Die Gefahr, Privilegienverlust mit Diskriminierung zu verwechseln
Auch weiße, heterosexuelle Männer fühlen sich inzwischen als Opfer. Solche Gruppenidentitäten begünstigen eine gesellschaftliche Spaltung, sagt der Philosoph Luca Di Blasi. Dass man sich als Opfer wahrnehme, könne aber auch dabei helfen, die Sorgen anderer ernst zu nehmen.
Dieter Kassel: Was hat eigentlich in Ihren Augen überhaupt dazu geführt, dass zumindest ein Teil der weißen heterosexuellen Männer – man muss immer sagen, wir werden auch differenzieren, nicht alle, aber ein Teil der weißen heterosexuellen Männer – der westlichen Welt sich selbst tatsächlich als Opfer sieht?
Luca Di Blasi: Eine komplizierte Frage mit vielschichtigen und mit vielen möglichen Antworten. Ich denke, die wichtige Antwort ist aber, dass diese Entwicklung, dass sich Gruppen als Opfer gesehen haben beziehungsweise sich als Opfergruppen konstituiert haben, eine etwas längere ist – seit ein paar Jahrzehnten läuft sie –, und ab einem gewissen Punkt kann man feststellen, wie diese Art der Selbstkonstitution als Opfergruppe nun auf die Männer, auf die weißen Männer übergegriffen hat.
Kassel: Aber auf welche denn genau? Ich hab's ja schon angedeutet, nicht jeder Mann, der weiße Haut hat und heterosexuell ist, ist ja so wie das, was wir gerade besprechen.
Di Blasi: Wenn man es jetzt historisch zu fassen versucht – es gibt viele unterschiedliche Deutungen –, ist es, dass in Amerika mit der Tea Party das erste Mal die Weißen – nicht nur Männer, auch weiße Frauen – anfangen, sich als Identität, und zwar auch als eine Opferidentität, die sich diskriminiert fühlt von Maßnahmen des Staates, Gleichstellungsmaßnahmen, Maßnahmen, die dazu dienen sollen, andere Gruppen, die man als eigentliche Opfer eben auch gesehen hat, nun zu stärken in der Gesellschaft. Und im Zuge dieser Entwicklungen und mit auch mehr oder weniger verborgenen rassistischen Untertönen haben sich dann Weiße als Opfer gefühlt, gerade auch unter einer Präsidentschaft eines schwarzen amerikanischen Präsidenten.
Kassel: Es gibt die These generell dazu, dass Menschen, die sich als Opfer begreifen, dadurch sich einerseits einer Diskussion grundsätzlich entziehen, vor allen Dingen aber auch die Diskussion entpolitisieren, weil ein Opfer etwas nicht Politisches sei. Nun haben Sie ausgerechnet die Tea-Party-Bewegung ja gerade auch erwähnt. Das ist ja durchaus eine politische Bewegung. Also würden Sie dieser These widersprechen, dass die Opferrolle automatisch eine unpolitische Rolle ist?
Di Blasi: Ja, natürlich, weil die Opferrolle ist erstens hochmoralisch, moralisierend. In dem Moment, wo man sich selbst als Opfer wahrnimmt, ist implizit auch gegeben, dass es Täter gibt, und dann ist auch irgendwann die Frage nach Reparationen nicht weit. Das heißt, für die ganze Opferdiskussion im Allgemeinen spielt die Beschuldigung, die implizit mit einhergeht mit der Tatsache, dass man sich selbst als Opfer versteht, immer eine große Rolle und wirkt auch bedrohlich auf diejenigen, die dann im Lichte dieser Selbstviktimisierung sich dann in die Rolle der Täter gestellt sehen und vielleicht sogar in die Rolle zukünftiger Ansprüche vonseiten der Opfer.
Weiße, heterosexuelle Männer als neueste Opfergruppe
Kassel: Aber wer sind denn aus Sicht dieser – Sie nennen das in Ihrem Buch ja WHM, also weiße heterosexuelle Männer. Funktioniert auch auf Englisch: White heterosexual males. Wer sind denn aus deren Sicht die Täter, die sie zu Opfern machen?
Di Blasi: Das ist eben die Schwierigkeit. Der Gedanke ist der, dass eigentlich im Zuge der Identitätspolitik seit den späten 60er, Anfang der 70er Jahre sich sehr viele Gruppen konstituiert haben, indem sie sich als Opfer gesehen haben eigentlich von einer rassistischen, sexistischen, heteronormativen Gesellschaft. Und dann waren natürlich diejenigen, die heterosexuell waren, die weiß waren und die männlich waren, sozusagen gerade ausgenommen von dieser Möglichkeit, sich selbst als Opfer zu sehen.
Und irgendwann im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dann ist es mit der Wahl von Trump dann sichtbar geworden und mit dem Brexit, haben diejenigen, die sozusagen die letzten der Opfer waren, angefangen, sich selbst als Opfer zu sehen von Maßnahmen, die lange Zeit dazu dienten, anderen Opfern zu helfen, Diskriminierungen zu überwinden, teilweise mit einer Politik, die man "affirmative action" nennt, also Versuche, gezielt auch diskriminierte Gruppen zu stärken. Und bei all diesen Versuchen war eben eine Gruppe, die sich eigentlich so als Gruppe vielleicht gar nicht verstanden hat, außen vor, nämlich genau diejenigen, von denen man dachte, die sind jetzt nicht diskriminiert.
Kassel: Aber eines passiert ja prinzipiell tatsächlich durch diese Gleichstellung. Wir lassen jetzt mal all die Fragen weg, die darum herum kreisen, wie weit wir schon sind und wie weit schlichtweg Frauen, aber auch Schwule und Lesben, Einwanderer und alle gleichgestellt sind. Aber wenn wir mal davon ausgehen, dass progressive Teile der Gesellschaft eine solche Gleichstellung ja anstreben, das würde ja bedeuten, wenn alle gleichgestellt sind, hat ja niemand mehr ein Privileg. Und so gesehen ist es ja richtig, wenn einige weiße heterosexuelle Männer sagen, man nimmt uns unsere Privilegien.
Di Blasi: Ja, das ist ja genau das Problem, dass man dann Gefahr läuft, Privilegienverlust mit Diskriminierung zu verwechseln. Natürlich ist es keine Diskriminierung, wenn einem Privilegien genommen werden. Und genau dieser Fehler passiert. Ich würde aber … Das tiefere Problem im ganzen Gespräch mit Opfergruppen ist ja auch, dass die Gleichstellung nicht unbedingt dazu führen wird, dass dann Konflikte beseitigt sind. Sondern es gibt intellektuell anspruchsvolle Weiße, die uns sagen, nein, es ist genau die Annäherung der Gruppen zueinander, die die Konflikte steigert. René Girard spricht von mimetischen Konflikten. Man fängt an, aufeinander zu schielen, auf die möglichen kleinen Privilegien, Vorteile, die die anderen haben. Und je geringer die Differenzen werden, desto mehr schaut man auf die kleinen Differenzen, die übrig bleiben. Und im Zuge dessen wachsen die Konflikte und sinken nicht.
Gefahr des Vergleichs der verschiedenen Privilegien
Kassel: Wir reden dann aber, so habe ich Sie jetzt verstanden – ich bin ja so ein bisschen der große Vereinfacher morgens –, unter anderem aber auch über Phänomene wie Neid und Missgunst, oder? Ich neide anderen, dass sie jetzt meine Privilegien auch haben oder zumindest in die Richtung kommen.
Di Blasi: Ja. Man kann es auf beiden Seiten sehen. Natürlich gibt es auch so etwas wie Ressentiments und einen Neid gegenüber anderen, von denen man den Eindruck hat, denen geht es besser. Das ist nun etwas, was nicht auf eine Gruppe beschränkt ist. Das ist genau die Gefahr der Tendenz, sich dann als Gruppe zu konstituieren in Abgrenzung zu anderen, über den Vergleich der verschiedenen Privilegien oder Vorzüge. Das heißt, wenn man also irgendwann nach Antworten sucht, wie man auch gegenwärtige Probleme lösen will, müsste man auch darüber nachdenken, ob vielleicht eine gewisse Form der Identitätspolitik an ein Ende geraten ist, und zwar genau in dem Moment an ein Ende geraten ist, wo die letzte der Gruppen, die bisher am allerwenigsten sich als Opfergruppe sehen konnte, nun auch anfängt, genau diese Identitätspolitik auf sich selbst zu übertragen. Und in diesem Moment könnte der Eindruck entstehen, dass diese ganze Identitätspolitik implodiert.
"Ich höre immer wieder: Wir müssen die Jungen fördern"
Kassel: Aber wir sind doch in einigen Bereichen schon so weit. Mir geht gerade einfach ein Ort durch den Kopf, nämlich Schulen, zumindest in Deutschland. Es gibt vereinzelt Maßnahmen, aber es gibt vor allen Dingen den Ruf danach, an den Schulen vor allem die Jungs zu fördern, weil in vielen Bereichen tatsächlich Mädchen im Durchschnitt bessere Noten haben, sie erreichen schneller die Abschlüsse. Früher hat man immer gesagt, die Mädchen müssen gerade in den Naturwissenschaften, Ängste verlieren, gefördert werden. Das ist auch noch nicht ganz erledigt, dieses Thema. Aber ich höre immer wieder, wir müssen die Jungs an der Schule fördern. Da haben wir doch schon wieder – nein, eine Minderheit ist es ja nicht, es ist ungefähr die Hälfte aller Schüler –,aber da haben wir doch wieder so eine Art Minderheitspolitik mit einer Gruppe, die gar keine Minderheit darstellt.
Di Blasi: Ich denke, das war bisher wichtig und es wird auch in Zukunft immer wichtig sein, zu schauen, wo gibt es vielleicht tatsächlich Formen der Diskriminierung. Die müssen nicht nur Frauen betreffen oder Nicht-Weiße oder Nicht-Heterosexuelle. Es kann in Einzelfällen auch sein, dass auch Weiße oder Männer oder Heterosexuelle gewisse Formen von Benachteiligung erfahren, und dann muss man dagegen steuern natürlich. Ob das jetzt unbedingt mit gezielter Förderung sein kann oder vielleicht, das muss man sehen, sind das Einzelfragen. Aber das Problem dahinter ist eben schon, dass man immer mehr fokussiert auf diese Gruppen. Und ich glaube schon, dass das begünstigt eine gewisse identitätspolitische Abschottung. Man sieht sich selbst als Identität, man festigt sich als Identität, man beargwöhnt andere dann um ihre möglichen kleinen Vorzüge, und das führt zu Entzweiungen in der Gesellschaft, die wir in Amerika gerade in einer Weise sehen, wo es Kenner gibt, die sogar eine Art Bürgerkrieg nicht mehr ausschließen.
"Man sollte versuchen, sich eine Art Einfühlung zu erhalten"
Kassel: Ich würde gern noch eine Stunde oder vielleicht auch länger mit Ihnen reden. Das können wir leider nicht tun an dieser Stelle, aber ich kann natürlich die Frage nicht offen lassen, dieses berühmte "What now?" – was kann man tun. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, das hatte ich schon bei Ihrem Buch, aber jetzt noch stärker in unserem Gespräch: Auch wenn man vielleicht sagt, wir haben so viele Probleme, wir brauchen uns jetzt eigentlich nicht mit den WHM beschäftigen, aber ist das vielleicht eine Gruppe, bei der man das gar nicht ahnen würde, aber um so einen aktuellen Begriff zu nehmen, bei der wir auch gucken müssen, dass wir sie integrieren können in unsere Gesellschaft?
Di Blasi: Erstens denke ich nicht, dass man von einer Gruppe einfach reden sollte. Eigentlich weigere ich mich sogar, das zu tun. Das ist gerade die Gefahr, dass man sich zu sehr als eine Gruppe sieht. Zweitens, glaube ich, geht es nicht so sehr um Integration, sondern es geht schon ein wenig darum, dass man auch vonseiten derjenigen, die bislang in ihnen, und zwar nicht immer zu Unrecht, auch sieht, dass hier starke Gefahren des Rassismus und der Homophobie und auch des Sexismus vorhanden sind. Diese Versuchung ist da, und die war in der Geschichte immer wieder da. Trotzdem sollte man versuchen, eine Art Einfühlung sich zu erhalten, die Fähigkeit, sich in diese Schicksale, in diese Menschen hineinzuversetzen, so wie man ja auch selbst, gerade als Angehöriger einer Opfergruppe, immer wieder auch beansprucht, dass Leute, die man vielleicht als privilegiert ansieht, sich in Ihre Situation einfühlen können.
Bereitschaft wächst, hinter die Fassade zu sehen
Das ist also eine doppelte vielleicht auch Chance der jetzigen Situation, dass Weiße, die sich als Opfer wahrnehmen, nun vielleicht dadurch auch in die Lage geraten könnten, eine gewisse Gemeinsamkeit mit anderen zu erkennen, die sehen, wir sind alle im gleichen Boot, wir sind alle, und wir müssten eigentlich zusammen schauen, wie wir eine Gesellschaft herstellen, wo wir uns nicht so als Opfer fühlen. Das wäre die Seite der Männer. Und ich glaube auch, dass auf der anderen Seite die Bereitschaft auch wächst, hinter dieser häufig hässlichen, rassistischen Fassade, zu sehen, dass häufig da wirklich reale und auch berechtigte Ängste sind, und dass man auf diesem Wege vielleicht zu einer wechselseitigen Anerkennung kommen kann. Nicht Anerkennung des Rassismus, aber Anerkennung, dass hier auch Sorgen sind, die man ernst nehmen muss, und dann schauen kann, wie man gemeinsam sie überwinden kann.
Kassel: Das stimmt mit den Stunden, die ich noch würde. Aber länger können wir nicht. Ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!
Di Blasi: Danke!
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