Juan Gabriel Vásquez: "Die Reputation", Roman
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling & Co. 2016, 184 Seiten, 19,95 Euro
Die Macht der Karikatur
Die Hauptfigur des neuen Romans "Die Reputation" des kolumbianischen Schriftstellers Juan Gabriel Vásquez ist ein Karikaturist. Der 65-Jährige kann Politiker stürzen, wird verehrt oder gehasst. Tobias Wenzel hat den Autor in der Hauptstadt Bogotá besucht.
2010 im Zentrum Bogotás: Javier Mallarino, ein politischer Karikaturist im Roman "Die Reputation", lässt sich von einem Schuhputzer noch schnell seine Schuhe auf Hochglanz polieren, bevor er in einem Festakt für sein Lebenswerk geehrt wird.
Auszug aus dem Roman: "Er sah auf, (...) als suchte er etwas in seinem Gedächtnis, erblickte die hohen Gebäude, den ewig grauen Himmel, die Bäume, die seit Urzeiten den Asphalt aufbrachen, und hatte das Gefühl, er sähe alles zum ersten Mal. Da geschah es."
Mallarino glaubt seinen Karikaturisten-Kollegen Ricardo Rendón zu sehen. Der hat sich aber 79 Jahre zuvor in diesem Teil des Stadtzentrums das Leben genommen. So lässt Juan Gabriel Vásquez seinen hochspannenden, neuen Roman beginnen:
"Eines Tages im Jahr 1931 hat Rendón La Gran Vía, ein Café im Zentrum Bogotás, betreten, ein Bier bestellt und um ein Blatt Papier gebeten. Darauf hat er dann die Karikatur eines Mannes gezeichnet, der sich eine Kugel in den Kopf jagt. Und dann hat er sich selbst eine Kugel in den Kopf gejagt. Bis heute weiß man nicht, warum."
"Ich bin nicht mehr auf Verwandtschaftsfeiern eingeladen worden"
Rendón geistert zwar durch den Roman "Die Reputation", aber die Hauptfigur ist der fiktive 65jährige Javier Mallarino, der durch seine politischen Karikaturen zu einer ähnlichen Macht gelangt ist. Wie Rendón kann er Politiker stürzen, wird verehrt oder gehasst. Leser der kolumbianischen Meinungsseiten hätten noch heute ein ungesundes Verhältnis zu den Karikaturisten und Kolumnisten, die dort veröffentlichen, erzählt Juan Gabriel Vásquez in seinem Arbeitszimmer. Er selbst schreibt seit vielen Jahren politische Kolumnen:
"Wir Kolumnisten der großen kolumbianischen Medien haben alle schon Drohungen erhalten. Alle Karikaturisten bekommen regelmäßig Anrufe mächtiger Leute, die darum bitten oder die verlangen, nicht dies oder das zu zeichnen. Wegen meiner Kolumnen haben mir Freunde den Gruß verweigert und andere den Zutritt. Auch bin ich nicht mehr auf Verwandtschaftsfeiern eingeladen worden."
Diese Erfahrungen als Kolumnist hat Juan Gabriel Vásquez nun dem fiktiven Karikaturisten Javier Mallarino zugeschrieben. Im Arbeitszimmer des Autors hängt die gerahmte Zeichnung eines Mannes an der Wand:
"Das ist eine Karikatur, auf der Fernando Pessoa zu sehen ist. Ich mag sie sehr."
Im Roman starrt eine junge Frau wie gebannt auf eine Karikatur in Javier Mallarinos Haus. Samanta Leal behauptet, Mallarino interviewen zu wollen. Aber bald gibt sie zu, dass sie gar keine Journalistin ist, dass sie 28 Jahre zuvor während einer Party schon einmal in diesem Haus war, als kleines Mädchen, als Freundin von Mallarinos Tochter. Über diesen Abend, der ihr Leben traumatisch verändert hat, fragt sie Mallarino stundenlang aus und lässt ihn, als Karikaturisten und Menschen, plötzlich in einem anderen Licht erscheinen.
Auszug aus dem Roman: "'Alle unterbrachen wir im Wohnzimmer, was wir gerade taten. Die Gläser wurden auf den Tisch gestellt. Die Gespräche verstummten. Die Sitzenden standen auf. In meiner Erinnerung ging sogar die Musik aus, aber die Musik kann unmöglich genau in dem Moment ausgegangen sein, und dennoch habe ich es so im Gedächtnis: Die Musik ging aus. Das Gedächtnis ist zu derlei fähig, nicht wahr, das Gedächtnis stellt die Musik ab, verpasst Menschen Muttermale und verrückt die Häuser der Freunde.'"
Juan Gabriel Vásquez ist mit "Die Reputation" ein beachtlicher Roman gelungen, ein Buch über die Vergangenheit, die einen einholt, und die Macht und Verantwortung von Karikatur und Meinung.
Nicht an Bedrohungen denken
Mallarino bringt seine Familie in Sicherheit, als er einen Drohbrief erhält. Bleibt die Frage, wie Juan Gabriel Vásquez damit umgeht, wenn ihm als Reaktion auf eine politische Kolumne gedroht wird. Während des Interviews hört man manchmal seine Tochter in der Wohnung spielen:
"Darüber rede ich nicht mit meiner Familie. Von dem Augenblick an, in dem ich merken würde, dass ich mich selbst zensiere, würde ich auch keine Kolumnen mehr schreiben. Ich könnte nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn ich aus abstrakten Ängsten heraus, aus Dingen, die noch nicht geschehen sind, nicht mehr schriebe, was mir wichtig erscheint. Ich darf an solche Bedrohungen nicht denken. Das würde meine Arbeit verseuchen."