Jule Wild: "It was snowing outside (and it took her two days to notice)"
Eigensinn Publishing, Leipzig 2021
176 Seiten, 25 Euro
Jule Wild: "It was snowing outside (and it took her two days to notice)"
Ein Buch, das man nur achtsam öffnen möchte: Jule Wilds Fotobuch ist in ausgefranste Leinen gebunden, der Umschlag wirkt fragil. © Jule Wild
Ein wunderbar feinfühliges Fotobuch
07:04 Minuten
Die junge Fotografin Jule Wild hat das Leben der Menschen auf der Krim fotografiert. Mit ihren Bildern gelingt ihr ein feinfühliger Einblick in die Lebensverhältnisse. Unsere Rezensentin ist sehr angetan von diesem klug und wohlüberlegten Buch.
Dieses Fotobuch erzählt von jungen Menschen aus der Ukraine. Ein Land, das nach der Annexion der Krim durch Russland und dem anschließenden Krieg zeitweilig die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zog, über das jetzt aber kaum mehr berichtet wird.
Die junge Leipziger Fotografin Jule Wild reiste im April 2019 erstmals dorthin. Zwei weitere Reisen folgten und jetzt liegt „It was snowing outside (and it took her two days to notice)“ vor. Ein in ausgefranste Leinen gebundenes DIN-A5-großes Buch, das einem sofort ins Auge fällt: der zerfledderte Umschlag wirkt fragil. Die mit Siebdruck gemachte Überschrift droht mit jedem Faden, der sich löst, weiter zu verschwinden.
Der Alltag junger Frauen und Männer
So stellt sich schon beim Öffnen des Buches, das hier mehr einem Auswickeln gleicht, eine gewisse Vorsicht ein: Auf keinen Fall will man den Stoff weiter beschädigen. Man ist achtsam, geduldig und neugierig.
Klug ist das und wohl überlegt. Der Umschlag nimmt vorweg, was Fotografin Jule Wild, deren Abschlussarbeit dieses Buch ist, selbst erlebt hat auf ihrer Reise.
Immer wieder hat Jule Wild die jungen Frauen und Männer getroffen, hat sie begleitete in ihrem prekären Alltag, auf ihren Ausflügen und Partys. Olena etwa oder Vitali. Beide tauchen auf den insgesamt 88 Bildern immer wieder auf.
Gleich auf dem ersten Foto sieht man Olena: graues T-Shirt, die Haare lose zusammengebunden – eine junge Frau kurz nach dem Aufstehen, deren Gesicht halb in der Sonne, halb im Schatten liegt. Sie schaut an der Kamera vorbei. Es könnte ein Schnappschuss sein, doch dafür stimmt die Schattierung zu perfekt. Das Bild transportiert so alles auf einmal: Nähe und das Gefühl der Erwartung für diesen Tag, für das, was kommt.
Strahlend warm und doch altmodisch
Jule Wild fotografiert Straßen im Morgennebel und bei Nacht, ungemachte Betten in Wohnungen, an deren Wänden Teppiche und Ikonen hängen, junge Menschen beim Feiern, in rot erleuchteten Wohnräumen und vor seltsam altmodischen Tapeten mit Blümchenmustern oder in Küchen, an deren Wänden die Rohre unverputzt liegen.
Bis auf wenige Bilder, jedes doppelseitig abgebildet, sind alle farbig. Doch scheint über ihnen eine Art Filter zu liegen, der ihnen einen strahlend warmen und doch altmodischen Ton verleiht. So als wäre die Zukunft schon die Vergangenheit.
Auf einem anderen Bild sieht man Vitali auf dem Boden auf einer Isomatte sitzen. Es ist die Wohnung seiner Großmutter, in der es kaum Möbel gibt. Außer einem alten Regal erkennt man nur eine Lichterkette an der Wand. Trist wirkt das, aussichtslos.
Wenig später liest man, in einem der wenigen, mit schwarzem Fineliner notierten, tagebuchartigen Texte, dass Olena sich immer freut, junge Menschen zu sehen. Sie seien „so freudig gespannt auf das Leben, alles sei neu für sie, die Universität, die Liebe“. Sagt eine, die selbst nicht älter als Anfang 20 ist.
Die Zukunft liegt unter einem Schleier
Der Satz steht sinnbildlich für die Stimmung in diesem feinen und gut beobachteten Fotobuch. Denn egal, wo die jungen Menschen leben, ob in Lviv, Kyiv, Druzhba und Lyssytschansk, wo Jule Wild sie getroffen hat: Ihre Zukunft, die eigentlich strahlend und aufregend sein soll, liegt unter einem Schleier, einer Last, die der immer wieder aufwogende Krieg im Osten über ihr Land legt.
„It was snowing outside (and it took her two days to notice)“ ist ein wunderbar feinfühliges Fotobuch, das mitnimmt in eine Welt, die nicht oft abgebildet wird, die wir uns nur anschauen, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. Jule Wilds Bilder zeigen, wie falsch das ist.