Jury-Preise beim 72. Filmfestival in Venedig

Goldener Löwe geht überraschend an Spielfim-Debütanten

Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas mit dem Goldenen Löwen für sein Liebesdrama "Desde allá" (dt. "Von dort") auf der Preisverleihung der 72. Filmfestspiele in Venedig.
Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas mit dem Goldenen Löwen für sein Liebesdrama "Desde allá" (dt. "Von dort") auf der Preisverleihung der 72. Filmfestspiele in Venedig. © picture alliance / dpa / Claudio Onorati
Von Peter Claus · 13.09.2015
Mit dem Goldenen Löwen für das Spielfilm-Debüt "Von dort" des Venezolaners Lorenzo Vigas richtet sich der Wettbewerb in Venedig konsequent auf neue Talente aus. Die Jury zeichnete durchweg ein engagiertes Kino für Zuschauer aus, die sich herausfordern lassen wollen.
Keine Ausnahme in Venedig. Auch zum Abschluss der 72. Mostra internazionale d'arte cinematografica sorgte die Jury für Überraschungen. Die größte: die Vergabe des Hauptpreises, des Goldenen Löwen, verkündet vom Jury-Präsidenten selbst, von Regisseur Alfonso Cuarón aus Mexiko.
"Desde allá", zu deutsch: "Von dort", des Venezolaners Lorenzo Vigas erzählt, ganz leise, unspektakulär, eine komplizierte Lovestory zwischen einem 50- und einem 17-Jährigen. Dem Film gelingt es, über die Spiegelung von Privatem ein facettenreiches Gesellschaftsbild zu zeichnen. Die Entscheidung der Jury, diesem Film den Goldenen Löwen zu geben, zeugt von Konsequenz. Sie entsprach damit nämlich der Ausrichtung des Wettbewerbs auf neue Talente: "Desde allá" ist der erste abendfüllende Spielfilm von Regisseur Lorenzo Vigas.
Konsequent auch der Preis für die beste Regie an einen Lateinamerikaner, an Pablo Trapero aus Argentinien für seinen Thriller "El Clan". Trapero blickt zurück in die 1980er-Jahre, die Zeit des Wandels von der Militärdiktatur zur Demokratie in seiner Heimat. Der Film zielt mit dem Blick zurück deutlich aufs Heute, da in Argentinien eine starke Diskussion um notwendige politische Reformen zur Zerstörung des Geflechts aus Politik, Wirtschaft und Verbrechen im Gang ist. "El Clan" gehört damit zu den vielen Filmen des diesjährigen Wettbewerbs die in die Vergangenheit schauen, um die Gegenwart zu erkunden.
Suche nach Regeln für menschliches Miteinander
Der Israeli Amos Gitai, Regisseur des von der Jury leider übergangenen Essays "Rabin, the last day", gab in Venedig ein Statement, das typisch für diesen Festivaljahrgang ist: "Wenn die Gegenwart dunkel ist, müssen wir zurückblicken, um Regeln für die Zukunft zu finden."
Die Suche nach Regeln des menschlichen Miteinanders prägt alle Filme, die von der Jury mit Ehren bedacht worden sind, "Abluka", "Blockkade", aus der Türkei, eine mit dem Spezialpreis bedachte düstere Sozialstudie, "Anomalisa", ein stilistisch verblüffender US-amerikanischer Puppentrickfilm voller Zorn über die zunehmende totale Uniformität in der so genannten westlichen Welt, ausgezeichnet mit dem Großen Preis, und auch die Filme, deren Hauptdarsteller ausgezeichnet worden sind: die Italienerin Valeria Golino in "Per amor vostro", "Deinetwegen", und der Franzose Patrice Luchini in "Der Hermelin".
Und noch ein Grund, warum man der Jury gern Beifall zollt: Die Preise feiern durchweg ein Kino für Erwachsene, für Leute, die ihren Geist nicht an der Kasse abgeben, die Lust haben, sich von Kunst herausfordern zu lassen, zu ihren eigenen Ansichten, zu sich selbst zu stehen – so wie Charlie Kaufman, einer der zwei Regisseure von "Anomalisa", der bewusst jede Erklärung verweigert, weil jeder das Recht hat, sich einen Film zu seinem Film zu machen: "Ich erkläre nichts. Denn das würde ja nur Ihre Meinung entwerten, die genauso viel wert ist wie meine."
Da kann man nur sagen: "Gut gebrüllt, Löwe"!
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