Jochen Buchsteiner über die Briten und den Brexit

"Aus den Klauen der EU herauskommen"

Die britische Flagge flieht vor der europäischen Flagge.
Die Flucht der Briten. © imago / AFLO / Montage DLF Kultur
Moderation: Florian Felix Weyh · 29.09.2018
Die Meinung vieler Deutscher zum Brexit: Die Briten sind verrückt und werden schon sehen, was sie davon haben! "FAZ"-Korrespondent Jochen Buchsteiner hat für sein Buch "Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie" genauere Ursachenforschung betrieben.
Florian Felix Weyh: Ich weiß nicht, ob Sie das kennen: Manchmal nimmt man einen Buchtitel immer wieder verkehrt wahr. "Der Fluch der Briten auf die Europäische Utopie" las ich mehr als einmal, obwohl das vor mir liegende Buch ganz klar heißt: "Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie". Geschrieben hat es Jochen Buchsteiner, "FAZ"-Korrespondent für Großbritannien, und mit ihm bin ich jetzt in London verbunden. Guten Morgen, Herr Buchsteiner!
Jochen Buchsteiner: Morgen, Herr Weyh!
Weyh: Dieser freudsche Verleser verrät ja 'was über mich, und ich vermute nichts besonders Schmeichelhaftes. Ich höre die Briten fluchen, obwohl sie bloß flüchten wollen. Also bin ich in Sachen Brexit voreingenommen, wie wohl die meisten Menschen in Deutschland, oder?

"Das ist ein etwas simplizistisches Bild"

Buchsteiner: Das kann ich nicht beurteilen, wie Sie den Brexit sehen. Mein Eindruck war, dass, wenn ich mit Freunden und Bekannten in Deutschland gesprochen habe, ein recht einseitiges Bild vorherrscht über den Brexit im Sinne von, die haben einen Fehler gemacht, die sind verführt worden von Populisten, jetzt ist das Land am Abgrund, und am liebsten wollen sie wieder zurück in die Europäische Union, wissen nur nicht, wie sie das machen sollen. Und so ist die Stimmung im Land tatsächlich nicht. Ich glaube, dass das ein etwas simplizistisches Bild ist, und in meinem Buch habe ich versucht, gewissermaßen die Perspektive zu erweitern und auch mal die andere Seite zu Gehör zu bringen, den Brexit-Argumenten ein bisschen zu folgen und vor allem die Frage zu stellen, wie konnte es dahin kommen.
Der "FAZ"-Korrespondent und Autor Jochen Buchsteiner
Der Autor Jochen Buchsteiner© dpa / Hermann Wöstmann
Weyh: Es konnte dahin unter anderem kommen, weil – das zeichnen Sie ja nach – die britische Insellage, die auch immer wieder thematisiert wird, so einen ganz bestimmten Menschenschlag hervorgebracht hat, und das sind Seefahrer. Ich habe ein bisschen fast geschmunzelt beim Satz, den Sie von Ernst Jünger zitieren: seefahrendes Volk ist an größeren Schwankungen gewöhnt, und dann sagen Sie, na ja, und genauso sind die jetzt auch, also eine fast seeräuberische Freude über das bevorstehende Abenteuer spüren Sie da bei den Leuten. Ein bisschen weit hergeholt oder ist das wirklich so?

Unter "Remainern" herrscht keine seeräuberische Freude

Buchsteiner: Na ja, man muss natürlich sehen, dass das Land geteilt ist. Wir haben diese berühmten 48 Prozent, die für remain gestimmt haben und die 52 Prozent, die für leave gestimmt haben. Unter den Remainern herrscht sicherlich keine seeräuberische Freude, sondern da ist tatsächlich große Verzagtheit zu spüren, aber bei den Ausstiegsfreunden gibt es durchaus einige, die den Eindruck haben, das ist auch ein Aufbruch, und das kann das Land in eine Zukunft führen, die nicht nur nostalgisch ist, sondern die tatsächlich das Land voranbringt, indem es sich noch stärker globaler öffnet, indem es Handelsverträte mit vielen Ländern in der Welt abschließt.
In diesen Kreisen der Brexiteers wird ja die Europäische Union nicht als die größte Freihandelszone der Welt betrachtet, sondern im Gegenteil als eine protektionistische Zone, die sich eher abschottet, Zölle erhebt auf viele Güter, die aus dem Rest der Welt in die Union hineinwollen. Also dort gibt es tatsächlich eine Stimmung, wenn wir rausgehen aus der Europäischen Union, werden wir globaler, werden wir noch freihändlerischer, noch internationaler.

"Man ist bereit, Abstriche hinzunehmen"

Weyh: Die Freiheit spielt ja eine große Rolle im britischen Nationalcharakter fast. Sie sagen, es gibt einen europäischen Dreifachkonsens, was die EU angeht, nämlich, dass das ein zivilisatorisches Fortschrittsprojekt ist, dass der Nationalstaat immer weiter zurücktreten soll und dass Wohlstand über die kulturelle Identität geht. Der letzte Punkt ist der interessanteste, finde ich, weil der nicht nur in Großbritannien eine Rolle spielt. Man ist bereit, jetzt auch in Großbritannien, für die kulturelle und die nationale Identität wirtschaftliche Abstriche hinzunehmen.
Buchsteiner: Ich glaube, das ist ein Problem der Brexiteers, dass sie versucht haben, während des Referendumswahlkampfs den Eindruck zu erwecken, als würde das sozusagen kostenlos alles zu haben sein. Inzwischen setzt sich eher so eine Haltung durch, ist mein Eindruck, zu sagen, gut, also wenn wir einen gewissen Preis zahlen für die Freiheit – in Anführungsstrichen –, die Unabhängigkeit, dann sei es so, das wird wahrscheinlich über mittelfristig oder langfristig sich bereinigen, wichtiger für uns, die Brexiteers, ist, dass wir gewissermaßen aus den Klauen der EU jetzt herauskommen, und das ist eine lobenswerte Haltung, zu sagen, wir stellen unsere politischen Ziele über wirtschaftliche Ziele. Es ist nicht etwas, was man per se kritisieren muss.
Weyh: Was verliert denn Europa oder was verlieren auch wir Deutschen, wenn die Briten draußen sind?

"Wir haben die Briten immer gebraucht"

Buchsteiner: Also die EU verliert ihr inneres Gleichgewicht. Das ist, glaube ich, eine der tragischsten Dimensionen dieses Brexit. Wir haben die Briten immer gebraucht, auch gerade wir Deutschen, als Gegengewicht zu den südlicheren Ländern, die den Wettbewerb weniger ernstgenommen haben, ein bisschen stärker auf das egalitäre ausgerichtet waren. Wir haben die Briten auch immer gebraucht, wenn es um Sicherheitspolitik ging. Da fehlt eine ganz wichtige Stimme innerhalb der EU, und gerade auch für Deutschland, weil sich, wie gesagt, die Gewichte innerhalb der EU verschieben, und insgesamt nach außen verliert die EU natürlich auch an Ausstrahlungskraft, wenn ein so wichtiges Land wie Großbritannien immerhin die einzige Atommacht neben Frankreich in der EU fehlt.
Weyh: Nun haben Sie es anfänglich schon gesagt, Sie sind gar nicht so alarmistisch. Der Tonfall des Buchs ist nicht alarmistisch. Sie versuchen beide Seiten darzustellen, und dann machen Sie einen großen historischen Aufriss, und die Geschichte Großbritanniens ist ja nun auch lang und alt und traditionell, und dann steht da der schöne Satz: "Im Vergleich zu heute vollzog das Königreich im Jahr 1534 einen Brexit XXL." Was war denn im Jahr 1534?
Buchsteiner: Das war zur Zeit von Heinrich VIII., der bekanntlich mit dem Papst in Rom gebrochen hat und die katholische Kirche Englands unter seine Fittiche genommen hat, und das war damals natürlich ein unerhörter Vorgang. Es war, wenn man so will, europäischer Mainstream, dass die katholische Kirche allein vom Papst repräsentiert wird, und da kam jemand, der sagte, nur Gott steht über mir und hat dann eben diesen Bruch vollzogen. Die Europäer haben zum Teil mit Krieg gedroht, es gab große Unruhen in Großbritannien damals, und es hat auch eine Weile gedauert, bis sich sozusagen der Staub gesetzt hat.

"Sicherlich waren die Briten nicht immer einfache Partner"

Weyh: Mit Kriegsdrohung, soweit sind wir nicht, aber es ist doch eine latent aggressive Stimmung, die man so auch auf Seiten der EU-Verhandlungsführer feststellen kann, und Sie schreiben den schönen Satz: "Britannien, das wird manchmal vergessen, bleibt ja eine gutartige Mittelmacht. Es geht nicht um Groll, es bettelt geradezu um Zusammenarbeit."
Buchsteiner: Ja, ich finde daran muss man manchmal erinnern, wenn man sich die Tonlage anhört, die etwa jetzt bei dem Gipfel in Salzburg auch zu hören war. Es gibt immer, wie soll ich sagen, gewisse Zyklen, wo dann man diplomatischer, mal weniger diplomatisch übereinander gesprochen wird, aber es gab eben auch eine Phase, in der die EU, vor allem der Chefverhandler Michel Barnier, immer wieder gesagt hat, Großbritannien wird nach dem Brexit ein reines Drittland, ein Drittstaat sein, so wie Marokko oder Algerien und wird sich da keinerlei Sonderrechte herausnehmen können, und das ist schon ein Ton, der viele Briten irritiert hat nach 40 Jahren gemeinsamer Arbeit in der Europäischen Union.
Sicherlich waren die Briten nicht immer die einfachsten Partner, aber sie haben doch sehr viel bezahlt, sie haben auch gute Impulse geliefert, und jetzt gewissermaßen bestraft zu werden dafür, dass man nach einem Volksentscheid die Union verlassen will, empfinden viele als ungerecht, und es geht sogar noch drüber hinaus: Es gibt tatsächlich viele Remainers, die das Verhalten der EU jetzt zum Anlass nehmen zu sagen: "Na, vielleicht hatten die Brexiteers ja doch recht, und das ist nicht der Club, in dem wir Mitglied sein wollen."
Weyh: Vielen Dank, Jochen Buchsteiner! Wir sprachen über "Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie", Rowohlt-Verlag, 142 Seiten kosten 16 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Jochen Buchsteiner: Die Flucht der Briten aus der Europäischen Utopie
Rowohlt, Reinbek 2018, 144 Seiten, 16 Euro

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