Joseph Melzer: "Ich habe neun Leben gelebt"

Die Schrecken eines Jahrhunderts

06:52 Minuten
Das Buchcover "Ich habe neun Leben gelebt" von Joseph Melzer ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"Ich habe neun Leben gelebt" von Joseph Melzer ist eine verdichtete Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. © Deutschlandradio / Westend
Von Catherine Newmark · 03.04.2021
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Sie umspannt alle Tragödien und ideologischen Verblendungen des 20. Jahrhunderts: Kurz vor seinem Tod im Jahr 1984 schrieb der jüdische Verleger Joseph Melzer seine Lebensgeschichte auf. Nun wurde sie erstmals veröffentlicht. Eine packende Lektüre.
Es ist 1969 und an der innerdeutschen Grenze verliert der Verleger Joseph Melzer nach langem Warten die Geduld. Hocherbost schreit er den diensthabenden Offizier an: "Ich habe die Nazis erlebt und auch die Kommunisten im Gulag in Sibirien überlebt, da werde ich doch keine Angst haben vor diesen armseligen deutschen Knechten des russischen Imperiums." Die Wut hat Wirkung – er wird durchgewinkt.
Nur eine Anekdote unter endlos vielen in den Lebenserinnerungen des Büchermenschen, Buchhändlers, Antiquars, Verlegers Joseph Melzer, die erst jetzt, fast 40 Jahre nach seinem Tod 1984, von seinem Sohn Abraham herausgegeben worden sind.
Diese Erinnerungen sind eine unglaublich eindrückliche und packende Lektüre. Joseph Melzer hat in der Tat fast alle Schrecken des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren, fast alle Ideologien der Zeit mitbekommen und furchtbare Grausamkeiten wie auch unerwartete Güte von Menschen erlebt. All das hat ihn offensichtlich weder den Ideologien noch den Menschen gegenüber duldsamer gemacht.

Ein ständiger Kampf ums Überleben

Melzers mindestens "neun Leben" sind fast alle geprägt vom Kampf ums physische wie ökonomische Überleben. 1907 wurde er in Kuty im damaligen Ostgalizien (heute Ukraine) geboren, mitten hinein in die alte, jüdische Schtetl-Welt, die er im goldenen Licht der fernen Kindheit erinnert.
Die Zerstörung dieser Welt beginnt 1914 mit dem Ersten Weltkrieg und der Zerschlagung der österreichischen Doppelmonarchie: Melzers Familie flieht nach Westen. Die durch den Krieg unterbrochene Schulbildung kann kaum nachgeholt werden.
Irgendwann landet er in Berlin, wo er mangels Geldes nicht über die vierte Klasse der Volkshochschule hinauskommt und bald vom Vater an die zionistischen Vereinigungen übergeben wird. Die bieten jungen, mittellosen (Ost-)Juden eine landwirtschaftliche Ausbildung in Vorbereitung des erhofften Aufbaus eines Lands Israel.

Von Palästina zurück nach Europa

Ins britische Mandatsgebiet Palästina gelangt er dann tatsächlich, allerdings erst 1933, nachdem er noch ein paar Jahre unter anderem als Publizist die wirtschaftliche Not und die sich zuspitzende ideologischer Polarisierung in Berlin miterlebt hat. Nach einer Rede von Adolf Hitler in einem Zirkuszelt muss er sich übergeben.
Aber auch für ihn gilt, wie für die meisten: "Es überstieg meine Vorstellungskraft, dass ein derartiger Politiker die Wahlen gewinnen und Reichskanzler werden könnte."
So unterirdisch er die Nazis findet, mit den Zionisten wird er auch nicht wirklich warm. In Palästina fühlt er sich unwohl, nicht zuletzt auch, weil ihm schon früh die sich abzeichnende Rücksichtslosigkeit gegenüber der arabischen Bevölkerung nicht behagt. 1936 kehrt er nach Europa zurück, schlägt sich nach Paris und daselbst als Buchhändler durch. So erfolgreich, dass er den ebenfalls aus Galizien stammenden, verarmten und schwer alkoholkranken Joseph Roth im Café du Dôme mit Sandwiches durchfüttern kann.

Die Lager und der Hunger des Krieges

Um seinen polnischen Pass und den daran hängenden Aufenthalt in Frankreich nicht zu verlieren, ist Melzer 1939 gezwungen nach Polen zurückzukehren. In Warschau erlebt er den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Versuch einer Flucht endet in sowjetischer Gefangenschaft und mit einer Verurteilung zu zehn Jahren Strafarbeit in Sibirien.
Nach zwei Jahren im Gulag wird er wie alle Polen freigelassen, um mit der polnischen Exilarmee Krieg gegen Deutschland zu führen. Dem Armeedienst entkommt er und schlägt sich nach Samarkand in Usbekistan durch. Dort verbringt er die letzten Kriegsjahre in bitterem Hunger, aber er heiratet auch und wird sogar Vater.
Nach dem Krieg ist er Teil der großen Fluchtbewegung überlebender osteuropäischer Juden: unter dem sich gerade senkenden eisernen Vorhang hindurch in die "Displaced-Persons"-Lager in Deutschland und Österreich. Im DP-Lager Admont in der Steiermark, das zwar immer noch ein Lager, aber im Vergleich zu allem Vorhergehenden fast ein "Paradies" ist, mit regem Kulturleben, in dem er sogar eine Zeitung herausgibt, wird sein zweites Kind geboren. Auf das Visum für das britische Mandatsgebiet Palästina wartet er so lange, dass es dann nicht mehr nötig ist, weil 1948 der Staat Israel geschaffen wird.

Buchhändler in Haifa, Verleger in Deutschland

In Haifa versucht sich Melzer wieder als Buchhändler zu etablieren, aber immer noch fremdelt er mit Israel. 1958 kehrt er – gegen den Widerstand seiner Ehefrau – nach Deutschland zurück und gründet seinen eigenen Verlag. Seiner Spezialisierung auf Judaica und vergessene jüdische Klassiker ist so kurz nach dem Nationalsozialismus kein Erfolg beschieden.
Auch den Umgang mit Deutschen beschreibt Melzer durchaus als schwierig – immer schwingt bei ihm die Frage mit, was denn der freundliche Arzt wohl vor 15 Jahren so gemacht hat im Leben.
Im Vergleich zu den in den 30er- und 40er-Jahren durchlittenen Qualen und Tragödien wirken dann die Rivalitäten und Streitigkeiten der Verlags- und Buchhändlerwelt der frühen Bundesrepublik, mit denen das Buch schließt, geradezu klein, auch wenn sie für Melzer natürlich auch immer wieder wirtschaftlich existenzbedrohend sind.

Nüchterne Erinnerungen von bleibendem Wert

Großer Erfolg oder Einfluss wird Joseph Melzer nie beschieden sein. Sein zeitweilig von seinem Sohn weitergeführter Verlag ist mittlerweile endgültig eingestellt worden. Sein Lebenswerk spielt in der intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik eine eher randständige Rolle.
Was Joseph Melzer uns allerdings mit seinen kühl-nüchternen Erinnerungen hinterlassen hat, wird von bleibendem historischen Wert sein. Es ist eine verdichtete Geschichte Europas im 20. Jahrhunderts, zusammengefasst aus dem Blick eines kritischen galizischen Juden, der dieses Jahrhundert erlebt und dessen Schrecken überlebt hat.

Joseph Melzer: "Ich habe neun Leben gelebt. Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert"
Westend Verlag, Frankfurt/Main 2021
336 Seiten, 24 Euro

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