Zweite Chance Pflegefamilie

Die Herausforderung, nicht bei leiblichen Eltern aufzuwachsen

29:59 Minuten
Abstrakte Illustration einer Familie, die nur aus Kreisen gezeichnet ist
Gut 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen, leben im Jahr 2020 in einer Pflegefamilie. © Getty Images / Tomozina
Von Katharina Mild · 25.07.2022
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Eine Pflegefamilie bietet Sicherheit, Struktur und Geborgenheit. Aber fremde Menschen als neue Eltern zu akzeptieren, kann Pflegekindern schwerfallen. Wenn intakte Beziehungen gelingen, kann aus einer belasteten eine chancenreiche Kindheit werden.
Alle 13 Minuten muss laut Statistik in Deutschland ein Kind seine Familie verlassen, weil es dort vernachlässigt oder misshandelt wird. Immer mehr dieser Kinder wachsen in Pflegefamilien auf. Mit gutem Grund: Hier können Kinder Sicherheit, Struktur und Geborgenheit erleben und lernen, wie sich gesunde Beziehungen in einer Familie anfühlen.
Doch nicht immer gelingt das. Fremde Menschen als neue Eltern akzeptieren, Bindungen aufbauen, Wunden heilen lassen – all das fällt besonders schwer, wenn Kinder traumatisiert sind.

Wie können Pflegebeziehungen gelingen?

Das Feature erzählt von erwachsen gewordenen Pflegekindern, von gelungenen und weniger gelungenen Beziehungen, von Traumata, die bis heute nachwirken, von Jugendämtern, die ihre Arbeit nicht machen und anderen, die es tun.
Es gibt einen Einblick in die Frage, wie Pflegebeziehungen gelingen können, welche Rolle eine gute Begleitung von Pflegefamilien und die konstruktive Zusammenarbeit von Pflege- und leiblichen Eltern spielen.

Für mich war das immer ein krasses Ohnmachtsgefühl, da zu sitzen und eigentlich mit einer fremden Fachkraft über mein Leben zu reden. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich so mitbestimmen konnte, sondern eher, dass ich mich so anpassen muss, dass meine Jugendhilfe bestmöglich verlängert wird.

Lea

Also ich bin auf die Welt gekommen, und ich bin ein bisschen zu früh auf die Welt gekommen. Und dann ist meine Mutter schon zwei oder drei Monate untergetaucht. Also, die hatte dann keinen Bock mehr, weil ich musste ja noch ein bisschen im Krankenhaus liegen, weil ich hatte dann irgendwie Loch im Herzen und musste also ein bisschen da unter Beobachtung bleiben. Und dann ist sie schon abgehauen.

Jasmin

Ich habe es mir gewünscht, tatsächlich, dass ich irgendwann da rausgehe. Weil ich gedacht habe, das kann es jetzt nicht sein. Also es kann jetzt nicht den Rest meines Lebens so weitergehen. Und irgendwie muss da doch etwas passieren.

Hannah

Zum Schutz der betroffenen Personen und ihrer Angehörigen sind in diesem Feature die Namen aller ehemaligen Pflegekinder und Pflegeeltern geändert worden.

Bürgerliches Gesetzbuch, § 1631, Absatz 2:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

„Ich habe viele Lügengeschichten erzählt“

„In der Schule ist es natürlich sehr klar aufgefallen, dass da irgendetwas nicht in Ordnung ist“, erzählt Hannah. „Ich habe viele Lügengeschichten erzählt, es war jetzt auch nicht so, dass wir immer adäquat gekleidet waren, entweder den Jahreszeiten nicht passend gekleidet oder nicht ganz sauber. Und es ist halt leider auch so Fakt, dass meine Mutter ein sehr bekanntes Kind im Dorf ist, war, ist. Also dementsprechend war das, glaube ich, hat es nicht lange gedauert, bis dann irgendwann mal tatsächlich eine Reißleine gezogen worden ist.“
Hannahs Mutter ist Alkoholikerin. Mit der Betreuung und Erziehung ihrer drei Kinder ist sie überfordert. Neben Hannah gibt es noch einen älteren und einen jüngeren Bruder. Als die Fachkraft vom Jugendamt die Familie das erste Mal besucht, ist der Vater schon einige Jahre abgetaucht. Eine Mutter mit Alkoholproblem, ein Vater im Ausland – Hannah, damals sieben Jahre alt, dazwischen.
„Also, da war ich halt natürlich hoffnungslos überfordert. Ich bin Einkaufen gefahren, mit dem Damenrad meiner Mutter und dem Kindersitz vorne dran. Ich habe versucht, meinem kleinen Bruder die Windeln zu wechseln. Meinen Bruder zu baden, das habe ich dann auch versucht. Also ich habe immer versucht, das so darzustellen, dass zumindest nach außen hin alles in Ordnung ist“, erzählt Hannah.
Illustration einer Frau, die ein Kind auf dem Arm hält und es vor einer Person, die sie anschreit, schützt
Kinder werden aus ihren Ursprungsfamilien genommen, um sie zum Beispiel vor Gewalt zu schützen.© Getty Images / iStockphoto / Maria Ponomariova

Verzweifelter Wunsch nach Rettung

Der große Wunsch der 7-Jährigen: dass jemand kommt und sie und ihre Brüder rettet.
„Weil ich gedacht habe, das kann es jetzt nicht sein. Also es kann jetzt nicht den Rest meines Lebens so weitergehen. Irgendwie muss da doch etwas passieren. Da gab es verschiedene Szenarien. Unter anderem habe ich dann stark protestiert, dass ich unbedingt getauft werden wollte, weil ich habe in der Schule erfahren, es gibt da oben jemanden wohl im Himmel, irgendwie so, und dann wollte ich getauft werden und dachte, dann erhört er mich. Kurz darauf ist es dann tatsächlich so gewesen, dass das Jugendamt da war“, erinnert sich Hannah.

Sozialgesetzbuch VIII, § 8a, „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“:
„Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. […] Besteht eine dringende Gefahr […], so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.“

Im Jahr 2020 nehmen die deutschen Jugendämter rund 45.000 Kinder und Jugendliche in Obhut. Diese Maßnahme ist erst einmal vorläufig und dient dem schnellen Schutz in einer akuten Notsituation. Das Jugendamt kann hierbei auch gegen den Willen der Eltern handeln, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen besteht.

Die Obhut – vorläufiger Schutz der Kinder

Inobhutnahme – das heißt, die Kinder kommen erst einmal in ein Heim oder eine Übergangspflegefamilie. Hier sollen sie einen Schutzraum mit übersichtlichen und stabilen Strukturen und Menschen finden, die sich mit ihrer besonderen Situation auskennen.
Auch Hannah und ihre Brüder leben zunächst in Übergangspflegefamilien. Weil es keine Aussicht auf Besserung der Situation ihrer Mutter gibt, werden die Kinder nach einigen Wochen getrennt in verschiedene Vollzeitpflegefamilien vermittelt.

Sozialgesetzbuch VIII, § 33, Vollzeitpflege:
„Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll [...] Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten.“

Die Vollzeitpflege ist eine Form der längerfristigen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie. Gut 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen, leben im Jahr 2020 in einer solchen Pflegefamilie – das sind fast 90.000 Kinder. 127.000 Kinder werden in einer pädagogischen Einrichtung, also in einer Wohngruppe oder in einem Heim, betreut.

Die Pflegefamilie bietet Verlässlichkeit

Kinder und Jugendliche mit schwierigen Biografien haben den Wissenschaftler Klaus Wolf schon immer interessiert. Viele Jahre hat er an der Universität Siegen gelehrt und geforscht – vor allem zu Pflegefamilien und Pflegekindern.
Inzwischen ist er emeritierter Professor für Sozialpädagogik und überzeugt: Besonders für Babys und jüngere Kinder bieten Pflegefamilien viele Vorteile. Sie brauchen eine verlässliche Bezugsperson. Die finden sie in Pflegefamilien eher als in einer Wohngruppe oder einem Heim mit wechselndem Personal, das im Schichtdienst arbeitet.
„Also das ist auch nicht automatisch. Aber die Pflegeeltern und die Kinder haben eine große Chance, eine sehr elementare Eltern-Kind-Beziehung dort zu entwickeln“, sagt Klaus Wolf. „Das ist für viele Kinder eben dann also ein Riesenvorteil. Ich war oft total fasziniert, welche Entwicklungsrückschritte und Belastungen Kinder relativieren konnten, wenn sie dauerhaft in einer Pflegefamilie aufwachsen konnten.“
Soweit möglich, dürfen die Kinder und Jugendlichen über ihre Pflegefamilie mitentschieden.

„Mir war klar, die nehme ich“

Hannah erinnert sich noch daran: „Das war dieses Pflegeeltern-Casting, so habe ich das immer überall beschrieben und das war wirklich so. Ich hatte eigentlich schon meinen Geburtstag geplant und ich hatte schon meine ganzen Einladungskarten geschrieben. Dann kamen halt meine beiden Eltern, also Pflegeeltern, dann dahin und haben sich auf die Bank gesetzt und haben sich vorgestellt und so weiter. Mir war klar, die nehme ich. Das sind meine, die finde ich gut, die finde ich cool. Die sind so freundlich, die lächeln mich an. Die sind cool.“
Wie Hannah ist auch Jasmin den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Heute ist sie Mitte 30 und selbst Mutter einer kleinen Tochter. Von ihrer leiblichen Mutter wird Jasmin als Baby getrennt. Sie kann sich nicht daran erinnern. Zum Glück, sagt sie.
Als 18-Jährige erfährt sie aus den Akten des Jugendamtes, was vorgefallen war: „Ich dachte, solche Geschichten gibt es irgendwie nur im Film und im Fernsehen, dass da wirklich alle zwei Wochen die Polizei die Haustür aufbricht und die Nachbarn mich da rausholen, um mir heimlich Essen zu geben. Informationen, was mir nicht erzählt wurde, um mich zu schützen.

Die wollten ja auch nicht alles schlecht reden, sondern die haben einfach gesagt: Es ist so, wie es ist, dass das halt mit den Drogen so war und dass man nicht mehr auf mich aufpassen konnte. Damit hätte man eigentlich das Thema auch schließen können. Das wäre viel einfacher gewesen, weil in diesen Akten steht es dann als schwarz auf weiß und sehr detailliert, was passiert ist. Und das, nein, das muss man nicht haben.

Jasmin

Jasmins leibliche Mutter ist damals drogenabhängig und verdient ihr Geld als Prostituierte. Ihr leiblicher Vater ist der Zuhälter. Als Kleinstkind lebt Jasmin abwechselnd bei ihrer leiblichen Mutter und einer Übergangspflegefamilie. Manchmal taucht ihre Mutter ab, ist nicht auffindbar.

„Ich glaube an Wahlverwandtschaften“

Mit vier Jahren kommt das Kind dann zu Susanne und Andreas Hanke: den beiden Menschen, die sie heute ihre Eltern nennt. Susanne ist Sozialarbeiterin, Andreas Ingenieur. Sie haben damals bereits eine leibliche Tochter, elf Jahre alt. Sie wünscht sich ein Geschwisterchen.
„Wir hatten das auch so zurückgestellt, weil mein Mann hat relativ spät studiert, erst mit 30, hatte vorher eine Ausbildung gemacht, und dann ist das ja immer so ein bisschen schwierig, auch finanziell“, erzählt Susanne Hanke. „Dann überlegt man, ob man das überhaupt schafft. Aber die Idee, die ist eigentlich auch schon vorher gewesen, weil bei mir war das immer so – ich habe früher in der Kita gearbeitet – dass ich an Wahlverwandtschaften glaube, dass ich immer gedacht habe, man kann auch jemand lieben, den man nicht bekommen hat.“
Vor rund 30 Jahren meldet sich das Ehepaar beim Jugendamt, das überprüft, ob die beiden als Pflegeeltern infrage kommen. Dann wird ihnen Jasmin vorgeschlagen. Mehrere Besuche folgen, bis feststeht: Familie und Kind passen zusammen. Jasmin soll bei den Hankes aufwachsen. Die Eingewöhnung – sagen sie heute – war sehr einfach.
Mit den Päckchen aus Jasmins Vergangenheit können die Pflegeeltern umgehen.
„Ich hatte immer Angst, gehauen zu werden, weggesperrt zu werden, oder dass irgendetwas passiert“, erzählt Jasmin. „Ich habe das Teppichmesser von meinem Papa heimlich genommen und damit rumgespielt und habe mir fast den halben Finger abgesägt und hatte aber so Angst, Ärger zu bekommen, dass ich mich versteckt habe. Solche Situation gab es am Anfang immer mal wieder und dadurch, dass ihr mir so viel Vertrauen gegeben hat, ist das irgendwann abgeklungen.“

Am Anfang habe ich mich immer abends auch noch mit hingelegt, weil sie nicht wusste, ob man nicht auch weggeht. Das war ja für sie immer so ein bisschen schwierig. Ich sehe sie da immer noch auf unserer Treppe oben stehen. Aber es hat sich dann relativ schnell reguliert, weil du hast ja auch gemerkt, wir gehen ja nicht einfach weg. Hätte ich ja nie gemacht.

Schlafen hat ja auch immer was mit sich fallen lassen zu tun. Und das kann man natürlich nicht, wenn man nicht weiß, bin ich wieder alleine, rufe ich meine Mama, und die ist nicht da.

Susanne Hanke

Regelmäßiger Besuch vom Jugendamt

Regelmäßig kommt die Sachbearbeiterin vom Jugendamt vorbei. Viel Unterstützung braucht die Familie darüber hinaus nicht, erinnert sich Susanne. Ihre pädagogische Ausbildung zahlt sich aus.

Sozialgesetzbuch VIII, § 37a, Beratung und Unterstützung der Pflegeperson:
„Die Pflegeperson hat vor der Aufnahme des Kindes oder des Jugendlichen und während der Dauer des Pflegeverhältnisses Anspruch auf Beratung und Unterstützung.“

Dass Pflegefamilien beraten und unterstützt werden, ist heute gesetzlich festgelegt. Wie diese Begleitung und vorher die Auswahl und Qualifikation der Pflegefamilien aussehen, entscheidet in Deutschland jede Kommune selbst, erklärt Wissenschaftler Klaus Wolf. Auch, wie viele Pflegekinder und –eltern eine Fachkraft betreut, legt die Kommune oder das Jugendamt fest.

Wir haben Kommunen kennengelernt, in denen eine Fachkraft auf einer vollen Stelle für weniger als 30 Pflegekinder zuständig war. So das ist eine ganz ordentliche Ausstattung. Damit kann sie regelmäßig den Kontakt halten, die Eltern und Pflegeeltern beraten. Und wir haben Kommunen kennengelernt, in denen eine Fachkraft für 180 Pflegekinder zuständig war.

So breit ist das Spektrum und alle Versuche, so bundesweit eine einheitliche Relation hinzukriegen, zu sagen das ist eine Mindestausstattung: Das ist jetzt mit dem neuen Gesetz auch noch mal gescheitert. Daran wollte die Politik sich nicht wagen.

Klaus Wolf

Klaus Wolf spricht hier vom „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“, einer Reform des Sozialgesetzbuches VIII, die vor rund einem Jahr, im Juni 2021, in Kraft getreten ist.

Der Wohnort hat maßgebliche Bedeutung

Wie Pflegefamilien und Pflegekinder vorbereitet und begleitet werden, hängt also maßgeblich davon ab, wo sie wohnen.
Beispiel Bremen: Hier hat man sich vor gut 20 Jahren entschieden, das Pflegekinderwesen aus dem Jugendamt auszugliedern und für die Qualifizierung und Begleitung von Pflegefamilien einen eigenen Fachdienst zu gründen: die gemeinnützige GmbH PiB – Pflegekinder in Bremen. Inzwischen vermittelt PiB Kinder in Vollzeit-, Übergangs- und Kurzzeitpflegefamilien.
Ein wichtiger Teil der Arbeit des Fachdienstes ist das Bildungszentrum. In Bremen sind Pflegeeltern verpflichtet, sich hier aus- und weiterzubilden. Die Grundqualifizierung streckt sich über ein Wochenende und vier Abende und klärt, ob man sich der Verantwortung für ein Pflegekind gewachsen fühlt.
Annelie Lamken arbeitet seit 15 Jahren für PiB und leitet das Bildungszentrum. „Die Motivation ist schon ein Schwerpunktthema: Wie ist jemand überhaupt auf diese verrückte Idee gekommen, dass er gerne ein Pflegekind aufnehmen möchte? Weil wir davon ausgehen, dass die Motivation nachher im bestehenden Pflegeverhältnis eine große Rolle spielt“, erklärt sie.

Was uns auch sehr wichtig ist, ist dieser Bereich öffentliche Familie, wo es eben darum geht, inwieweit sind Pflegeeltern, Pflegefamilien, eine öffentliche Familie? Was gehört dazu? Welche Aufgaben gehören dann eben auch dazu? Einen Abend geht es um die Zusammenarbeit mit der Familie des Kindes.

Der spannendste Abend ist natürlich der letzte Abend. Da geht es um Erfahrungsaustausch. Wir laden aktive Pflegeeltern ein, die aus ihrem Alltag mit dem Pflegekind berichten.

Annelie Lamken

Manche Kommunen scheuen die Kosten

Auch während das Pflegekind in der Pflegefamilie lebt, besuchen die Pflegeeltern weitere Seminare - zum Beispiel zu kindlichen Ängsten, zur Pubertät oder auch zur Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern des Kindes. Außerdem gibt es Gruppen, in denen sich Pflegeeltern miteinander austauschen können und jede Pflegefamilie wird von einer Fachkraft des Fachdienstes begleitet und regelmäßig beraten.
Illustration eines Mannes, der liebevoll ein Mädchen auf dem Arm trägt
Für Babys und jüngere Kinder bieten Pflegefamilien viele Vorteile, ist der emeritierte Professor Klaus Wolf überzeugt.© Getty Images / iStockphoto / Maria Ponomariova
So eine Begleitung kostet. Manche Kommunen lassen sich von diesen Kosten abschrecken, meint Wissenschaftler Klaus Wolf. Obwohl es sich am Ende für alle – Kinder, Eltern und Kommunen lohnt – in Pflegefamilien statt in Heime zu investieren.
„Das ist auch eine häufige Aussage, dass sie sagen, ja schön und gut, aber wir finden gar keine Pflegefamilien. Da würden wir sie als Forschende fragen. Ja, wo und wie sucht ihr denn Pflegefamilien? Da gibt es Ämter, die, sagen wir mal, sehr enge Vorstellungen von geeigneten Familien haben“, erklärt Klaus Wolf.
„Die dürfen nicht zu alt und nicht zu jung sein. Die müssen in abgesicherten materiellen Verhältnissen leben. Deren Gesundheitssituation überprüfen wir genau. Die müssen ein sehr konventionelles Familienleben realisieren. So und dann wird die Auswahl natürlich geringer, wenn man die Maßstäbe so setzt“, beschreibt er die Folgen.

Vereinbarungen und Entwicklungen werden dokumentiert

Für Kinder und Jugendliche, die in Pflegefamilien leben, erstellt das Jugendamt einen sogenannten Hilfeplan. Darin werden alle Vereinbarungen und Entwicklungen festgehalten, die die Unterbringung des Kindes betreffen. Mindestens einmal jährlich muss es ein sogenanntes „Hilfeplangespräch“ mit allen Beteiligten geben. Das sind - neben dem Jugendamt - die Pflegeeltern, das Kind selbst, wenn es alt genug ist, und die leiblichen Eltern oder der gesetzliche Vormund des Kindes.
Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen sei enorm wichtig, sagt Klaus Wolf: „Wenn sie da das Gefühl haben, die hören mir gar nicht richtig zu, die behandeln mich so nach dem Motto: Das verstehst du noch nicht und da bist du noch zu klein für und das kannst du gar nicht beurteilen. Dann haben Sie das Gefühl, dass da mächtige Instanzen wieder mal in ihrem Leben bestimmen. Auch wenn das unter der Überschrift Schutz erfolgt, ist es nicht etwas, das sie beruhigt.“
Die Reform des Sozialgesetzbuches VIII im Jahr 2021 hat die Beteiligung von jungen Menschen noch einmal gestärkt – durch Ombudsstellen als externe und unabhängige Anlaufstellen, durch erweiterte Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen und in Pflegefamilien und einen uneingeschränkten eigenen Beratungsanspruch – für Kinder ohne ihre Eltern.

Als Teenager zur Pflegemutter – auf eigenen Wunsch

Lea kommt erst recht spät – im Alter von 15 Jahren – zu ihrer Pflegemutter. Auf eigenen Wunsch. Ihre Mutter ist alkoholkrank, der getrenntlebende Vater ist ihr unheimlich. Lange fängt Leas ältere Schwester die Situation zu Hause auf, kümmert sich viel um Lea. Als die Schwester auszieht, geht es zu Hause irgendwann nicht mehr. Lea geht zum Jugendamt und bittet um eine Pflegefamilie.
Im Laufe der Zeit fühlt Lea ihre Bedürfnisse immer weniger berücksichtigt. Auch als sich die Probleme mit der Pflegemutter häufen. Die jährlichen Hilfeplangespräche empfindet sie nicht als Hilfe. Sie muss Fortschritte vorweisen, gleichzeitig aber zeigen, dass sie weiterhin Unterstützung benötigt.
„Dann braucht man irgendetwas, zum Beispiel Nachhilfe. Dann sagen die: Aber deine Noten sind ja noch gut genug und versuche es doch mal ohne, weil das ist ja auch schon wieder Geld“, erzählt sie. „Es war, irgendwie immer ein bisschen so, als müsste ich die Balance finden. Zwischen: Ich brauche noch Hilfe, aber ich mache auch Sachen gut. Da musste ich immer so die Mitte finden, dass es nicht aus dem Gleichgewicht kommt, dass die nicht sagen: Guck mal, das geht doch schon alles, dann!“
Und zwar in die Selbständigkeit. Denn eigentlich endet mit dem 18. Geburtstag die Jugendhilfe und damit auch die finanzielle Unterstützung, die Pflegeeltern erhalten – das sogenannte Pflegegeld, etwas mehr als 1000 Euro pro Monat. Fällt das weg, können es sich viele Pflegefamilien schlichtweg nicht leisten, einen jungen Erwachsenen weiter bei sich wohnen zu lassen.

Jugendhilfe endet mit der Volljährigkeit

Fatal, meint Sozialpädagoge Wolf: „Andere junge Leute bleiben immer länger in ihrer Herkunftsfamilie, leben auch als junge Erwachsene dort und nutzen die Ressourcen. Und diejenigen, die es besonders holprig im Leben hatten, denen nehmen wir sie schlagartig mit 18, das ist doch richtig verrückt.“
Auch bei Lea droht mit 18 das Ende der Hilfen. Damals steht sie kurz vor dem Abitur. „Es ist ja in der Jugendhilfe so, dass viele wissen, dass dieser Brief kommt, und ich wusste auch, dass dieser Brief kommt. Ich hatte einfach total Angst davor, weil ich wusste, mit mir wird schon wieder anders umgegangen als mit allen Gleichaltrigen“, erzählt sie.
Das Jugendamt erklärt, dass die Jugendhilfe nur im Fall einer „Seelischen Behinderung“ fortgesetzt wird.

Dann musste ich ein Gutachten machen. Das ging so zwei, zweieinhalb Stunden, und die haben dann quasi bestimmt, dass ich eine seelische Behinderung habe. Das heißt, dass ich mich nicht auf dem Entwicklungsstand meiner gleichaltrigen Menschen befinde, sondern viel davon abweiche oder so. Irgendwie so etwas steht dann da drin.

Lea

Lea fühlt sich nicht „behindert“, merkt aber, dass sie andere Probleme als Gleichaltrige hat, fühlt sich weniger belastbar und auf die Jugendhilfe nach dem 18. Geburtstag angewiesen. Sich wieder an ihre leiblichen Eltern zu wenden, ist keine Option.

SGB VIII, § 37, Beratung und Unterstützung der Eltern, Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie:
Eltern haben „einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung sowie Förderung der Beziehung zu ihrem Kind.“

Die leibliche Familie spielt weiter eine Rolle

„Ein wichtiger Punkt ist, dass man nicht so tut – also weder die Pflegeeltern noch die sozialen Dienste – als ob die Kinder ihre Eltern einfach auf Dauer vergessen würden, wenn es ihnen in der Pflegefamilie gut geht. Sozusagen, das sind jetzt deine Eltern und die leiblichen Eltern, die spielen jetzt gar keine Rolle mehr. Das ist eine Lebenslüge“, sagt Klaus Wolf.
Die wird spätestens im Jugendalter zum Problem: Wenn alle Jugendlichen anfangen, sich mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen und sich abzunabeln, sagt Sozialpädagoge Wolf.

Einfach ist es sehr häufig nicht, aber wenn es dann doch gelingt, und die Eltern haben das Gefühl, die Pflegeeltern sind nett, also die wollen mich nicht einfach nur raushalten, sondern die begrüßen mich nett, wenn wir uns treffen, die haben einen herzlichen Kontakt, nicht nur zu dem Kind, und die sind nicht in so einem Rivalitätsverhältnis zu mir. Dann erleichtert das den Eltern sehr, sich mit der Kränkung zu versöhnen, dass ihr Kind nicht bei ihnen selber aufwächst.

Klaus Wolf

Bei Hannah, die als 7-Jährige mit ihren Brüdern von der alkoholkranken Mutter getrennt wird, war es so. Die Pflegeeltern bemühen sich jahrelang um eine gute Beziehung.
„Wie mein Papa das so schön sagt, die leibliche Familie sitzt mit am Tisch. Das ist einfach so und es gibt viele Dinge, die haben meine Pflegeeltern auch echt doof gefunden, die meine Mutter gemacht hat. Aber sie haben niemals vor mir es gewagt, sie irgendwie in den Dreck zu ziehen oder sie irgendwie schlecht darzustellen oder Sonstiges. Denn das steht denen nicht zu“, sagt Hannah.

Schatten über der guten Entwicklung

Klaus Wolf weiß, dass Pflegekinder häufig Verantwortung empfinden für ihre Eltern. „Die Kinder suchen die Schuld überwiegend bei sich selber und wenn sie merken, meiner Mutter, meinen Eltern geht es schlecht, weil ich hier in der Pflegefamilie lebe. So, dann ist ein Schatten über ihrer guten Situation in der Pflegefamilie und ihrer guten Entwicklung“, erklärt er.
Und weiter: „Dann haben sie das Gefühl, ich habe mich gerettet und den Preis bezahlen meine Eltern. Da kann die gute Entwicklung in der Pflegefamilie richtig unter einem Handicap stehen. Da reicht es nicht, ein paar gute Sprüche, du bist doch nicht für deine Eltern verantwortlich, sondern da müssen Sie richtig erleben, dass die Sorge um ihre Eltern von anderen mitgetragen wird und nicht bei ihnen als zentrale Verantwortliche verbleibt.“
Soweit das Ideal – weit entfernt von Jasmins Realität. Die Mutter taucht immer wieder ab oder erscheint nicht zu vereinbarten Terminen. Als Jasmin eine junge Erwachsene ist, erreicht sie ein Brief von ihr: Sie sei für das Leid ihrer Mutter verantwortlich gewesen. Heute – sagt Jasmin – hat sie das Kapitel geschlossen. Fast.

Ich habe nur relativ viel wieder an meine leibliche Mutter gedacht, als ich meine Tochter jetzt gekriegt habe, und da oft nachts mit ihr saß: Wenn sie Bauchschmerzen hatte oder sie geweint hat und ich sie trösten musste. Da habe ich mich immer gefragt, was kann einen Menschen im Leben so leiten, dass man sein Kind alleine zu Hause schreiend im Bett lässt?

Da werde ich wahrscheinlich auch nie eine Antwort drauf kriegen, außer dass der Drogencocktail einen so steuert, dass man sogar das eigene Kind irgendwie nicht versorgen will oder kann. Oder ich weiß es nicht. Aber es ist auch nicht schlimm, weil ich weiß einfach, dass ich selber das ein bisschen anders machen nicht muss, sondern werde. Das ist ja einfach eigentlich ein menschlicher Akt. Aber das war tatsächlich noch mal ein Zeitpunkt, wo ich daran gedacht habe.

Jasmin

Hannah, Jasmin und Lea sind als Pflegekinder erwachsen geworden. Alle drei sind dankbar für das, was ihnen gegeben wurde: eine zweite Chance in einer weniger belasteten Familie, die Möglichkeit, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und als Teil ihrer Identität zu begreifen und ein Recht auf Mitbestimmung ihrer Zukunft. Narben bleiben.

Ich würde nie jemanden blind vertrauen, das kann ich nicht. Das konnte ich auch noch nie. Und ich glaube, das liegt tatsächlich an meiner Vergangenheit. Das ist der einzige Punkt, wo ich sage, den schleppe ich bis heute mit mir rum.

Jasmin

Also ich habe schon das Gefühl, dass ich unsicherer geworden bin mit Menschen auch durch alles, was ich erlebt habe. Ich merke das auch an der Uni, dass alle irgendwie so voll schnell ihre Gruppen finden, und ich stehe manchmal so daneben und denke, wieso könnt ihr so schnell so gut befreundet sein, wie macht ihr das? Ich brauche halt superviel Zeit. Ich konnte mich ja nicht mal auf meine Eltern verlassen. Wie soll ich mich dann auf Leute verlassen, die quasi mir nicht verpflichtet sind?

Lea

Ich schaffe es immer irgendwie. Das ist das Einzige, was mich so antreibt, drinnen, dass ich weiß: Egal in welcher Scheiße ich stecke, ich finde schon irgendwie einen Weg da raus. Ich weiß noch nicht welchen jetzt, aber irgendwie schaffe ich das schon. Und trotzdem immer die Zweifel zu haben: Ich bin dann nicht stolz auf mich, ich kann nicht stolz auf mich sein.

Hannah

Autorin: Katharina Mild
Sprecher:
Timo Weisschnur und Markus Hoffmann
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Franziska Rattei

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