Kein Friede ohne "demografische Abrüstung" im Nahen Osten

Moderation: Katja Schlesinger · 04.08.2006
Nach Ansicht des Soziologen Gunnar Heinsohn tragen die hohen Geburtenraten in den palästinensischen Gebieten zur Gewalt im Nahen Osten bei. Viele junge Männer ohne Perspektive seien für religiös motivierte Gewalt empfänglich, sagte Heinsohn.
Katja Schlesinger: Sozial nicht verwertbare junge Männer im arabischen Raum ziehen todessehnsüchtig in den heiligen Krieg. Am Montag habe ich hier im "Radiofeuilleton" mit dem Kulturphilosophen Peter Sloterdijk über den Zusammenhang von hohen Geburtenraten und Gewalt gesprochen. Der Bremer Soziologe und Völkermordforscher Gunnar Heinsohn vertritt seit Jahren diese These. Mit ihm bin ich gleich im Gespräch. Zuvor fasst Ralf Müller-Schmid zusammen, was genau Peter Sloterdijk gesagt hat:

" Die Befunde der demografischen Forschung (…) die sagen relativ unmissverständlich, dass seit einem halben Jahrtausend all die Kulturen, die starke Jungmänner-Überschüsse hervorgebracht haben, unruhig und aggressiv geraten. (…) Und in einer Welt, in der immer noch eine durchschnittliche Mutter vier, fünf, sechs Kinder zur Welt bringt, ist es unvermeidlich, dass es einen ungeheuren Überschuss an sozial nicht verwendbaren jungen Männern geben wird, die ihren Zorn in politisch destruktive Aktivitäten ausleben (…)."

Peter Sloterdijks Diagnose ist nicht deswegen beunruhigend, weil der Philosoph sich einer drastischen Wortwahl bedient. Viel unangenehmer sind die Konsequenzen seiner Überlegungen, die er in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift "Cicero" unter dem Titel "Die Bevölkerungswaffe der Islamisten" entwickelt hat. Während jetzt etwa der britische Premier Tony Blair eine wertorientierte Strategie gegen den islamischen Extremismus fordert, plädiert Sloterdijk für Realismus. Denn die Wertedebatte hat unter Umständen nur die Oberfläche des aggressiven Islamismus’ im Blick. Wer im Westen immer nur vom Frieden stiftenden Dialog der Kulturen und Weltreligionen träumt, mag weiterhin glauben, er habe die guten Werte auf seiner Seite. Er verkennt jedoch die krisenhafte Dynamik der arabischen Gesellschaften:

" (…) diese Zahlen sind so dramatisch, dass sie einer eigenen Interpretation bedürfen. Und eben dies tun die Forscher, die sich heute mit den Problemen der demografischen Dynamik befassen und den Zusammenhang zwischen Demografie und kriegerischer Gewalt untersuchen."

Katja Schlesinger: Und mit solch einem Forscher bin ich jetzt verbunden, mit dem Soziologen Gunnar Heinsohn. Er leitet das Institut für Völkermordforschung an der Universität Bremen. Guten Morgen, Herr Heinsohn.

Gunnar Heinsohn: Guten Morgen, Frau Schlesinger.

Schlesinger: Sie verweisen seit Jahren auf den Zusammenhang von hohen Geburtenraten und Gewalt. Peter Sloterdijk nun spricht von der "Bevölkerungswaffe der Islamisten". Übertreibt er da nicht?

Heinsohn: Ich glaube nicht, dass er übertreibt. Nur, die Entwicklung hat auch eine positive Seite. Denn in dem Moment, wo diese Jungmänner-Wellen, auf welche Weise auch immer, abgeklungen sind, dann kann auch wieder Frieden eintreten. Wir haben das gut beobachten können etwa in Algerien, wo sich 150.000 Menschen zwischen 1991 und ungefähr 2004 umgebracht haben. Während das passierte, haben die algerischen Frauen ihre Geburtenzahl auf 1,9 heruntergeschraubt, während ihre Mütter und Großmütter, die die Kämpfer geboren haben, sechs oder sieben Kinder hatten. Also das heutige Algerien steht alsbald vor einem Rentenproblem.

Schlesinger: Nun, aber die vielen jungen Männer im arabischen Raum, die gibt es ja nun. Die kann man auch nicht einfach wegsperren. Was kann man also tun? Einfach nur abwarten und zuschauen?

Heinsohn: Normalerweise, wie gesagt, gehen die den harmlosen Weg, das ist die Auswanderung. Wenn der verstellt ist – das nennen wir die unblutige Kolonisation -, wenn der verstellt ist, gehen sie zu Hause in die Kriminalität, dann in die Gewaltkriminalität, dann in den Bürgerkrieg und unter Umständen, wenn Minderheiten da sind, in den heimischen Völkermord. Wie gesagt, Algerien hat das so gemacht. Das hat eigentlich deshalb auch die Welt nicht weiter interessiert. Marokko hat das gemacht mit Ausrottung der Araber in Spanisch-Sahara, wo dann junge Marokkaner als Siedler hereinkamen. Das hat die Welt auch nicht interessiert. Dies ist der Weg, den wir jedenfalls in der überschaubaren Geschichte immer gesehen haben. Also das gegenseitige Dezimieren innerhalb der eigenen Grenzen oder – wenn möglich – blutig oder unblutig nach draußen gehen.

Schlesinger: Aber ist diese Entwicklung zwangsläufig oder kann man sie abwenden?

Heinsohn: Ich habe mal vorgeschlagen, die nächsten 15 Nobelpreise an Leute zu geben, die einen unblutigen Weg dafür vorschlagen können. Damit habe ich meine eigene Ratlosigkeit eingestanden, weil ich einen solchen Weg noch nicht sehe. Man muss vielleicht für das Gewicht dieser Entwicklung hinzufügen: Entscheidend ist, dass diese drei oder vier Brüder, die pro Mutter aufwachsen, auch gut ernährt sind. So furchtbar das klingt - unser Erfolg bei der Beseitigung des Hungers hat das Problem der kriegerischen Entwicklungen zugespitzt. Hunger ist eine furchtbare Geißel, aber militärisch keine Gefahr. Während bei gesättigten jungen Männern, die auch lesen und schreiben können und ein Hemd auf dem Leib haben, die Gefahr eben sehr groß ist, weil ich Lebensmittel und Bücher und Impfstoffe sehr schnell vermehren kann, aber interessante Karrieren, für die dann 15, 16, 17 Jahre alt werdenden jungen Leute nicht dasselbe gilt. Karrieren sind per Definition, Spitzenpositionen sind per Definition ja immer knapp.

Schlesinger: Sie hören Deutschlandradio Kultur. Ich rede mit dem Soziologen und Völkermordforscher Gunnar Heinsohn über den Zusammenhang von hohen Geburtenraten und Gewalt, so wie ihn auch Peter Sloterdijk hier im "Radiofeuilleton" beschrieben hat. Herr Heinsohn, trotzdem, ist es nicht zu einfach und ein wenig zu einseitig, die Konflikte auf der Welt auf eine Überzahl von jungen, gesättigten Männern zurückzuführen?

Heinsohn: Das Argument ist in der Tat primitiv und ganz unelegant. Und es klingt auch sehr brutal. Aber es spricht eben sehr viel dafür. Vielleicht muss man noch hinzufügen, dass diese Jungmänner-Bewegung im Normalfall immer hohe Wertsysteme ausbilden müssen. Das heißt, wenn Sie sagen: Die machen dann …, wenn man sagt: Die machen dann Religionskriege, dann ist das kein Zufall. Wenn man also fragt: Warum hat die Religion es vor allen Dingen in den großen Tötungsbewegungen so gut? Dann liegt das daran, dass 95 bis 98 Prozent dieser jungen Männer ganz normal sind. Die wissen, was ein Mörder ist. Die wissen auch, was ein krankhafter Selbstmörder ist. Das wollen die nicht sein. Sie wissen, dass sie töten werden, dass sie töten müssen, um die existierende Elite zu beseitigen, um in ihre Positionen reinzukommen. Aber sie wollen das nicht als Mörder tun. Sie wollen den furchtbaren Sünder, den ungerechten Ausbeuter gerecht strafen. Also sie wollen ehrbare Henker seine, aber keine Mörder. Und deshalb entstauben sie die heiligen Bücher und suchen sich dort die Definitionen heraus, die es ihnen erlaubt zu sagen: Wir sind die wirklich Gerechten, wir sind die wirklich Frommen. Das ist der Grund, dass das Töten und das Religiosifizieren immer zusammenlaufen. Das lief auch bei den spanischen Eroberern ganz genauso – die hießen ja auch im Jahre 1500 auf Spanisch "segundones", also zweitgeborene oder auch fünftgeborene Söhne. Denken Sie an Pizarro, der ging gleich mit drei Brüdern ins Inkaland und erledigte den Kaiser Atahualpa. Das heißt, diese waren auch fromm, die warfen sich auch zu Boden und schrien zum Herrn und zur heiligen Jungfrau. Wir nennen die heute Christen, aber wir müssten sie "Christianisten" nennen, wie wir eben die jungen Muslime, die den Islam missbrauchen, ja auch "Islamisten" nennen.

Schlesinger: Gehen wir zurück in den arabischen Raum. Viele Politiker meinen zum Beispiel, dass die Palästinenserfrage gelöst werden müsste, dann würde auch Ruhe einkehren in diese Region. Und ich habe noch ein Argument vielleicht ein wenig doch gegen diese demografische Argumentation: Ich habe mit einer Autorin des Buches "Die Kinder des Dschihads" gesprochen, mit Claudia Sautter, und sie sagte: Es sind Identitätsprobleme und vor allem auch politische Ereignisse, das sind Ursachen dafür, dass sich Moslems radikalisieren, auch in Europa.

Heinsohn: Das ist ja gar nicht falsch, was die Frau Sautter sagt. Es ist ein Identitätsproblem, wenn Sie dritter, vierter oder fünfter Bruder sind und keinerlei Perspektive haben. Wer sind Sie dann? Wohin gehören Sie dann? Da hat sie ja Recht. Aber dieses Identitätsproblem haben eben die dritten und vierten Brüder und nicht der einzige Sohn oder gar das einzige Kind. Da kommt das durchaus zusammen. Nur, das Palästinenserproblem ist ja nur deshalb in der Weltöffentlichkeit, weil auf der anderen Seite Juden stehen. Während also die Palästinenser ihren Jungmänner-Hass nach außen leiten können, konnten die Algerier das nicht; konnten die Marokkaner zwar das gegen andere Araber, aber eben nicht gegen Juden machen und es steht nicht in der Weltöffentlichkeit. Israel ist überhaupt nicht das Problem. Wenn wir uns Israel jetzt wegdenken eine Minute lang, dann würden wir im Gaza-Streifen Zustände sehen mit Dörferabschlachtung, wie wir sie in Algerien eben gesehen haben. Wir wissen ja, dass jetzt schon im Gaza-Streifen die Gewaltkriminalität unter den jungen Männern mehr Tote erfordert, als sie Gefallene haben in ihrem Krieg gegen die Juden Israels.

Schlesinger: Herr Heinsohn, eine Frage – mit einer ganz kurzen Antwort bitte. Sie hatten gesagt, wenn die Geburtenrate sinkt, dann löst sich quasi das Problem. Was führt nun zu kleineren Familien? Welche Rolle spielen die Frauen?

Heinsohn: Die Frauen müssen einfach mit Männern zusammen sein, die lohnabhängig sind, die keine Erben brauchen, dann gehen die Geburtenzahlen runter. Es sei denn, wir haben Palästina, wo die Welt sagt: Ihr seid Flüchtlinge und wenn ihr 20 Kinder habt, sind die Flüchtlinge und wir versorgen die. Deshalb geht in Palästina die Geburtenzahl nicht runter, während sie in Algerien und Tunesien - auch Libanon, ist ja auch bei 1,9 Kindern - längst runtergegangen ist, haben die Palästinenser immer noch sechs. Also da hat die demografische Abrüstung noch überhaupt nicht begonnen. Und deshalb kann es keine Lösung des Palästinakonflikts geben vor dieser demografischen Abrüstung. Aber selbst wenn die beginnt, werden die sich, falls Israel richtig zumachen kann und sich verteidigen kann, werden die weiter sich untereinander dezimieren - Fatah- gegen Hamas-Schießereien sind ja an der Tagesordnung, wir hören nicht viel darüber -, wird das also sich zuspitzen.

Schlesinger: Der Soziologe und Völkermordforscher Gunnar Heinsohn über seine These, dass hohe Geburtenraten zu Unruhen oder Krieg führen. Der radikale Islam wird darum auch in den nächsten Jahren Zulauf erhalten. Vielen Dank für das Gespräch.

Heinsohn: Vielen Dank, Frau Schlesinger.
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