Zweifel am Brexit in Wales

Das wirtschaftliche Eigentor

Grasende Schafe vor einer Oelraffinerie in Wales.
So langsam dämmert es vor allem auch den Schafzüchtern in Wales, was ein harter Brexit für Folgen für sie hätte. © imago/blickwinkel
Von Jenni Roth · 11.09.2018
Am 29. März 2019 ist Brexit-Tag. Auch die Waliser stimmten 2016 mit 53 Prozent dafür. Aber nun kommen Zweifel. Schafzüchter bangen um ihre Existenz. Die strukturschwache Region profitiert stark von der EU, nicht nur finanziell.
Fast direkt an einer kurvigen Küstenstraße von Machynlleth nach Aberyswyth steht das Haus von Judith und ihrem Mann Iain Wright. Er: Fotograf, um die 50 Jahre, lockeres T-Shirt, Jeans. Sie: fast gleich so groß, Kurzhaarschnitt, gemustertes Kleid, kein Schmuck. In ihrem Job beschäftigt sie sich mit Kulturerbefragen. Herzlich begrüßen mich die beiden, und selbst wenn es um die EU geht, lachen sie, laut und viel. Die meisten Leute hier in der Region - im Westen von Wales - kennen das Paar oder zumindest ihr Haus. Denn davor haben sie die blaue EU-Flagge mit ihren zwölf Sternen gehisst, direkt an der Straße.
Das blaue Zeichen wehte schon lang vor der Abstimmung 2016 vor ihrer Tür:
"Es kamen überraschend viele und meinten, tolle Flagge! Und Freunde von uns fragten, woher wir sie haben. Sie wollten unbedingt auch eine kaufen."
Die Waliser Judith und Iain mit ihrer blauen EU-Flagge im grünen Garten.
Die Waliser Judith und Iain mit ihrer EU-Flagge im Garten.© Deutschlandradio / Jenni Roth
Aber die Flagge am Straßenrand hat am Ende nicht geholfen. Genauso wie die EU-Flagge vor dem Rathaus der walisischen Hauptstadt Cardiff. Die wird bald durch den Union Jack ausgetauscht, weil eine knappe Mehrheit der Wähler es so wollte: Rund 53 Prozent stimmten in Wales für den Ausstieg aus der Europäischen Union an jenem 23. Juni 2016. Iain erinnert sich:
"Angeblich haben die Leute aus Protest so abgestimmt. Aber wir kennen nur Leute, die in der EU bleiben wollen…"

Wales kassiert 760 Millionen Euro pro Jahr von der EU

Machynlleth ist ein kleiner Ort im Nordwesten von Wales, 2000 Einwohner. Alle grüßen sich, alle kennen sich. Wer hier für den Brexit ist, sagt es lieber nicht laut. Die 20 Kilometer entfernte Universitätsstadt Aberyswyth gilt geradezu als europhil: 11.000 Studenten leben hier – also fast die Hälft der örtlichen Bevölkerung. Sie profitieren vom europäischen Erasmus-Programm. Aber auch sonst: Schnelles Internet, Verkehrsinfrastruktur, Fördergelder von der Europäischen Union für die Uni. Dass gerade diese strukturschwache Region heute so entwickelt ist, liegt auch an der Unterstützung der anderen EU-Staaten.
Iain: "Das ist doch Irrsinn! Man muss doch nur durch die Gegend fahren, überall die EU-Förderschilder!"
Judith: "An öffentlichen Gebäuden, Museen, Freizeiteinrichtungen, überall!"
Iain: "Ich glaube ja nicht, dass wir dieses Geld künftig von der britischen Regierung kriegen."
Tatsächlich könnte der Brexit gerade in Wales zum wirtschaftlichen Eigentor werden: Das Land kassiert bisher jedes Jahr 680 Millionen Pfund an Fördergeldern. Also rund 760 Millionen Euro.
Auch deshalb konnte die walisische Wirtschaft in den vergangenen Jahren stärker zulegen als die englische. So fanden laut walisischer Regierung in zehn Jahren dank Fördermitteln zum Beispiel 73.000 Menschen einen Job, 12.000 gründeten ein Unternehmen.

Brexit-Wähler erhält 100.000 Euro EU-Förderung jährlich

Am meisten hat die Landwirtschaft von den Zuwendungen profitiert. Kein einfacher Wirtschaftszweig in Wales. Hier wächst kaum etwas, deshalb züchten die Menschen vor allem Kühe und Schafe. So wie Tegid Jones. Seine Farm liegt in den Hügeln von Machynlleth. Jeden zweiten Freitag koppelt er seinen Anhänger ans Auto und fährt 40 Kilometer auf den Schafmarkt in Dolgellau, Treffpunkt für Viehzüchter aus dem In- und Ausland.
Züchter Tegid Jones auf dem Schafmarkt im walisischen Dolgellau. Er blickt auf das Gatter mit vielen Schafen, die bunte Markierungen in der Wolle haben.
Walisische Schafzüchter wie Tegid Jones profitieren stark von EU-Fördergeldern.© Deutschlandradio / Jenni Roth
Das Handschuhfach ist klein, das Papierchaos darin groß. Mit schuld daran sei die EU, sagt Tegid. Aber er lacht: Denn den Brexit hält er für katastrophal. Wie die meisten hier auf dem Markt: Klar, im Schnitt kriegen die Landwirte in Wales jedes Jahr 16.000 Euro von der EU. Und manche viel mehr. Glynn Jones zum Beispiel, der kurz vor seiner Pensionierung steht und gerade seinen Laster mit einem Wasserschlauch abspritzt.
Geschätzt 100.000 Euro pro Jahr kriegt Schafzüchter Glynn von der EU und trotzdem hat er für den Brexit gestimmt:
"Wir zahlen viel zu viel Geld in den EU-Haushalt ein! Wenn wir endlich raus sind, wird alles besser!"
Tatsächlich: Das Vereinigte Königreich ist nach Deutschland und Frankreich das drittbevölkerungsreichste Land der EU und somit auch der drittgrößte Nettozahler: Das heißt, die Briten zahlen mehr, als sie erhalten. Eine Milchmädchenrechnung, die alles abseits der Geldzahlungen ignoriert. Nicht mit eingerechnet sind zum Beispiel die indirekten Folgen der EU-Mitgliedschaft: Freies Reisen, Leben und Arbeiten für alle Briten innerhalb von 28 Ländern, hohe Verbraucherschutz-Standards, ein einheitlicher Forschungs- und Hochschulraum, der freie Handel innerhalb der EU. Und auch im internationalen Handel hat die EU als Staatengemeinschaft eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber Ländern wie China, USA und Japan. Plus mehr Sicherheit für potenzielle Investoren.
Aber letztlich hat nicht die Wirtschaft das Referendum entschieden, sondern das Gefühl. Demnach habe Brüssel mit seinen Vorgaben, die alle EU-Länder aushandeln, das Vereinigte Königreich gelähmt. Oder Brüssel beschneide die britische Souveränität, weil es bestimmt, was mit dem Geld passiere. Und noch etwas hat Schafzüchter Glynn Jones zu kritisieren:
"Die ganze Bürokratie und all die Formulare!"
Tegid: "Aber in Italien ist es ein einziges Papier, also ist wohl kaum die EU schuld an den vielen Papieren hier in Wales?"
Glynn: "Ach… Und diese ganzen Vorgaben! Warum in aller Welt müssen wir dauernd unsere Schafe zählen?"
Tegid: "Das geht eigentlichen keinen etwas an, das stimmt. In dem Punkt hast du Recht, Glynn."

Senior in Schafzüchter-Familie stimmte für Brexit

Die Auktion läuft nicht gut. 20 Pfund bekommt Tegid pro Tier. Die Preise sind jetzt schon schlecht, dazu kommen die Heupreise, die in letzter Zeit hochgeschnellt sind. Und er weiß nicht, wie es nach dem Brexit weitergehen soll. Für viele Landwirte in Wales könnte der EU-Austritt das Ende bedeuten.
"In der Schule ist es nicht so das Thema. Da sprechen wir eher über Mädchen (Lacht). Für uns wird es schwierig. Wo sollen wir das Fleisch denn hin exportieren? In diesem Land werden wir es jedenfalls nicht los. Die Preise werden absacken, das wird ein Teufelskreis."
Tegids Sohn Guto ist 15 Jahre alt. Gerade zurück aus der Schule, schiebt er sich ein paar Kekse in den Mund, solange er seine Brote im Toaster warmmacht. Er will auf alle Fälle die Farm seines Vaters übernehmen. Ein anderes Leben kann er sich gar nicht vorstellen. Die meisten seiner Freunde sind auch Kinder von Landwirten.
"In der Schule ist es meistens auch so, dass beim Sport immer ein Bauernteam gegen ein Stadtkinder-Team spielt. Wir bleiben schon sehr unter uns."
"Schafe züchten ist kein Job, es ist eine Lebensweise."
Trotz der drohenden wirtschaftlichen Probleme für die Schafzüchter-Familie hat der Senior, Tegids Vater, für den Brexit gestimmt. Wegen all der Regulierungen aus Brüssel, habe er gesagt.
"Aber auch, weil er die Daily Mail liest. Und glaubt, was drinsteht."

Die Anti-EU-Propaganda der englischen Zeitungen

"Die Daily Mail ist eine sehr rechtsgerichtete Zeitung. Oder die Sun: Vor dem Supermarkt haben sie die gratis verteilt. Ich kam da jeden Tag vorbei: Eine gratis Sun? Nein, danke… Aber er hat sie eben genommen. Das war Propaganda!"
"Your country needs you vote leave today" steht auf dem Titel der britischen Tageszeitung "Daily Express" in London am Tag der Abstimmung
Nicht nur die englische Zeitung "Daily Express" titelt am Tag der Abstimmung 2016, dass die Leser für den Austritt aus der EU stimmen sollen.© picture alliance / dpa/ Michael Kappeler
Dass Tegids Vater nicht der einzige Befürworter im Ort war, lag auch an der Presse, glaubt Tegids Frau Meinir. Tatsächlich hat Wales im Gegensatz zum proeuropäischen Schottland keine starken regionalen Zeitungen, als Kontrapunkt zur Anti-EU-Stimmung der englischen Presse.
"Ihnen wurde eine Lüge aufgetischt! Am Tag nach dem Referendum meinten viele: Das war nicht die letzte Abstimmung, oder? Ich kann mich doch noch umentscheiden? Nein! Da saßen Leute vor dem Fernseher und haben geweint: Was, wen ich einen Fehler gemacht habe? Die Landwirte waren sich der Dimension eher bewusst, weil sie so abhängig sind von der EU. Aber andere Leute unten in Machynlleth, vielleicht war ihnen das nicht so klar."
"Es klang eben glamourös! Zu sagen, alles bleibt wie es ist, ist ja langweilig. Vielleicht wollten sie gar nicht wirklich raus, aber es klang doch so gut. Es gab ja noch nicht mal ein Wort fürs Drinbleiben. Aber Brexit! Ein aufregendes neues Wort!"
"Ich dachte mir nur: Denk nach! Schau dir die Realität an! Aber sie schauten zurück in die Zeit, als sie jung waren: Dieser Sommer, der war perfekt... Aber nein! Du warst einfach nur jung! Viele, die für den Brexit gestimmt haben, sind inzwischen tot. Ich glaube, wenn wir jetzt nochmal abstimmen würden, würde es anders ausgehen, weil viele ältere Menschen für den Brexit gestimmt haben."

Die Lüge über 350 Millionen Pfund fürs Gesundheitssystem

In der Tat: Die Generation "65Plus" hatte mit 90 Prozent die höchste Wahlbeteiligung und mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt. Sie glaubten auch ein zentrales Versprechen von Politikern wie Nigel Farage, der betonte, dass die Briten 350 Millionen Pfund sparen könnten, die sie bisher wöchentlich an die EU zahlen. Mit dem Geld könne man jede Woche ein neues Krankenhaus bauen oder eine andere Lücke im NHS, dem chronisch unterfinanzierten staatlichen Gesundheitssystem, schließen. Aber schon kurz nach dem Votum distanzierten sich Farage und andere von dem Versprechen. Das NHS könnte weiter so dastehen wie bisher.
Änderungen wird es wohl woanders geben: Viele Waliser sorgen sich, dass die Regierung in London versuchen könnte, Arbeits- oder Umweltstandards zu senken, um so für internationale Konzerne attraktiver zu sein.
Meinir fürchtet auch um die walisische Sprache, die für alle Nicht-Waliser so unvergleichlich exotisch klingt und auf die die Waliser so stolz sind. Es gibt nichts, das nicht in beiden Sprachen dokumentiert ist, und die walisische Version steht auch auf Straßenschildern immer oben.
"Die walisische Sprache zählt in der EU viel mehr als in London. In der EU wird sie anerkannt als kleine und alte Sprache, da erfahren wir Respekt. ."

Walisischen Landwirte spielen für London keine Rolle

Ein paar hundert Meter entfernt von Tegids und Meinirs Farm wohnt der Bauerngewerkschafter Nick Fenwick, versteckt in einem Waldstück auf einem Hügel. Die landschaftliche Schönheit hier steht im Kontrast zum düsteren Süden, dem ehemaligen Zentrum der britischen Stahl- und Kohlebergwerke. Bis in die Mitte der 80er waren sie das Herzstück der walisischen Wirtschaft. Cardiff war einst der weltgrößte Ausfuhrhafen für Kohle. Ab den frühen 70er-Jahren begannen aber massive Umstrukturierungen, inzwischen ist die Industrie quasi verschwunden. Viele Jobs wurden mit EU-Hilfe durch neue ersetzt: Etwa in der Automobilzulieferung, Unterhaltungselektronik, Informationstechnologie oder Dienstleistung.
Nun steht durch den Brexit auch die Landwirtschaft vor einem Umbruch. Als Kopf der Bauerngewerkschaft will Nick das beste für seine Kollegen rausholen – in London und in Brüssel:
"Zurzeit beschäftige ich mich in 80 Prozent meiner Arbeitszeit mit dem Brexit und all seinen möglichen Folgen."
Ihn treibt zum Beispiel um, dass die walisischen Landwirte für London keine Rolle spielen und bei Handelsdeals untergehen könnten. Ein Beispiel: Die Briten schließen ein Handelsabkommen mit Australien, um freien Marktzugang zu haben. Aber im Gegenzug darf Australien sein billiges Rindfleisch hier anbieten. Wer kauft dann noch das teurere Fleisch der walisischen Züchter? Sie hätten dann keine Abnehmer mehr im eigenen Land und auch der europäische Binnenmarkt würde künftig wegbrechen, sorgt sich Nick:
"Wenn wir morgen aus der EU austreten, darf ich die Nahrungsmittel, die ich heute produziere, morgen nicht in Deutschland verkaufen. Da müsste erst ein extra Abkommen ausgehandelt werden. Es ist alles sehr komplex. Es fängt mit solchen ‚kleinen‘ Dingen an und geht hin bis zu Zollfragen und den Quoten, die in der Welthandelsorganisation WTO geregelt sind. Ein großes Thema in Wales ist zum Beispiel die Fleischimportquote aus Neuseeland. Wenn die wegfällt, können wir gegen die Konkurrenz aus Neuseeland nicht ankommen."
Die Unsicherheit ist groß. Der Brexit könnte Handelshemmnisse bringen und immer neue, einzelne Abkommen nötig machen. Das klingt nach mehr Bürokratie und Papierkram als mit der EU. Klar ist: Engländer und Waliser werden die Politik ganz neu abstecken und verhandeln müssen. Bisher gab es in Schottland oder Wales zwar auch verschiedene Regeln und Budgets – aber alle in einem europäischen Rahmen.
"Die EU hat uns vor Leuten geschützt, die ländlichen Gebieten das Geld entziehen wollen: Ich würde sagen, diese Abneigung gegen Subventionen ist ein Erbe von Margaret Thatcher. Egal welche Partei in London regiert, sie wird immer gegen Fördergelder sein. Solange wir in der EU sind, können sie sich damit nicht durchsetzen, aber wer weiß, was nach dem Brexit kommt."
Gerade die walisischen Landwirte könnten noch weitere Sonderrechte verlieren: So nutzt Wales die EU-Option, ihnen für die ersten Hektar größere Summe zu zahlen, damit kleinere Höfe überleben können. Wenn diese Regel kippt, könnte das für Bauern wie Tegid existenziell sein.

Propaganda über Migration war schuld

Die Metzgerei im Ort gehört William Lloyd Williams. Er arbeitet eng mit den lokalen Erzeugern zusammen und spürt die Folgen des Brexit schon jetzt. Die Leute seien unsicher, sagt er und kauften deshalb weniger.
"Früher war es so: Da ist ein halbes Lamm, 48 Pfund, nehme ich. Aber jetzt sagen die Leute: Lass uns ein paar Koteletts kaufen, die kosten nur 20. Und das macht für mich einen großen Unterschied. Die Leute sind verunsichert, wissen nicht, ob sie eine Rente bekommen. Aber der Brexit wird unseren Ort auch sonst hart treffen: Wenn ein Bauer Geld hat, kauft er seinen Kindern Schuhe am Laden an der Ecke. Dann hat der Schuhhändler mehr Geld und kauft bei mir mehr Fleisch. So funktioniert die lokale Wirtschaft. Und wenn man die Landwirtschaft als Schlüsselindustrie niedermacht, und der Bauer kein Geld mehr hat, funktioniert der Kreislauf nicht mehr."
Metzger William Lloyd Williams steht vor seiner Fleischtheke. Er sorgt sich um ländliche Regionen in Wales nach dem Brexit.
Metzger William Lloyd Williams sorgt sich um ländliche Regionen in Wales nach dem Brexit.© Deutschlandradio / Jenni Roth
Dabei hat Metzger Williams durchaus viel Kritik an der Europäischen Union. Er beschwert sich über Regulierungen, Bürokratie, über hohe Kosten.
"Schmeckt das Fleisch jetzt besser als vorher, als es den ganzen Papierkram nicht gab? Und warum gibt es all diese Kontrollen, warum muss immer ein Tierarzt dabei sein, wenn wir gesunde, saubere Tiere schlachten?"
Aber auch wenn ihn manches an der EU nervt, Lloyd Williams ist enttäuscht von seinen Landsleuten, die für den Brexit gestimmt haben. Auch er glaubt, dass die Propaganda schuld war, die unter anderem auf das Thema Migration setzte. Der Tenor: Die vielen Arbeiter aus Osteuropa, besonders aus Polen, nehmen euch die Jobs weg.

"Weit entfernt von einem Land, wo Milch und Honig fließen"

Zurück bei Iain und Judith. Sie machen sich Gedanken über die Folgen des Brexit für die Politik in Wales und über den Zusammenhalt im Land. Paradox: Obwohl in Umfragen die Mehrheit der Waliser mehr Befugnisse für das regionale Parlament will, werden sie künftig abhängiger von der Zentralregierung in England sein.
"Die walisische Regierung ist in einer Zwickmühle, die Labour Party wollte ja in der EU bleiben. Und will auch weiter so eng es geht mit Europa zusammenarbeiten."
In Wales regiert die linke Labour Party und eigentlich wollte ihr pro-europäischer Erster Minister Carwyn Jones im Amt bleiben und für seine Landsleute den Ausstieg bestmöglich mitverhandeln. Aber dann ist auch er zurückgetreten. Sein Nachfolger wird wohl versuchen, die gemeinsame Agrarpolitik fortzusetzen und für die Strukturförderung "unter den derzeit geltenden Bedingungen" zu kämpfen. Dem wird die EU ohne britische Gegenleistung aber kaum nachkommen.
Und selbst wenn das Vereinigte Königreich wie Norwegen Teil des Europäischen Wirtschaftsraums würde, wäre für die Brexit-Anhänger wenig gewonnen: In Norwegen gelten rund 80 Prozent der Vorschriften des EU-Binnenmarkts. Nur das Mitspracherecht gibt es nicht.
"Wenn diese Wirtschaftsszenarien stimmen, werden wir so viel schlechter dastehen. Es wird viel mehr Kürzungen geben in der Politik und wir werden weit entfernt sein von einem Land, in dem Milch und Honig fließen."
"Die Leute sagen, wenn wir mal draußen sind, kriegen wir unsere Fischereiwirtschaft zurück. Aber der Grund, dass es so viele Vorgaben gibt, ist doch, weil die Fischbestände zurückgehen! Das muss man international regeln! Und wenn Leute sagen, wir können unsere Stahlindustrie wieder ankurbeln – nein! Der Stahl kommt jetzt aus Indien!"

Brexit ist ein Symptom für den Riss durch die Gesellschaft

Judith und Iain fürchten, die EU könnte nach dem Brexit ein Exempel statuieren: Brüssel könnte die Briten lange zappeln lassen, wenn sie wieder in den EU-Binnenmarkt wollen, um so andere austrittswillige Staaten abzuschrecken.
"Am Ende geht es aber weniger um die Wirtschaft als um ein Zugehörigkeitsgefühl. Ich fühle mich als EU-Bürgerin. Das sind auch sehr emotionale Identitätsfragen. Auf alle Fälle fühlt sich diese Art der Isolation sehr falsch an."
Schon jetzt haben die vier Nationen im Vereinigten Königreich wenig gemein und zeigen wenig Solidarität. Ironischerweise hält gerade das EU-Recht Großbritannien zusammen. Das bleibt auch erstmal erhalten, bis das Parlament entscheidet, welche Gesetze es behalten und welche es verwerfen möchte. Das alles bedeutet nicht nur politisches Chaos, glaubt Judith.
"Da zieht sich ein Riss durch unsere Gesellschaft. Und der Brexit ist ein Symptom für diesen Bruch."
Stadt gegen Land, Jung gegen Alt, Gut- gegen Schlechtausgebildete. So eine Spaltung höhlt die Grundlage des Wohlfahrtsstaates aus: die Solidarität. Das Gefährliche: In einer emotional gespaltenen Gesellschaft verbindet einen nichts mehr, man fühlt sich für nichts und niemanden verantwortlich.
"Ich gebe die Hoffnung ja nicht auf, dass es sich doch noch dreht. Dass es wenigstens einen weichen Brexit gibt .Aber dann können wir doch gleich in der EU bleiben!"
Die EU-Flagge bei Judith und Iain im Garten jedenfalls, die bleibt – ob mit oder ohne Brexit.
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