Jörg Gläscher: "Der Eid"

Bilder von Macht und Ordnung

08:00 Minuten
Das Cover des Buches "Der Eid" von Jörg Gläscher. Zu sehen ist in altmodischer 70er-Jahre-Schrift mit Serifen in blauen Buchstaben auf knallrotem Grund "Der Eid" darunter "The Oath". Etwas kleiner darunter der Name des Autors.
© Hartmann Books

Jörg Gläscher, mit einem Essay von Sonja Zekri

Der EidHartmann Books , Stuttgart 2022

208 Seiten

45,00 Euro

Von Frank Dietschreit · 27.08.2022
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Staatliche Strukturen basieren auf der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Kann man den Eid als Demokratiebegriff und Baustein der Gewaltenteilung in Fotos festhalten? Fotograf Jörg Gläscher versucht es.
Jeder Staat benötigt eine Verfassung und Gesetze, Werte und Normen, an die sich alle Bürgerinnen und Bürger orientieren. Ohne Richter und Polizisten, Bürgermeister und Soldaten, Sozialhelfer und Grenzschützer, die einen Eid auf die Verfassung ablegen und schwören, sich mit ganzer Kraft für das Wohl und die Sicherheit von Staat und Bürger einzusetzen, zerfällt jede Ordnung und hätten weder eine freie Presse noch die Künste eine Zukunft. So weit, so klar. Doch kann man diese Binsenweisheiten des politischen Einmaleins auch visualisieren?
Fotograf Jörg Gläscher hat es versucht, in seinem Bildband "Der Eid". Auf keiner einzigen der 115 Abbildungen sieht man einen Staatsdiener, der einen Eid schwört: Das haben sie längst getan, irgendwann, vielleicht vor Jahren oder vor wenigen Wochen, wir erfahren es nicht.
Wie wir überhaupt wenig über die Personen erfahren, die abgelichtet wurden, oder über die Situationen, in denen sie sich gerade befinden: Wir müssen uns vieles selbst zusammenreinem, wen und was wir da eigentlich sehen und was es bedeuten könnte.

Die Bedeutung erfassen müssen wir selbst

Dabei ist es hilfreich, ab und zu auf den beigehefteten Laufzettel zu schauen, auf dem stichwortartig verzeichnet ist, wo und wann das Foto aufgenommen wurde: die Bedeutung erfassen, das Foto interpretieren, das müssen wir selbst.
Ein indischer Polizist am Strand, mit Stock in der Hand.
Ein indischer Polizist am Strand.© Jörg Gläscher
So können wir zu jedem Foto eine eigene Geschichte erfinden, unser eigenes, vielleicht ambivalentes Verhältnis zu Verfassung und Staat überprüfen und neu definieren. Ob Richter oder Staatsanwalt, Polizist, Gefängniswärter oder Drogenfahnder, Gouverneur oder Grenzschützer: Wir sehen sie bei der Arbeit, manchmal mit einer dicken Akte in der Hand, manchmal mit einem martialischen Maschinengewehr, manchmal an einem mit Stacheldraht verhauenen Grenzzaun.
Wir erblicken den Becher, aus dem sie jeden Tag literweise Kaffee trinken, um wach zu bleiben, sehen eine Fahne im Wind flattern oder eine aufgezogene Schreibtischschublade, die achtlos vollgestopft ist mit Stempeln, Notizen und irgendwelchen Orden und Auszeichnungen.

Unzählige Orte, Personen, Situationen

Es ist ein Langzeitprojekt: Gläscher ist jahrelang durch die ganze Welt gereist, schon vor und dann auch während der Pandemie, in der staatliches Handeln auf eine harte Probe gestellt und furchtlose Staatsdiener ein zentrales Element der Virus-Bekämpfung wurden und den Staat vor dem Kollaps der Demokratie bewahrten.
Er war in elf Ländern und auf vier Kontinenten unterwegs, hat am Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Juristen fotografiert; er war bei Demonstrationen der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich und sah schwer bewaffnete Polizei beim Versuch, die Ordnung aufrecht zu erhalten.

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Er hat in Georgien beobachtet, wie engagierte Staatsdiener ein von Russland umzingeltes Land zur Demokratie führen und Bürgernähe herstellen; in den USA hat er die von weißen Polizisten vorgenommene, brutale Verhaftung von Schwarzen fotografisch festgehalten.
Regentin von Bali bei Tanzvorführung.
Regentin von Bali bei Tanzvorführung.© Jörg Gläscher
Unzählige Orte, Personen, Situationen, in denen Menschen, die einen Eid geschworen haben, still und beharrlich ihre Arbeit erledigen, oft selbstbewusst, manchmal selbstherrlich. In ihren Augen sieht man Mitleid und gelegentlich blanke Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Einiges ist wunderlich, manches verstörend.
Im Büro einer Stadtteil-Bürgermeisterin von Chicago sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa: Alles ist mit Stiften, Spielsachen und Fotos vollgestopft, und während die Bürgermeisterin genervt mit den Armen wedelt, schauen die Mitarbeiter pikiert und lustlos zu Boden.

Stolz und Allmacht-Fantasien

Immer wieder erkennt man, wie staatliche Ordnung und militärischer Drill, Macht-Willkür und Untertanen-Mentalität Hand in Hand gehen. Eine Bezirks-Regentin auf Bali suhlt sich darin, Dutzende junge Frauen in adretter Uniform zu einer militärischen Tanzvorführung antreten zu lassen.
Indonesische Polizisten stehen in einer Reihe.
"Sniper - One Shot, One Kill": Anti-Drogen-Einheit in Indonesien.© Jörg Gläscher
In Indien werden ängstliche junge Männer drangsaliert und müssen bei der Kadettenausbildung in Staub und Hitze mit albernen Holzgewehren hantieren. Die vermummten Mitglieder einer Anti-Drogen-Einheit in Jakarta genießen ihre Macht: Auf ihren Uniformen tragen sie Sticker mit stilisierten Gewehren und der Aufschrift: "Sniper - One Shot One Kill“.
Sich um Wohl und Wehe von Demokratie, Staat und Bürger zu kümmern, scheint manche mit unbändigem Stolz zu erfüllen und zu Allmachtfantasien zu beflügeln; für andere ist es vor allem Schwer-Arbeit, ermüdend, zermürbend, aussichtslos. Den Eid, den sie einmal gelistet haben, tragen sie wie eine bleischwere Weste und drohen darin fast zu ersticken.

Staatliche Stellen in digitaler Steinzeit

Überraschend, wie viel Papier noch immer in den Amtstuben und Gerichtssälen gewälzt wird: Überall Aktenordner, archiviertes Chaos, die reinste Zettelwirtschaft, als würden staatliche Stellen noch in der digitalen Steinzeit verharren. Befremdlich: die kleinen Seitenblicke, wenn die Fotokamera Dinge einfängt, die scheinbar keine Bedeutung haben, aber doch viel über den Zustand der jeweiligen Institution verraten.
Im Büro des Rathauses einer Stadt in Georgien hängt an der Decke eine nackte Glühbirne, die ein trübes Licht auf die mühsam entstehende Demokratie wirft. An den Kaffeebecher in einem Hamburger Polizeirevier ist ein goldener Plastik-Revolver geklebt: Macht- und Gewalt-Fantasien gehen nahtlos ineinander über.
Und was macht ein Aquarium, in dem kein Wasser und kein Fisch mehr ist, im Staatsgefängnis von Jakarta? Und warum hockt ein Mann in dem leeren Glaskasten? Befremdlich und bizarr, vielleicht erzählt das Foto auch von Sadismus und Machtmissbrauch des Vorgesetzten. Und von einem Eid, der vieles ermöglicht: oft Gutes, aber leider manchmal auch das Allerschlimmste.
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