Dan Diner: "Ein anderer Krieg"

Die Schicksalsschlacht von El Alamein

07:47 Minuten
Schwarzweißaufnahme in dramatischer Perspektive: Ein britischer Soldat stürmt einen Panzer, auf dem sich ein nur als Silhouette erkennbarer Soldat mit erhobenen Händen ergibt
1942, bei El Alamein: Ein deutscher Wehrmachtssoldat ergibt sich dem britischen Militär. © imago / United Archives
Von Carsten Dippel · 02.04.2021
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Der Historiker Dan Diner blickt in seiner neuen Studie aus einer besonderen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg. Er deutet die Schlachten im Nahen Osten aus Sicht des britischen Empire - und fördert damit überraschende Erkenntnisse zutage.
Die Front ist nur wenige Hundert Kilometer entfernt. Jüdische Pioniere verschanzen sich in den Hügeln des Carmel-Gebirge. Sie graben sich ein, bauen Verteidigungsanlagen. Während die Briten eilig Kisten packen, Jeeps und schweres Gerät verladen.
Die jüdischen Soldaten sind äußerst besorgt: Es ist Oktober 1942. Die Nationalsozialisten unter Rommel stehen in El Alamein, am Suez-Kanal. Die 8. Britische Armee hält gerade noch die Stellung. Es ist die letzte Verteidigungslinie.

Nationalsozialisten im Nahen Osten

Sollte das deutsche Afrikakorps durchdringen, stünden Hitlers Wehrmacht die Tore nach Palästina sperrangelweit offen. Panik macht sich unter der jüdischen Gemeinschaft im britischen Mandat Palästina breit, unter ihnen Tausende, die vor der Naziherrschaft in Europa geflohen waren.
Manche besorgen sich Zyankali, für den Fall der Fälle. "Suizid lag in der Luft", schreibt Dan Diner in seinem soeben erschienen Buch "Der andere Krieg":
"Eine toxische Melange aus Gerüchten und Tatsachen schlug sich auf den Gemütszustand der Menschen nieder und bestimmte ihr Handeln. Allein in Jerusalem, so wurde kolportiert, hätten Juden im Juni elf größere Gebäude und weitere Liegenschaften eiligst an Araber veräußert. Manche erbaten bei arabischen Freunden Schutz für ihre Kinder."

Ein welthistorischer Angelpunkt

In den meisten Darstellungen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges kommt der Nahe Osten bestenfalls am Rande vor. Dan Diner rückt die vermeintliche Peripherie hingegen ins Zentrum seiner Betrachtung.
Er deutet Palästina als einen welthistorischen Angelpunkt, in dem territorial viele Fäden zusammenlaufen: die eines globalen Krieges, der gewaltige logistische Anstrengungen bedarf.

Der jüdische Jischuw inmitten des Zweiten Weltkrieges

Vor allem für das British Empire, das diesen Krieg nicht nur in Europa, sondern auch im Mittleren und Fernen Osten führt. Diner entwirft eine Raumgeschichte des Krieges, ausgehend vom globalen Süden, der Southern British World.
Palästina fällt dabei geostrategisch eine Schlüsselrolle zu. Hier endet unter anderem die wichtige Öl-Pipeline aus dem Irak im eigens ausgebauten Hafen Haifa.
"Es galt, den Suezkanal zu schützen, die Ölfelder zu schützen und der Jischuw, die jüdische Gemeinschaft war genau in dem Bereich, um den ein großer imperialer Verteidigungsring gelegt worden war", erklärt Dan Diner im Gespräch.

Der Nahe Osten ist nur ein britisches Schlachtfeld von vielen

Die Raffinesse Diners Ansatzes liegt darin, den Blick auf den Zweiten Weltkrieg erheblich zu weiten. Man sieht, wie sehr die Politik Londons auf die Verteidigung des Empire ausgerichtet ist, auf die "Imperial Defence". Wie sich dem alles unterzuordnen hat.
Ein anschauliches Beispiel: Das Münchner Abkommen vom Oktober 1938, bei dem das Sudetenland dem Machthunger Hitlers geopfert wird, gilt gemeinhin als Tiefpunkt des britischen Appeasement. In den globalen Kontext gesetzt, rückt das Verhalten der Regierung Chamberlain in ein ganz anderes Licht.
Für einen Krieg in Europa ist das Vereinigte Königreich schlicht nicht gerüstet. Wichtige Truppenverbände haben mit der Niederschlagung des Arabischen Aufstandes in Palästina zu tun. Dort steht das Empire unter Druck.
"Es geht einfach darum, die Briten zu rehabilitieren", erklärt Diner weiter. "Wenn man den Blick vom Süden auf die Region wirft, dann hatten die Briten gar keine Wahl. Nur wenn man Großbritannien nur als europäische Macht versteht, fragt man sich, warum sie nicht mehr getan hat. Wenn man Großbritannien als imperiale Macht begreift, die im fernen Osten Probleme hat, die in Asien Probleme hat, die im Mittelmeer Probleme hat, begreift man überhaupt diese Konstellation. Die Briten waren überdehnt und ihre Macht war im Niedergang begriffen."

Alles hängt mit allem zusammen

Diners packende Darstellung einer Globalgeschichte des Krieges besticht mit seiner Detailfülle, den Farben und Bildern. Es erinnert in seiner Dramatik an "Lawrence of Arabia". Hier hängt alles mit allem zusammen.
Die Deutschen müssen daran gehindert werden, über den Kaukasus gen Süden vorzurücken. Dafür muss der Iran verteidigt werden. Über den wiederum läuft eine der wichtigsten Lebensadern der Sowjetunion, die von Briten und Amerikanern mit Panzern, Munition, Treibstoff über diesen "Persischen Korridor" versorgt werden.
Um das zu gewährleisten, muss der Indische Ozean – Diner nennt ihn das "britische Binnenmeer" – vor dem Zugriff Japans gewahrt bleiben.
Schließlich soll auch die muslimische Welt nicht in die Arme der Achsenmächte getrieben werden. Das zählt im Zweifel mehr als die Umsetzung jenes 1917 in der Balfour-Declaration gegebenen Versprechens, den Juden eine Heimstätte in Palästina zu ermöglichen.
"Das britische Empire begriff sich indirekt auch als muslimisches Empire", so Diner. "Das sahen viele Vertreter des Jischuw auch so und sie wussten ganz genau, auf welch dünnem Eis sich die britische Politik bewegt."

Der Schutz der iranischen Ölfelder stand über allem

Entscheidend seien nicht die Schlachten, sondern die Logistik und dadurch die Räume, sagt Dan Diner. Für den Schutz der immens wichtigen iranischen Ölfelder hätte London einen Verlust Ägyptens und Palästinas in Kauf genommen.
Großbritannien rechnet mit einem Sieg Rommels am Suezkanal, mit einem Vordringen der Wehrmacht durch den Kaukasus und trifft dafür bereits alle Vorkehrungen zum Rückzug. Wie dramatisch die Situation ist, wie sehr die Juden in Palästina in Gefahr sind, gerät jedoch bald in Vergessenheit.
Schließlich hat Montgomery mit seiner 8. Britischen Armee doch noch gegen Rommels Verbände gewonnen und Palästina vor dem Zugriff der Achsenmächte bewahrt. Das bestimmt auch die Wahrnehmung des Holocausts in Israel, der etwa in den Memoiren von Chaim Weizmann kaum Beachtung findet.

Erste Berichte über die Vernichtungslager in Polen

Ausgerechnet in das Aufatmen über den Sieg der Briten in El Alamein und der Rettung des Jischuw dringen, nur wenige Wochen später, detaillierte Berichte über die Vernichtungslager in Polen nach Palästina. Berichte, die schwer zu ertragen sind. Man habe das irgendwie zur Kenntnis genommen, es sich aber weder vorstellen können noch wollen, sagt Diner:
"Wenn Personen über ihre Familiengeschichte reden, sprechen sie davon, dass sich ihre Vorfahren, ihre Eltern oder sich selbst sich nach Palästina haben retten können. Aber Palästina hat ihnen keinen besonderen Schutz gegeben. Aber es war auch nicht vorstellbar, wenn die 8. Britische Armee – wenn es ihr nicht gelungen wäre Rommel aufzuhalten, dann wäre das Schicksal kein anderes gewesen als das in Osteuropa. Das ist schwer, psychisch schwer zu akzeptieren. Es ist fast wie eine Identitätskrise."

Das Ende des Empires ist Israels Anfang

Nach der Aufhebung der Verdunkelungspflicht im Frühjahr 1943 ist der unmittelbare Krieg für die Juden in Palästina vorbei. Nun geht es wieder um den – aus Sicht der zionistischen Führung – eigentlichen Kampf, den um die Besiedlung des Landes, um die Staatsgründung.
Alles andere, so Diner, rückt dafür in den Hintergrund.
Dan Diners anderer Blick auf den Zweiten Weltkrieg ist auch eine Geschichte des niedergehenden British Empire und der beginnenden Dekolonisierung. Vor allem aber hilft er zu verstehen, weshalb der so existentiell bedrohliche Krieg für Palästina und die dort lebende jüdische Gemeinschaft aus der Erinnerung und Historiografie entschwunden ist.

Dan Diner: "Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935-1942"
DVA München 2021
352 Seiten, 34 Euro

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