Israel und Libanon

Vergiftete Nachbarschaft

30:23 Minuten
Israelische Soldaten bei der Invasion im Libanon 1982
Am 6. Juni 1982 marschierte Israel in den Libanon ein und die Armee drang rasch bis Beirut vor. © Getty Images / Bryn Colton
Von Anne Françoise Weber · 01.06.2022
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Vor 40 Jahren, im Juni 1982, rückten israelische Truppen bis Beirut vor. Der Libanonkrieg ist trauriger Höhepunkt in den schwierigen Beziehungen der beiden Nachbarländer. Viele Menschen leiden bis heute unter den Folgen, auf beiden Seiten der Grenze.
Metula, ein Dorf im nördlichsten Zipfel Israels. Von drei Seiten ist der Ort von einem Grenzzaun umgeben, dahinter liegt der Libanon. Auf einem Parkplatz an diesem Zaun steht Aaron Goldfinger und wartet auf seinen Enkel. Der hat Israel auf seinem Motocross durchquert und soll gleich hier ankommen.
„Ein sehr netter, kleiner, ruhiger Ort hier. Obwohl es hier, wo wir stehen, die Hölle sein kann, wenn der Konflikt aufflammt“, erzählt er. „In den letzten Jahren war es ruhig. Da drüben wird gearbeitet. Ich glaube, sie haben ein paar Tunnel gefunden, mit denen sich die Hisbollah bis hierher graben wollte. Die blockieren sie jetzt.“
Der pensionierte Journalist deutet auf das Niemandsland mit der Armeestraße hinter dem Grenzzaun. Er kennt die Gegend gut – Anfang der 1960er war er hier als Soldat stationiert.
An einer Wand hängen mehrere Schwarz-Weiß-Fotos.
"Es war sehr ruhig": Im Rathaus von Metula hängen alte Fotos von der Grenze zum Libanon.© Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
„Mit dem Libanon hatten wir jahrelang gute Beziehungen. Es war sehr ruhig, die Leute konnten über die Grenze gehen und ihre Felder auf der anderen Seite bestellen – bis die radikalen Kräfte erstarkt sind. Das hat die ganze Situation verschlechtert“, sagt er.

Keine Raketen, aber Provokationen

In seinem Büro in Metula erklärt Alex Melnikov, der Leiter des Gemeindezentrums, dass die Grenze nicht ganz so ruhig ist, wie sie wirkt.
„Auch heute gibt es einige Versuche, die Grenze zu überqueren oder zu beschädigen. Es fliegen keine Raketen, aber die Provokationen gehen schon weiter. Bis hin zu einer Art Umweltterror. Auf der anderen Seite des Grenzzauns dort lagern die Libanesen Müll und Abwasser, sodass sich dort Fliegen ansiedeln und hierherkommen. Also bis heute erlebt Metula Terror – dabei gibt es gar keinen Konflikt um den Ort“, erklärt er.
„Das hier ist einfach eine Siedlung, keine arabische, sondern eine jüdische, und die wollen sie stören. Das ist das Traurigste an der Geschichte. Andere Gebiete sind politisch umstritten. Aber hier ist das nur Terror um des Terrors willen. Ich habe kein anderes Wort, das zu beschreiben. So ist die Realität.“

1948 – Unabhängigkeit und Angriff auf Israel

Um zu verstehen, wie diese Realität entstanden ist, warum die Grenztore in Metula heute geschlossen sind und wer früher hier aus dem Libanon kam oder dorthin ging, hilft ein Blick in die Geschichte.
Im Mai 1948 erklärt der Staat Israel seine Unabhängigkeit – und fünf arabische Staaten greifen Israel an. Sie wollen die palästinensische Bevölkerung verteidigen.
„Israel besetzte eine sogenannte Sicherheitszone an der Grenze, zehn, 15 km in den Libanon hinein. Von dort zog es ab, als ein Waffenstillstand geschlossen wurde“, sagt Eyal Zisser. Der Professor für Geschichte an der Universität von Tel Aviv erklärt, dass der Libanon zwar als Teil der arabischen Koalition an diesem Krieg beteiligt war.
Für die Bevölkerung sei er aber nicht besonders wichtig gewesen: „Es war also nicht wirklich ein Krieg, es gab nicht wirklich Gefechte. Die meisten Libanesen waren an der Sache nicht sehr interessiert und haben gern ein Abkommen unterzeichnet.“
In einem südlibanesischen Dorf allerdings verübten israelische Soldaten im Oktober 1948 ein Massaker. Trotzdem existierten die beiden Staaten danach erst mal weitgehend friedlich nebeneinander – und waren doch sehr unterschiedlich, wie sich Bettine Amir erinnert.
„Ich hatte ein sehr schönes Leben im Libanon. Das war wirklich das Paris des Nahen Ostens. Die schönen Frauen, die schönen Autos, schöne Kleidung, Skifahren – ein schönes Leben.“ Bettine Amir, 1934 geboren, ist als Tochter eines wohlhabenden jüdischen Paares europäischer Herkunft in Beirut aufgewachsen.

Ohne die Eltern von Beirut nach Israel

Nicht einmal volljährig entschied sie sich, ohne ihre Eltern nach Israel zu ziehen – in einen Staat, der sich militärisch behauptet hatte, aber noch aufgebaut werden musste.

Ich bin hier genau in der Zeit der Rationierungen angekommen, 1950, als es nichts zu essen gab. Ich kam mit schönen Kleidern und allem an. Ich wurde die Pariserin genannt, ich war sehr elegant, hatte viel Erfolg hier und wurde schnell aufgenommen. Aber es war ein Schock, als ich ankam.

Dennoch wollte ich in Israel sein, weil wir wussten, dass hier die Frauen emanzipiert waren – und im Libanon nicht. Und ich wollte diese Freiheit – zu leben, zu sein und mich zu äußern, die ich hier gefunden habe.

Bettine Amir

Doch nicht für alle – etwa 9000 – libanesischen Juden und Jüdinnen war die Auswanderung in das krisengeschüttelte Israel attraktiv. So wie die Eltern von Bettine Amir blieben viele zunächst im Libanon. Die dortige jüdische Gemeinde wuchs sogar noch, während in anderen arabischen Ländern die Abwanderung begann.
Die Familie von Isaac Balayla entschloss sich erst 1968 zur Auswanderung nach Israel. Obwohl sie sich nach dem Sechstagekrieg im Libanon bedroht fühlte, ging sie schweren Herzens. „Viele Menschen liebten den Libanon sehr. Mein Vater beschwerte sich immer, wie schwer das Leben hier war und wie viel leichter und besser es im Libanon sei, wo die Leute freundlicher und höflicher waren“, erzählt er.
„Er eröffnete eine kleine Druckerei und ging dort immer in Anzug und Krawatte hin - alle lachten über ihn. Er mochte die Mentalität der Leute hier nicht und auch nicht, dass viele ihn betrogen. Im Libanon waren die Juden die Starken und hier wurden sie zu den Schwachen.“
Isaac Balayla zeigt ein Kinderbild von sich und seinen drei Schwestern.
"Im Libanon waren die Juden die Starken": Isaac Balayla zeigt ein Kinderbild von sich und seinen drei Schwestern.© Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Der damals 8-jährige Isaac Balayla bemühte sich gleich um Integration: Er sprach kein Wort Arabisch mehr und lernte schnell Hebräisch – die Buchstaben kannte er schon aus dem Thora-Unterricht in Beirut. Er konnte nicht ahnen, dass ihn die Politik wieder in seine Geburtsstadt zurückbringen würde.

Libanon wird Basis von Fatah und PLO

Juni 1967. Im Sechstagekrieg kämpfte Israel gegen Ägypten, Jordanien, Irak und Syrien. Der Libanon war nicht beteiligt, auch nicht am Jom Kippur-Krieg 1973.
Dennoch verschlechterten sich die Beziehungen, denn der Libanon hatte 1948 und 1967 zahlreiche palästinensische Flüchtlinge aufgenommen. So wurde das kleine Land bald auch zur Basis für deren politisch-militärische Vertreter.

Die Fatah-Organisation wurde schon 1965 in Damaskus etabliert. Von da an versuchten sie, auch aus dem Libanon heraus gegen Israel vorzugehen. Nicht die Libanesen, sondern die Syrer schickten sie. Die Grenze war schon 1966 nicht mehr ruhig, und 1968/69 wurde es richtig heiß – noch mal mehr, nachdem die PLO aus Jordanien vertrieben wurde und sich im Libanon niederließ. Da wurde es zur offenen Front.

Eyal Zisser

Auch innerhalb des Libanon war die Präsenz palästinensischer Organisationen ein Problem. Das fragile Gleichgewicht zwischen den verschiedenen muslimischen und christlichen Bevölkerungsgruppen geriet weiter ins Wanken.
Besonders die mehrheitlich christlich-maronitische Partei der Falangisten begann, ihre Milizen gegen die Palästinenser einzusetzen. Ab 1975 versank das Land im Bürgerkrieg, in den sich bald das benachbarte Syrien einmischte.

Politische Zeitenwende in Israel

Israel erlebte in diesen Jahren eine innenpolitische Zeitenwende. Die jahrzehntelange Dominanz der europäisch geprägten sozialdemokratischen Arbeitspartei ging zu Ende. Der konservative Likud gewann 1977 die Parlamentswahl, und dessen Chef Menachem Begin wurde Ministerpräsident.
Unter Begins Regierung war es auch mit der israelischen Zurückhaltung gegenüber dem nördlichen Nachbarn Libanon vorbei. „Begin war besessen von der Idee, die Christen zu unterstützen. Und die waren schlau genug, das auszunützen“, erklärt der Historiker Eyal Zisser von der Universität Tel Aviv.
Eine christliche Enklave als Bündnispartner in unmittelbarer Nachbarschaft: Davon hatte schon Israels Staatsgründer David Ben Gurion geträumt. Der libanesische Bürgerkrieg schien die Gelegenheit für solche christliche Abspaltung vom libanesischen Staat zu bieten. Zumal die christliche Bevölkerung gerade im Süden des Landes in Bedrängnis war.
Ein Mann von dort, der heute in Metula lebt, erinnert sich: „Als der Bürgerkrieg im Libanon begann, die Armee sich spaltete und Yassir Arafat hier Fatah-Land aufbaute, da wollte er von den Grenzdörfern Bomben nach Israel schießen. Wir hatten kein Problem mit den Palästinensern oder Arafat. Aber wir hatten Angst – sie wollten in unsere Dörfer kommen und von hier Geschosse nach Nordisrael feuern. Und Israel würde uns dann aus der Luft bombardieren. Das war das Grundproblem.“

Schwierige Lage in der Grenzregion

Also schlossen er und andere sich einer Abspaltung von der libanesischen Armee an. Vom libanesischen Staat sei ihr Gebiet völlig vernachlässigt worden, erklärt der Mann, der im folgenden Tarek heißen soll. Denn seinen Namen und sein Heimatdorf will er nicht nennen – aus Angst vor Repressalien gegen seine Verwandten im Libanon.
Als muslimische Milizen in der Grenzregion wüteten, wandten sich die Bewohner an Israel, um ihre Verwundeten versorgen zu lassen. Israel bot ihnen Unterstützung und Arbeitsplätze an – viele griffen zu.

Sie gingen morgens nach Israel, arbeiteten dort und kehrten abends wieder zurück – hier gab es kein Geld, kein Essen, keine Getränke, keine Medikamente, nichts, was man zum Leben braucht. Wenn man so jemanden zurückkommen sah, der mit seinem Lohn dort Essen kaufen konnte, fragte man sich: Warum arbeite ich da nicht? So kamen immer mehr Leute nach Israel. Sie haben in Fabriken, in der Landwirtschaft gearbeitet, in Krankenhäusern, Cafés… egal was – Hauptsache, sie kamen abends mit zehn, 15 Dollar wieder nach Hause.

Tarek

Tausende überqueren täglich den „Guten Zaun“

Bis zu 3000 Menschen überquerten täglich die Good Fence, „Guter Zaun“, genannte Grenze. Doch der friedliche grenzüberschreitende Austausch war trügerisch. Die Gefolgsleute Arafats hatten andere Interessen als die meisten Bewohner grenznaher libanesischer Dörfer.
1978 nahmen palästinensische Terroristen auf einer Küstenstraße in Nordisrael zahlreiche Geiseln und töteten rund 40 Menschen. Wenige Tage später besetzte die israelische Armee einen Streifen des Südlibanon, um weitere Anschläge zu verhindern.
Auf Intervention der Vereinten Nationen zog sich die israelische Armee nach einigen Wochen wieder zurück, doch vor Ort vertrat sie von nun an die mehrheitlich christliche Miliz, der auch Tarek angehörte. Unter dem Namen Südlibanesische Armee, kurz SLA, kämpfte sie gegen die palästinensischen Organisationen – und hatte in ihren Reihen auch Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen, wie Tarek betont.

Juni 1982 – Israels Feldzug gegen den Libanon

„Dann wurde Ariel Sharon 1982 Verteidigungsminister und er hatte – entweder mit oder ohne Begin – eine große Vision. Die Idee ist, das unmittelbare Problem zu lösen: die Angriffe auf Israel aus Südlibanon“, erklärt Eyal Zisser.
„Aber wenn wir es so tun könnten, dass wir die Syrer und die PLO aus dem Libanon vertreiben und das ganze Konzept des palästinensischen Nationalismus schwächen können und wenn wir dann noch dafür sorgen können, dass ein israelfreundlicher Christ Präsident wird – warum nicht?“
Eyal Zisser posiert vor einem Regal mit Büchern für ein Foto.
Ariel Sharon, der 1982 Verteidigungsminister Israels wurde, hatte eine "große Vision", erklärt Historiker Eyal Zisser.© Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Offiziell vertrat Sharon den Plan, die israelisch-libanesische Grenzregion zu befrieden, tatsächlich hatte er aber schon die Einnahme der Hauptstadt Beirut im Sinn. Als eine palästinensische Splittergruppe ein Attentat auf den israelischen Botschafter in London verübte, war der äußere Anlass für die Invasion gegeben.
Am 6. Juni 1982 marschierte Israel ein und die Armee drang rasch bis Beirut vor – der Rekrut Isaac Balayla, dessen Familie 1968 vom Libanon nach Israel ausgewandert war, war dabei. „Ich war damals sehr glücklich über den Krieg – für mich war das wie große Ferien, eine Rückkehr ins Vaterland“, erzählt er.
Zusammen mit General Yitzhak Mordechai, der in dem jungen Soldaten den ortskundigen Führer erkannt hatte, besuchte Balayla auch das jüdische Viertel in Beirut.

Yitzhak Mordechai rezitierte ein Gebet, wie ein Kantor, er hatte eine wunderbare Stimme. Die jüdische Gemeinde war da. Dann stellte ich mich vor. Und die Leute begannen, mich zu umarmen. Sie waren älter als ich, ich war 22, sie über 30. Und sehr aufgeregt, vor allem eine Frau, die sich an mich als Schüler erinnerte. Es war sehr aufregend und ich war sehr glücklich, dort zu sein.

Isaac Balayla

In den folgenden Wochen traf Isaac Balayla auch noch Verwandte im Libanon. Er erinnert sich voller Freude an diese Zeit zurück – und weiß genau, wie absurd das für andere klingen mag.

„Es war ein gewählter Krieg, der unnötig war“

Zum Beispiel für den Politikwissenschaftler Sami Chetrit, damals ebenfalls als junger Rekrut im Einsatz. „Dieser Krieg war selbst gewählt. Wir wussten das nicht, wir waren sehr jung, fast noch Jugendliche. Danach haben wir verstanden, dass es nur ein politisches Spiel von Ariel Sharon und General Rafael Eitan war – selbst Premierminister Begin wusste das nicht“, sagt er.
„Es war ein gewählter Krieg, der unnötig war. Erst in letzter Zeit habe ich verstanden, dass wir alle traumatisiert waren, aber wir kannten den Begriff nicht. Wie heißt das… PTBS, posttraumatische Belastungsstörung. Davon hatten wir nie gehört, 1982. Aber wir kamen offensichtlich alle schwer zerschrammt aus diesem Krieg.“
Bis heute kann Sami Chetrit weder Feuerwerk ertragen noch den Geruch von Schwefel – aber er brauchte lange um zu verstehen, dass ihn in solchen Situationen Erinnerungen an den Libanonkrieg quälen.
Ähnlich ergeht es dem israelischen Regisseur Ari Folman. Er arbeitete seine Kriegserfahrungen 2008 in dem Zeichentrickfilm „Waltz with Bashir“ auf.

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„Wir sahen, wie sie die libanesischen Abgeordneten in israelischen Panzern zur Abstimmung brachten. Das war so verrückt“, sagt Sami Chetrit. Er war 1982 rund 45 Tage lang im Libanon im Einsatz. Er war dabei, als die PLO nach langen Verhandlungen im August schließlich den Libanon verließ.
Zuvor hatte er miterlebt, wie das libanesische Parlament den Führer der christlichen Falangisten, Bashir Gemayel, zum Präsidenten wählte.
„Schon damals war ich angewidert. Meine Ablehnung wurde täglich stärker, ich wollte nur weg. Als ich weg war, brachten sie Bashir Gemayel um, die Syrer oder wer auch immer. Und dann passierte Sabra und Schatila – zum Glück war ich nicht dort, sonst wäre ich noch traumatisierter gewesen.“ ZITAT Sami Chetrit

Die Massaker von Sabra und Schatila

Nach der Ermordung Gemayels gingen dessen Falangisten in die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila am Rande von Beirut, mit dem Auftrag, Terroristen aufzuspüren. Sie ermordeten Hunderte, wenn nicht Tausende Frauen, Männer und Kinder – die genauen Zahlen sind umstritten. Israelische Soldaten umringten währenddessen die Lager.
Eine kurz danach eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass die israelische Führung zumindest indirekt für das Massaker mitverantwortlich war. Verteidigungsminister Ariel Sharon musste zurücktreten.
„Als Bashir Gemayel ermordet wurde, war das ein Zeichen: Geht raus hier, bevor es zu spät ist. Aber sie gingen nicht raus, sondern rein, besetzten West-Beirut und ließen die Falangisten in die Flüchtlingslager. Sabra und Schatila war auch ein Zeichen: Vergesst all eure Träume“, sagt Eyal Zisser.
„Aber das taten sie nicht, sondern versuchten, ein Friedensabkommen zu erreichen. Dabei war deutlich, dass die Regierung in Beirut keine Macht hatte. Es wurde zwar ein Abkommen unterzeichnet, aber nie von Regierung und Parlament ratifiziert; es war also wertlos.“
1985 zog sich die israelische Armee schließlich aus dem weiter vom Bürgerkrieg zerrissenen Libanon zurück. Sie behielt aber die Grenzregion im Südlibanon besetzt, um Israel vor Angriffen zu schützen. Diese Präsenz war vielen Libanesen ein Dorn im Auge, vor allem einer neu entstandenen schiitischen Gruppierung - der Hisbollah.

Der Abzug der Israelis aus dem Libanon

15 Jahre blieb die israelische Armee im Südlibanon. 15 Jahre, in denen der Good Fence in Metula offen war, Bewohner des Südlibanon zur Arbeit nach Nordisrael kamen und Mitglieder der SLA, der Südlibanesischen Armee, mit Israel zusammenarbeiteten – unter anderem beim Aufbau eines Gefängnisses, in dem vor allem Kämpfer der Hisbollah inhaftiert und zum Teil gefoltert wurden.
Zahlreiche Terroranschläge und Gegenschläge durch die israelische Armee forderten in diesen 15 Jahren fast 3000 Menschenleben auf beiden Seiten. In Israel wuchs der Protest.
Journalist Aaron Goldfinger produzierte eine wöchentliche Talkshow, in der ständig der Druck auf die Regierung erhöht wurde. Schließlich entschied sich Premierminister Ehud Barak zum Abzug - wofür er stark kritisiert wurde.
Goldfinger erklärt dagegen: „Die Entscheidung für den Abzug war richtig. Sie kam viele Jahre zu spät, es gab zu viele Opfer, auf beiden Seiten. Und es war keine einfache Entscheidung. Ich war einmal hier mit dem Bürgermeister von Metula unterwegs. Ein Geheimdienstoffizier führte uns herum. Die Armee wollte da schon abziehen. Aber er sagte: Kein Politiker wird so eine Entscheidung fällen, denn wenn am nächsten Tag etwas passiert, dann wird er gefeuert. Deswegen brauchte die Entscheidung so lange. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Und tatsächlich gab es danach hier ständig Angriffe.“

Chaotische Szenen am Good Fence

Der Abzug erfolgte überraschend im Mai 2000, in einer Nacht-und Nebel-Aktion, sechs Wochen vor dem angekündigten Termin.
Eyal Zisser weiß, warum: „Weil man es nicht vorab sagen konnte - die SLA wäre dann zusammengebrochen – deshalb musste bis zur letzten Minute gezeigt werden, dass man immer noch da ist. Als dann klar wurde, dass die Israelis abziehen, kam es zum völligen Kollaps. Wie in Afghanistan. Das kann man unter solchen Umständen nicht vorbereiten.“
Und so kam es am Good Fence in Metula zu chaotischen Szenen. Der Libanese Tarek erinnert sich.

Eine große Zahl, bis zu 6000 Menschen, kamen zum Grenzübergang, viele Kinder und Frauen. Sie hielten sich am Grenzzaun fest und weinten, über unser Leben, über die vergangenen 25 Jahre und über die mehr als 600 jungen Männer, die getötet worden waren. Wir sind hierhergekommen, aber wir wollten das nicht.

Tarek

Sie hatten die Grenze passiert, waren nach Israel gekommen, um zu arbeiten, aber nicht um in Israel zu leben. Er wohne jetzt in Metula, um sein libanesisches Dorf täglich zu sehen und zu hören, wenn dort die Kirchenglocken läuten, sagt Tarek. An eine Rückkehr sei aber nicht zu denken, bis heute nicht.
„Wenn wir in den Libanon zurückgehen würden, würden sie uns töten. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hätte seine Drohung bestimmt wahr gemacht und würde es heute auch noch tun. Er droht, aber das ganze libanesische Volk ist gegen uns und würde uns gern abschlachten“, sagt er.
„Das Geld, das wir ihnen schicken, nehmen sie aber gern an. Wir wollten nicht hierbleiben, aber die Umstände und das Leben haben es so gemacht. Und hier haben uns die Leute nicht als Verräter bezeichnet. Wir haben unser Land auch nicht verraten. Wir haben dem Libanon geholfen.“

Der nächste israelisch-libanesische Krieg

Der Abzug der Israelis und der Südlibanesischen Armee reichte nicht, um das Verhältnis der Nachbarländer zu befrieden.
Anfang Juli 2006 überwanden Terroristen der Hisbollah den Grenzzaun, töteten drei israelische Soldaten und nahmen zwei als Geiseln. Israel reagierte mit Luftschlägen – ein neuer Krieg begann und kostete vor allem im Süden Libanons über tausend Menschenleben.

ARD-Korrespondent Torsten Teichmann berichtete am 17. Juli 2006 aus dem Norden Israels:

„Die Straße vor einem Haus in Haifa ist abgesperrt, Polizisten brüllen in Megafone, Krankenwagen transportieren Verletzte ins Hospital. Im dritten Stock des Gebäudes fehlt die Fassade vollständig. Gelbe Vorhänge zeigen, wo kurz zuvor noch Fenster waren. Der Einschlag einer Rakete der Hisbollah hat das Haus zerstört, eine ältere Frau sitzt auf einer Treppe und ruft immer wieder den Namen ihres Sohnes: Chaim.“

Der Reporter ließ auch einen Anwohner zu Wort kommen:

„Die Sache ist vorbei, wenn die Terroristen ihre Anschläge einstellen. Israel ist bereit, die Gegenschläge einzustellen, wenn die entführten Soldaten freikommen und die Raketen nicht mehr fliegen. Dann wird Israel reagieren und die Situation beruhigt sich.“

Vier Wochen nach Kriegsbeginn forderten prominente israelische Schriftsteller in einer Pressekonferenz die israelische Regierung auf, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Unter ihnen David Grossman. Sein Sohn Uri war zu diesem Zeitpunkt als Panzerkommandant im Libanon-Einsatz.
Zwei Tage später und wenige Stunden vor Beginn einer Waffenruhe wurde er durch eine Panzerabwehrrakete der Hisbollah getötet. David Grossman verarbeitete seine Trauer Jahre später in einem Buch. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte er 2013:

Kinder werden getötet, manchmal sinnlos, wie im Fall meines Sohnes. Aber ich glaube nicht, dass dies an einem unauslöschlichen Fluch liegt, an irgendwelchen religiösen Verfehlungen. Mein ganzes Erwachsenenleben habe ich mich politisch dafür engagiert, dass Kinder auf beiden Seiten, und nicht nur Kinder, sondern alle Menschen auf beiden Seiten nicht ihr Leben verlieren.

Ich versuche, erst mir und dann auch anderen immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass kein göttliches Gebot uns dazu aufruft zu töten und getötet zu werden, das Schwert zu nehmen und durch das Schwert umzukommen.

David Grossman

Gespannte Ruhe

2006 war der Krieg nach 34 Tagen vorbei. Auf die Frage, ob ein ähnlicher Konflikt noch einmal aufflammen könne, antwortet Historiker Eyal Zisser: „Theoretisch ja. 2006 rechnete niemand mit diesem Krieg, und niemand hatte Interesse daran – aber es gab Fehler auf beiden Seiten. Beide dachten, sie könnten das nicht hinnehmen und tatenlos zusehen – und dann findet man sich plötzlich in einem richtigen Krieg wieder.“
Im Augenblick gibt es aber die Hoffnung, dass die libanesische Bevölkerung angesichts der katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrem Land kein Interesse an einer neuen bewaffneten Auseinandersetzung hat - und dass die vom Iran unterstützte Hisbollah an Rückhalt verliert.
Auch sendet Israel Signale der Verständigung aus: Nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 wurde das Rathaus von Tel Aviv in den Farben der libanesischen Flagge erleuchtet.
Ende 2021 betonte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz bei einer nationalen Sicherheitskonferenz, die Bürger Libanons seien keine Feinde. Israel habe dem Libanon und vor allem der unterversorgten Armee bereits mehrfach Hilfe angeboten. Die Hisbollah aber dürfe nicht weiter erstarken.

Ein Denkmal für die Toten der SLA

Am geschlossenen Grenzübergang in Metula gibt es seit 2021 ein Denkmal. „Zur Erinnerung an die Soldaten der Südlibanesischen Armee, die in ihrem Dienst gefallen sind, als sie die Dörfer im Süden Libanons und im Norden Israels verteidigt haben“, ist dort auf Arabisch und Hebräisch zu lesen. Davor stehen eine libanesische und eine israelische Flagge einträchtig beieinander.
Eine israelische und eine libanesische Fahne stehen auf einer Steinplatte.
Bild der Eintracht: Am Denkmal für die Südlibanesische Armee stehen die Flaggen der Nachbarländer nebeneinander. © Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Für den Libanesen Tarek ist dieser Ort sehr wichtig.
„Als wir im Jahr 2000 hierherkamen, haben wir den Staat Israel gebeten, ein Denkmal zu errichten, um an die Märtyrer der Südlibanesischen Armee zu erinnern. Und daran, wie viele Libanesen getötet wurden, wie viele gelitten haben und vertrieben wurden, wie viele ins Ausland geflohen sind“, sagt er.
„Das israelische Volk und Touristen aus aller Welt sollen davon erfahren. Der Libanon hat nicht mal unseren Namen anerkannt, aber Israel hat uns dieses Denkmal für die SLA errichtet. So wird man noch in 200, 300 Jahren an uns denken.“
Alex Melnikov vom örtlichen Gemeindezentrum sagt, es sollten jetzt jährlich Zeremonien an diesem Denkmal stattfinden.
Er betont: „Das Denkmal ist wichtig für alle, nicht nur für die Soldaten von der SLA, auch für uns, für den Bürgermeister und für den Staat. Es wurde errichtet, um Danke zu sagen und die sogenannte Schicksalsgemeinschaft zu zeigen: zwischen uns und den Soldaten der Südlibanesischen Armee.“
Bleibt die Frage, ob sich das Grenztor neben dem Denkmal in Metula je wieder zu friedlichen Zwecken öffnen könnte? Historiker Eyal Zisser will das nicht ganz ausschließen.

Ja, wenn es Frieden mit Ägypten geben konnte, warum nicht auch mit Libanon? Es ist sicherlich sehr kompliziert. Der Libanon hat sich 2002 als einziges Land gegen die arabische Friedensinitiative gestellt, wegen der Palästinenser. Eines Tages – aber wann, das fällt mir schwer zu sagen.

Es wäre viel einfacher, wenn es in einem größeren Rahmen wäre. Israel und Libanon allein sind zurzeit nicht genug. Syrien, der Iran, die Hisbollah gehören dazu. Es ist kompliziert. Aber wenn es eines Tages Frieden mit Syrien geben sollte, dann kann auch Frieden mit Libanon sein.

Eyal Zisser

Eines Tages. Bis dahin hat der Krieg den israelisch-libanesischen Grenzraum verriegelt, und nur die Kirchenglocken dringen herüber zu Tarek und den anderen Menschen, die eigentlich lieber auf der libanesischen Seite der Grenze leben würden.

Autorin: Anne Françoise Weber
Es sprechen: Thomas Holländer, Ulrich Blöcher, Uwe Müller, Markus Hoffmann, Max Urlacher, Christiane Guth und die Autorin
Ton: Thomas Monnerjahn
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter

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