Jörg Scheller: „(Un)Check Your Privilege“

Weniger Pauschalisierung – mehr Empirie!

06:03 Minuten
"(Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert" von Jörg Scheller
© Hirzel Verlag

Jörg Scheller

(Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindertHirzel Verlag, Stuttgart 2022

152 Seiten

19,90 Euro

Von Catherine Newmark · 11.01.2023
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Die Rede von kritisch zu hinterfragenden Privilegien bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ist zu allgemein, pauschal und schwammig geworden, meint der Kulturtheoretiker Jörg Scheller in seinem anregenden neuen Essay.
„Privilegien“ waren lange Zeit speziell verbriefte Sonderrechte, die Individuen oder Gruppen huldvoll von oben gewährt wurden. In den letzten Jahren ist der Begriff allerdings neu ausgerichtet und auch deutlich ausgeweitet worden und wird vor allem in progressiven Kreisen verwendet, um gesellschaftskritisch auf strukturelle Ungleichheiten hinzuweisen.
Darin liegt eine zunächst mal interessante Fokusverschiebung: nicht mehr die Diskriminierung von Gruppen wird in den Blick genommen, sondern umgekehrt die selbstverständliche und nicht hinterfragte Nicht-Diskriminierung der jeweiligen Gegengruppe. Statt also über Benachteiligungen von Frauen etwa auf dem Arbeitsmarkt zu reden, kann man über die Privilegierung von Männern nachdenken; oder statt über rassistische Diskriminierung von „schwarzen“ Menschen über das Privileg, „weiß“ zu sein und damit nicht als „rassifiziert“ wahrgenommen zu werden.

Umkehrung des Blicks

Der grundsätzlich interessante Punkt daran ist, dass man die hierarchische Ordnung von „normal“ und „anders“ auf den Kopf stellt und diejenigen Gruppen, die sich selbst traditionell als Vertreter von universellen Normen verstehen, darauf hinweist, dass auch sie eine besondere Gruppe sind – nur eben eine, der es besonders gut geht. Man bekommt mit anderen Worten die Gesamtlage der gesellschaftlichen Machtverhältnisse anders und besser in den Blick.
Die Frage ist allerdings, inwieweit der Begriff auch unter inflationärer aktivistischer Verwendung noch produktiv ist. Oder anders gesagt: Inwieweit er dem Ziel progressiver Politik, nämlich durch Aufdeckung von bislang verdeckten Machtverhältnissen den Boden für eine gerechtere Gesellschaft zu bereiten, noch dient.

Vom „Begreifen“ zum „Angreifen“

Der Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker Jörg Scheller, Professor an der Zürcher Hochschule der Künste sowie Bodybuilder und Heavy-Metal-Musiker, ist dezidiert der Meinung, dass das nicht der Fall ist. Der Begriff des Privilegs ist für ihn längst „entgrenzt“ und schwammig geworden und dient nicht länger „dem Begreifen“, sondern „dem Angreifen“.
Das hat einiges mit dem in manchen Zirkeln zur Kulturtechnik erhobenen „Shaming“ zu tun, also bloß wütenden und an Individuen gerichtete Vorwürfe, die wenig zum Verständnis von Strukturen beitragen und viel zur emotionalen Vergiftung von Debatten. Schellers Kritik ist allerdings noch grundsätzlicher und betrifft vor allem zwei Probleme, die er relativ ausführlich und manchmal auch etwas anekdotisch herausarbeitet.
Da ist zum einen die Pauschalisierung und mangelnde soziologische Präzision, die in allgemeinen Kategorien immer drinsteckt: Natürlich sind nicht ALLE Männer oder ALLE „Weißen“ privilegiert, und die vom Durchschnitt der Gruppe aufs Individuum übertragene Zuweisung von Privilegien wird sehr oft kontextblind.

Unkritische Theorieübernahmen

Zweitens übernehmen progressive akademische und aktivistische Diskurse beim Nachdenken über Privilegien (wie auch anderswo) sehr oft US-amerikanische Ideen ohne genügende Anpassung an konkrete historische und soziale Verhältnisse in anderen Weltgegenden.
Die Rede von „white privilege“, also die Idee, dass „Weiß“- Sein per se ein Privileg sei, wie sie etwa Aktivistinnen wie Robin DiAngelo vor dem Hintergrund des spezifischen US-amerikanischen Rassismus-Settings vertreten, lässt sich auf Deutschland mit seinem althergebrachten antislawischen Rassismus nur teilweise übertragen.
Schellers Punkt ist nicht, dass man die überkommenen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen in unseren Gesellschaften nicht angehen sollte, seine Kritik ist keineswegs polemisch oder gar kulturkämpferisch gegen die Ideale progressiver Politik gerichtet, vielmehr versteht sich sein Essay als kritischer Einwurf innerhalb des eigenen Lagers. Und als solcher ist das Buch unbedingt anregend.

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