelenk anzuwinkeln.
Im Kopf macht Meyer dann eigentlich eine "handgelenksanwinkelnde Bewegung", um die Hand zu bewegen. Das musste er erlernen. Anfangs sei das ein sehr bewusster Vorgang - wie beim Erlernen eines Instruments, berichtete er. Wenn man das dann aber hunderte oder tausende Male gemacht habe, denke man nicht mehr darüber nach.

Die Krankenkasse wollte nicht zahlen

Die künstliche Hand hat Meyer seiner Krankenkasse abtrotzen müssen - die wollte das gute Stück nicht bezahlen, sondern nur eine einfache Prothese, der Meyer gar nichts abgewinnen kann. Die simplen Prothesen - "unangenehm, hautfarben und starr" - verströmten "den Charme eines Sanitätshauses der 70er Jahre". Man laufe damit mit einem "latenten Schamgefühl" durch die Gegend.
Meyer sieht eine Behinderung nicht nur als körperliche Beeinträchtigung. Menschen mit Behinderungen würden in der Gesellschaft als weniger kompetent wahrgenommen - zugleich aber auch als wärmer und etwas netter. Die Hoffnung, dass das Stigma verschwinde, wenn die Technologie immer besser werde und den Behinderten helfe, ihre Behinderung auszugleichen, sei gering, so Meyer.

Bei den Paralympics gibt es inzwischen "super humans"

Als Beispiel dienten ihm die Paralympics. Die Athleten bei den Spielen würden in den britischen Medien inzwischen als "super humans", Supermenschen, dargestellt. Es werde erzählt, dass die Athleten mit speziellen Prothesen nun sogar bessere Leistungen erbrächten als gesunde Sportler. Das stimme aber nur in den seltensten Fällen. So sei beispielsweise Oscar Pistorius nie schneller gelaufen als ein nichtbehinderter Athlet.
"Aus dem 'ihr' gegenüber den Menschen mit Behinderung muss ein 'wir' werden", betonte Meyer. Es helfe nicht, das eine "ihr" - was momentan der "bemitleidenswerte Behindi" sei - durch ein anderes "ihr" - die "super humans" - zu ersetzen. Wenn man ein ausgrenzendes Narrativ durch ein anderes ersetze, sei nichts gewonnen. (ahe)
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