Jürgen Theobaldy: "Poesiealbum 368"

Dichter schaffen keine neue Welt

06:26 Minuten
Der Schriftsteller Jürgen Theobaldy schaut mit geneigtem Kopf in die Kamera.
© picture alliance / Keystone / Alessandro della Valle

Jürgen Theobaldy

Poesiealbum 368Märkischer Verlag , Wilhelmshorst 2022

33 Seiten

5,00 Euro

Von Helmut Böttiger · 20.06.2022
Audio herunterladen
Vor 50 Jahren waren seine Gedichte Kult. Heute lebt Jürgen Theobaldy zurückgezogen in Bern, veröffentlicht nur noch in Kleinverlagen. Seine neueren Gedichte lesen sich immer noch alltagsnah, aber anders. Jede Utopie fehlt.
Der 1944 geborene Jürgen Theobaldy war in den 70er-Jahren so etwas wie der Wortführer der deutschen Lyrik. Mit Essays wie „Das Gedicht im Handgemenge“ und seinem mittlerweile legendären Lyrikband „Blaue Flecken“ von 1974 stand er programmatisch für etwas, was der Schriftsteller Hugo Dittberner damals als „Neue Subjektivität“ definierte.
Theobaldy wollte die deutschsprachige Lyrik vom Muff aus Religion und Natur genauso befreien wie vom sogenannten „hohen Ton“. Es ging um den Blick auf den Alltag, beeinflusst von der amerikanischen Beat- und Pop-Lyrik.

Goethe gab Gas

In dem Auswahlband aus dem Gesamtwerk Theobaldys, das Hans Christoph Buch jetzt in der kleinen klammergehefteten und aus dem Erbe der DDR wiederbelebten Reihe „Poesiealbum“ herausgebracht hat, steht das berühmte Gedicht „Abenteuer mit Dichtung“ an erster Stelle. Es beschreibt eine Autofahrt mit Goethe, der auch mal Gas geben darf und dabei euphorisch ausruft: „Ins Freie!“ Dieser neue Ton wurde damals wie eine Befreiung empfunden.
Buch dokumentiert aber auch Texte Theobaldys, die direkt auf das politische Geschehen reagierten, wie „Ostern in Esslingen“, wo es um die Blockade der Auslieferung der „Bild“-Zeitung geht, oder sensible, kleine Gefühlsstudien wie „Zu Besuch“. 

Protokollschreiber im Parlament

Theobaldys Gedichte standen in allen Lesebüchern, doch er hat sich, im Gegensatz zu fast allen damals hervorgetretenen Generationskollegen, in den 80er-Jahren fast völlig zurückgezogen und führte eine fast Robert Walsersche Existenz als Protokollschreiber des Schweizer Parlaments in Bern.
Vor allem aber veröffentlichte er bald nicht mehr in großen Verlagen. Bewusst suchte er sich wieder jene alternativen Kleinverlage aus, die der Aufbruchstimmung seiner Frühzeit entsprachen. So erschien sein Band „Der Nachtbildsammler“ von 1992 in der entlegenen Kölner „Palmenpresse“, die auch schon Theobaldys Debüt „Sperrsitz“ von 1973 herausgebracht hatte, und er veröffentlichte in Verlagen wie demjenigen von Peter Engstler in Ostheim an der Rhön oder „Die Brotsuppe“ in Bern.

Einfachheit als Provokation

Der Sound der Alltagsgedichte der 70er-Jahre ist zwar bis heute zu spüren, aber Theobaldy hat ihn vielfältig variiert. „Der Nachtbildsammler“ etwa besticht durch lyrische Verdichtungen, die fast ans Hermetische grenzen, und durch Langgedichte, die sich formal sehr stark von den frühen Augenblicksskizzen unterscheiden.
In „Wilde Nelken“ von 2005 fällt die formale Reduktion auf bloße Vierzeiler auf. Und in „24 Stunden offen“ von 2006 glaubt man zunächst, sich wieder in den Wohngemeinschaften des alten Westberlin zu befinden, aber trotz der Wiederaufnahme des einfachen Sprechtons ist etwas anders geworden.
Die Einfachheit der Benennungen wirkt jetzt geradezu wie eine Provokation: Es verweist nichts mehr auf etwas anderes. Die vermeintliche Kunstlosigkeit, die Schlichtheit der neuesten Gedichte sind ein Ausdruck von Trauer, sie konstatieren das Fehlen jeglicher Utopie. Aber immer noch gibt es die Widerhaken der Poesie:
„Dichter schaffen keine neue Welt
Dichtung ist nicht befugt
Doch Fischer nehmen dich mit hinaus
in ihren Kuttern volle Netze“.  
Mehr zum Thema