Karl Friedrich Borée: "Ein Abschied"

Überleben im Kessel von Königsberg

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Buchcover zu Karl Friedrich Borée: Ein Abschied
Wie verhalte ich mich in Situationen der äußersten Bedrängnis? Es sind existenzielle Fragen, die Karl Friedrich von Borée interessieren. © Lilienfeld
Von Gabriele von Arnim · 31.01.2020
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Ein feingeistiger Chemiker versucht im Zweiten Weltkrieg dem von den Russen belagerten Königsberg zu entfliehen. In "Der Abschied" von Karl Friedrich Borée durchlebt er Situationen höchster Bedrängnis und hofft zugleich auf einen Neuanfang.
Es gibt Verleger, die sich immer wieder vergessener Schriftsteller annehmen und uns eine Literatur zugänglich machen, die uns hineinführt in Welten und Gedanken vergangener Zeiten mit aktuellem Bezug.
Karl Friedrich Borée, 1886 in Görlitz geboren und 1964 in Darmstadt gestorben, ist so eine Entdeckung. Schon mit seinem Roman "Frühling 45 – Chronik einer Berliner Familie", hat der Jurist und Romancier sich als ein so kluger wie nüchterner Berichterstatter seiner Zeit erwiesen, der den Alltag erzählt und zugleich reflektiert über die großen politischen und moralischen Fragen von Schuld, Courage, Freiheit und Recht. Und er vergisst nie die Fangarme der Liebe, in die der Mensch sich glücklich flüchtet oder erdrückt wird in ihnen.

Einkesselung von Königsberg

Auch in dem jetzt vorliegenden Roman "Ein Abschied" nimmt Borée uns mit in kriegerische Katastrophen, menschliches Überlebensverlangen und verzweifelte Grübeleien. Sein Held, Marian Burger, ein Goethe lesender Chemiker in einer Zellstofffabrik, erlebt die Einkesselung von Königsberg, berichtet von den in der aussichtslosen Situation mörderischen Beschwörungen der deutschen Wehrmacht, dass die Stadt gehalten werde, und von der viel zu spät angeordneten Evakuierung der Bevölkerung.
Nach anfänglicher Unschlüssigkeit will auch Marian Burger überleben und macht sich auf den Weg. Geht durch verschneite Wälder und auf vereisten Wegen gesäumt von sterbendem Vieh und Menschenleichen und erinnert sich der heiteren Ausflüge mit der damaligen Geliebten an genau diese Orte, die er jetzt zu umschleichen versucht.
Schließlich erreicht er das Haus der Freundin, in dem Wehrmachtssoldaten im gemütlich geheizten Raum sitzen, knuspriges Huhn essen und Wein trinken. Oben liegt die Hausherrin nach einem Selbstmordversuch umnachtet, aber noch atmend. Am nächsten Morgen sind die Soldaten getürmt. Noch immer schläft die ehemalige Geliebte. Die Russen werden bald da sein. Er muss weiter. Er kann die Ohnmächtige nicht mitnehmen, aber kann er die wehrlose Frau hier allein liegen lassen?

Hoffnung auf Neuanfang in Freiheit

Es sind existenzielle Fragen, die Borée interessieren. Wie verhalte ich mich in Situationen der äußersten Bedrängnis? Wann ist Freiheitswille Selbstsucht, wann müssen Anstand und Feigheit in Streit geraten? Wie sehr zersetzt die herannahende Katastrophe menschliche Bindungen? Seine Frau hat er bereits auf ein Schiff geschafft und sie gerettet. Und damit auch sich. Denn er will einen Neuanfang in Freiheit – nicht nur in politischer Hinsicht.
Karl Friedrich Borée war Anwalt in Berlin und schon 44 Jahre alt, als 1930 der erste Roman erschien, der ein Bestseller wurde. Sein zweites Buch, ein Antikriegsroman, wurde verboten. Später durfte er zwar weiterschreiben, wurde aber systematisch ignoriert.

Entgleister Rechtsstaat

Der Staat, lässt Borée seinen Helden sagen, sei dazu da, dem Menschen die Möglichkeit zu verschaffen zu werden und zu sein, der er sei. Genau das Gegenteil geschieht hier, wenn der Rechtsstaat entgleist und jeder einzelne der möglichen Pervertierung seiner selbst ausgesetzt wird.
Man kann diesen Roman als Erinnerung und auch als Warnung lesen vor gefährlichen politischen Irrwegen.

Karl Friedrich Borée: "Ein Abschied"
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2019
184 Seiten, 20 Euro

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