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Radikalisierte Jugend

In dem Film "Corbo" des kanadischen Regisseurs Mathieu Denis geht es um einen 16-Jährigen, der sich 1966 der terroristischen Organisation FLQ anschließt und als Attentäter endet. Der Regisseur zieht Parallelen zur Radikalisierung von Muslimen heute - und macht deutlich, welchen Einfluss kleine Zurückweisungen haben können.
Wenn es bei Ihrem nächsten Plauderabend mit Freunden um Filme geht, und Sie besonders intellektuell rüberkommen möchten, dann sollten Sie Sätze sagen wie "Der Film verweist auf Muster von beklemmender Aktualität". Wenn Ihnen das zu kirchentagsmäßig ist: "Da erkenne ich Chiffren, die auch heute noch gültig sind" – dieser Satz tut's auch.
Ich gebe ja zu: Diese Sicht ist knackig, ohne Zweifel. Man schaut sich was an, was in der Vergangenheit spielt, und kann sich dadurch die ach so rätselhafte Gegenwart besser erklären. Oder – und das ist jetzt meine Vermutung – man redet sich das zumindest ein. Manchmal jedenfalls.
"Corbo", um mal von etwas anderem zu reden, "Corbo" ist ein Film aus Kanada, und darin geht es um einen Jungen, Jean Corbo, der im Quebec des Jahres 1966 über seine Freunde Kontakt findet zu der terroristischen Organisation FLQ – und als Attentäter endet. Der Film ist der zweite Langfilm des Regisseurs Mathieu Denis, und seine erste Berlinale-Teilnahme.
Mathieu Denis:
"Ich glaube nicht, dass man in Europa viel weiß von der FLQ, von den Ereignissen damals. Das mag für das Publikum interessant sein, es ist aber nicht der Punkt. Interessanter ist doch, ob und inwieweit man Parallelen zu den Geschehnissen heute feststellen kann, zu der Radikalisierung von Muslimen beispielsweise. Ich würde mir wünschen, dass man meinen Film auch vor diesem Hintergrund wahrnehmen würde."
"Ich glaube nicht, dass man in Europa viel weiß von der FLQ, von den Ereignissen damals. Das mag für das Publikum interessant sein, es ist aber nicht der Punkt. Interessanter ist doch, ob und inwieweit man Parallelen zu den Geschehnissen heute feststellen kann, zu der Radikalisierung von Muslimen beispielsweise. Ich würde mir wünschen, dass man meinen Film auch vor diesem Hintergrund wahrnehmen würde."
Warum diese Parallele?
… und das ist dann der Punkt, an dem man Mathieu Denis "Ich wusste es!" entgegenbrüllen möchte, "Ich wusste, dass Sie das jetzt sagen würden". Aber Mathieu Denis ist ein feiner, zurückhaltender Mensch, der geduldig zuhört, als ich ihm entgegne, dass man die FLQ und den IS nicht miteinander vergleichen kann, dass es im Kanada der 60er-Jahre noch kein Internet und keine sozialen Medien gab, und auch noch keine Rekrutierungsvideos, in der junge Menschen über solche Faktoren wie Coolness angesprochen werden. Warum also diese Parallele?
"Ich hatte einfach Lust, das Thema nicht allein aus einem politischen Blickwinkel anzugehen. Ich hatte Lust, die ganzen Faktoren, Wirkweisen und Motivationen als Geflecht darzustellen, als komplexes Gebilde. Weg von diesem Kausalitätsdenken, weg davon, dass eine Sache nur einen Auslöser hat. Das Geschehen wird von einer ganzen Reihe von Dingen ausgelöst."
Entscheidender Einfluss von Gesten und Zurückweisungen
Das klingt schon besser, plausibler. Und das gibt der Film auch her. Ganz aufgeräumt und klar nimmt er uns mit auf die Stationen dieser Jugend: der Vater Italiener, die Mutter aus Quebec. Ein Außenseiter auf der Suche nach sich selbst, aber auch ein hochempfindlicher Charakter, der dort Probleme und Konflikte sieht, wo sie seine Umwelt beim besten Willen nicht erkennen kann – das ist wohl der stärkste Zug des Films. Die Sehnsucht, richtige Freunde zu haben, die Sehnsucht, akzeptiert und gebraucht zu werden. Und dann: die kleinen Zurückweisungen, die für uns Betrachter völlig undramatisch wirken, Corbo aber schließlich in die Radikalität treiben.
"Nun, ich denke, das Interessante ist, dass wir dem Jungen an dem Punkt begegnen, an dem sich seine Identität manifestiert. Jean ist 16 Jahre alt, eine Zeit, in der man zu versuchen versteht, wer man ist. Und für Jean ist es besonders schwer, dies zu verstehen: Er, der Immigrantensohn, hat andere Wurzeln, und er muss seinen Platz, seine Rolle finden. Und das ist es, was Jean zu tun versucht im Verlauf des Films."
Ein anderer Film, ein anderer Ansatz, aber ein ähnliches Thema: "Une jeunesse allemande" des französisches Regisseurs Jean-Gabriel Périot: Ein anderthalbstündiger Bilderbogen, dessen Stärke daron liegt, dass er diese schwabbelige Prada-Meinhof-Ästhetisierung, die man hierzulande diesem Thema oft angedeihen lässt, völlig hinter sich lässt. Stattdessen: ein distanzierter Blick von außen, grobkörnige Filmsequenzen, ohne Kommentar, ohne alles, die den Weg der Studentenbewegung in die Radikalisierung zeigen. "Muster" und "Chiffren" erklären beide Filme nicht. Aber sie machen deutlich, dass Lebenswege von Zufällen und Visionen, von großen Gesten und kleinen Zurückweisungen entscheidend beeinflusst werden können.