Sechstagekrieg von 1967

Der Bruch – ein Generationengespräch

Ein Panzer steht auf dem Skopusberg in Jerusalem, im Hintergrund ist die Hebräische Universität zu sehen.
Der Skopusberg im Nordosten Jerusalems war im Sechstagekrieg ein strategisch wichtiger Punkt. © Getty Images / Ullstein Bild
Von Ofer Waldman · 15.12.2021
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Dan Waldman ist noch zur Zeit des britischen Mandats in Palästina geboren, wuchs im geteilten Jerusalem auf. Sein Sohn Ofer erlebte die Stadt nur nach dem Sechstagekrieg von 1967, in dem Dan kämpfte. Ein Gespräch über Israel – von damals bis heute.
Wir sitzen in einem kleinen Garten an der Hauptstraße des Viertels Scheich Jarrach. Wenige Meter hinter uns verlief die Grenze, die Jerusalem für 19 Jahre teilte - bis Juni 1967, bis zum sogenannten Sechstagekrieg. Mein Vater, Dan Waldman, damals 25 Jahre jung, kämpfte hier, in dem Krieg, der alles ändern sollte.
„Es war Krieg, ich wollte die jordanische Legion hier zum Teufel jagen, dass sie nicht mehr in die Wohnung meiner Mutter schießen, in der King George Street“, erzählt er. „Die ist ein Steinwurf von hier entfernt. Der Tempelberg? Wen interessiert der schon? Er hat mich 1967 einen Dreck interessiert. Nur die Gewehrschüsse in die King George, nur daran habe ich gedacht.“
Davor, so die Geschichten meiner Eltern, war Israel ein kleines, fast intimes, ängstliches Land. Danach – das Israel, in dem ich aufgewachsen bin, das mich mehr und mehr befremdet – eine Besatzungsmacht: gewaltig und selbstherrlich. Dazwischen: Mein Vater, der in dem einen Israel aufwuchs und das andere, das Israel, das ich kenne, mitschuf.
Dan Waldman steht an der Ecke King George Street in Jerusalem.
Dan Waldman an der Ecke King George Street - eine der Stationen der geschichtsträchtigen Tour durch Jerusalem© Deutschlandradio / Ofer Waldman
„Hier war die Grenze, genau hier. Das Haus da hat bis heute Schusslöcher, dort war eine Bäckerei, wo wir immer Brezel kauften“, erinnert er sich.
„Aber dahinter, die ganze Altstadt war hinter der Grenze. Das war jordanisches Gebiet. Alles war abgeriegelt, mit Stacheldraht. Das war ‚die städtische Frontlinie‘, links davon waren die jüdischen Bezirke. Diese runtergekommenen Häuser, da waren Wachtposten und ein Laufstreifen für die Patrouillen. Und ein Stück weiter war der Mandelbaumübergang, die Passage zwischen West- und Ostjerusalem, wo die UNO saß.“

„Was willst du sehen?“

Mein Vater fährt uns durch Jerusalem, vorbei an der Stelle, an der seine Einheit im Juni 1967 über die Grenze schritt. "Wir sind von dahinten reingekommen. Auf der jordanischen Seite gab es nur Schotterwege. Wir hatten kaum Stadtkarten, nur jordanische Touristenkarten. Was willst du sehen? Hier ist das American Colony Hotel, hier an der Ecke ein Denkmal."
Wir fahren weiter, in die Gegend, wo er aufgewachsen ist. Mein Vater ist 1942 geboren, als das ganze Land noch zum britischen Mandatsgebiet zählte. Er wuchs in der King George Street auf, in der jüdischen Weststadt. Die Straße, zentral gelegen, bot sozusagen einen Platz in der ersten Reihe bei der Geburtsstunde Israels.
"Das war nicht lustig, ich erinnere mich, als die Ben-Yehuda-Straße in die Luft flog, überall lagen Leichen“, erzählt er. „Mein Vater ist hingerannt, um zu helfen, und kam blutverschmiert zurück. Oder als die UNO die Teilung des Landes und die Schaffung eines jüdischen Staates beschloss, und die britischen Panzerwagen mit Israelfahnen an uns vorbeifuhren, wir standen auf dem Balkon und waren außer uns vor Freude. Es war spannend, dort zu wohnen, alles passierte vor unserer Haustür."
1948 verließen die Briten das Land, das sofort in blutigem Krieg versank. Die palästinensischen Verbände belagerten das jüdische Westjerusalem und schnitten es vom restlichen Israel ab.
Die Abenteuergeschichten aus dieser Zeit gehören zum festen Erzählrepertoire meines Vaters. „Jerusalem war wirklich belagert. Kein Wasser, kein Strom, man wusch sich nur ein bisschen. Wir hatten eine Blechbox mit getrockneten Kartoffeln, meine Mutter machte eine Art Püree daraus.“

Sechs Jahre älter als der Staat Israel

Mein Vater ist fast 80 Jahre alt, sechs Jahre älter als der Staat Israel. Wir gehen durch die vertrauten Schauplätze seiner Kindheit. Zwei Häuser von seinem Geburtshaus entfernt war der Sitz der ersten Knesset, des israelischen Parlaments; zwei Straßen weiter fand der Prozess gegen Adolf Eichmann statt.
David Ben Gurion, Menachem Begin, die ganze Politprominenz des jungen Staates lief vor den Kindesaugen meines Vaters, der auf dem Balkon saß. Der Staat als persönliche Angelegenheit: Auch ich bin in Jerusalem aufgewachsen, schaffe es aber nicht immer, die Bilder, die er mit seinen Geschichten malt, vor meinen Augen entstehen zu lassen.
„Komm., wir gehen in den Hof, hier haben wir immer gespielt, es war von der Altstadt versteckt, geschützt. Da ist unsere Wohnung, wo die zwei Fenster sind. Daneben wohnte Frau Levi, die Hure, sie freundete sich mit britischen Offizieren an, deshalb haben wir Kinder sie so genannt. Dr. Tryphus wohnte im Eckhaus, er hat meine Mutter während der Bombardements behandelt, sein Sohn war später der Sicherheitsoffizier des Eichmann-Prozesses. Daneben wohnte der einzige Arzt in Jerusalem, der Abtreibungen machte, wie hieß er noch mal, er war berühmt. Und hier ist der Durchgang zur King George Street“, erklärt er.

"Wir standen auf dem Balkon – Gratiskino"

„Hier stand die Knesset, das Parlament. Hier wurde gegen das Wiedergutmachungsabkommen mit Deutschland demonstriert, die Demonstranten haben hier alle Autos abgefackelt, die Polizisten verprügelt, das Militär musste eingreifen. Und wir standen auf dem Balkon – Gratiskino. Die Unabhängigkeitsparaden liefen alle hier, die Parlamentssitzungen. Man hat dann die Straße abgesperrt, Ben Gurion ist hier immer aus dem Auto ausgestiegen und in die Knesset marschiert.“
Nach dem Unabhängigkeitskrieg war Jerusalem eine geteilte Stadt. Ostjerusalem mit der Jerusalemer Altstadt, dem Tempelberg und der Klagemauer kam unter die Herrschaft Jordaniens. Westjerusalem, nun die Hauptstadt Israels, war mit den weiteren Teilen des jungen Staates durch einen Landkorridor verbunden.
"Von da, wo heute der Park ist, bis zum Haus an der Ecke war eine Schutzwand mit Schießscharten, denn bis zur Altstadt war nichts, du konntest da nicht frei gehen. Die jordanischen Soldaten haben einfach immer wieder geschossen, und das war unser Schulweg! In unsere Wohnung schlugen ebenfalls Schüsse aus der Altstadt ein“, erzählt mein Vater.
Meine Mutter ergänzt: "Es gab auch so eine graue Schutzwand vor dem Hauseingang, um sich vor Scharfschützen verstecken zu können.“
Ich koche Kaffee für meine Eltern, stelle die Tassen auf ihren Wohnzimmertisch. Meine Eltern sind beide Kinder von Familien, die noch rechtzeitig aus Europa flohen, bevor die Deutschen kamen. Während mein Vater in einer mitteleuropäisch geprägten, bürgerlichen Familie aufwuchs, stammt meine Mutter, Nitsa Waldman, aus einer osteuropäischen Arbeiterfamilie.

„Der Holocaust war allgegenwärtig“

Sie ist 1945 in der nördlichen Hafenstadt Haifa geboren. „Ich hatte eine friedliche Kindheit in Haifa, Arbeiterkindheit, mit einem Vater, der um fünf in der Früh rausging und um vier zurückkam und sein warmes Essen verlangte. Meine Mutter war eine Hausfrau. Ich habe auf der Straße gespielt, Fangen, Seilhüpfen“, erinnert sie sich.
„In unserer Gegend lebten viele Holocaustüberlebende. Manchmal hörte man nachts Schreie, klagende Wehrufe, im Sommer sah man kurzärmlige Menschen mit tätowierten Nummern am Unterarm. In meiner Schulklasse hatte grob geschätzt ein Drittel der Kinder einen Überlebenden in der Familie, oder jemanden, der dort ermordet wurde. Der Holocaust war allgegenwärtig.“
Wie unterschiedlich sind wir, denke ich. Meine Eltern sind selten sentimental, sind zäh und pragmatisch. Typisch für ihre Generation, die israelische Aufbaugeneration, die mit dem Staat geboren und aufgewachsen ist, mit Krieg und Entbehrung. Wenn sie aber über das junge Israel sprechen, wird ihre Stimme doch belegt.
Dan und Nitsa Waldman stehen im Freien nebeneinander.
Er wurde in Jerusalem groß, sie in Haifa: Dan und Nitsa Waldman.© Deutschlandradio / Ofer Waldman
Plötzlich sind sie ganz die Kinder, die den gewaltigen Entstehungskampf Israels erlebten. Die ängstlich zu den Menschen aus Europa hochblickten, zu den Menschen von „dort“, aus der Dunkelheit, die der Katastrophe entkommen sind und nicht glauben konnten, dass es Israel überhaupt gab. Ein Erinnerungspfund, das den Staat Israel, für meine Eltern, zum Heiligtum macht. Über jeden Zweifel erhaben.
"Die Nationalgedenktage, der Holocaust Gedenktag, waren hart, hart und heilig“, erzählt Nitsa Waldman. „Dass wir einen eigenen Staat haben, war für die Erwachsenen keine Selbstverständlichkeit, für uns Kinder vielleicht ein wenig mehr. Schau, wir reden von den 50er-Jahren, ja? An den Gedenktagen ging man auf Zehenspitzen und die Gedenksirenen…“

"Keiner dachte an einen Krieg in Jerusalem"

In der Armee wählte meine Mutter die Offizierslaufbahn, um Geld für ein Studium zu sparen. Sie erreichte den Rang eines Leutnants, lernte meinen Vater kennen, und zog 1962 nach Jerusalem, wo sie eine Stelle bei der Polizei fand.
"Vor dem Krieg war ich in der Jugendwache der Polizei“, erzählt sie. „Dann brach der Sechstagekrieg aus, und weil du in der Armee warst, schlief ich in der King George, bei deiner Mutter.“
Dan Waldman ergänzt: „Wir wurden eingezogen, es hieß, gleich ist Krieg. Drei Wochen haben wir gewartet. Keiner dachte an einen Krieg in Jerusalem, trotzdem zog man alle Reservisten ein. Die Aufgabe der Jerusalemer Division war es, die städtische Frontlinie zu verteidigen.“
„Irgendwann Anfang Juni sagte man mir: ‚Du warst mal Offizierin in der Armee und wirst im Hauptquartier der Jerusalemer Polizei gebraucht.‘ Das war im gleichen Gebäude, am Russian Court. Ich weiß nicht genau wann“, erzählt meine Mutter. „Ich ging in so einen Keller, da saß der Regionalkommandant, ich kriegte ein Heft in die Hand gedrückt und den Befehl: ‚Protokollier alles mit, was du hier hörst!‘“
Wir sitzen wieder im Auto, auf dem Weg von Westjerusalem, über die ehemalige Grenze, zum Berg Skopus. Vorbei an arabischen Läden, an Büros internationaler Organisationen, an Fahrzeugen der UNO. Jerusalem wurde offiziell zwar wiedervereint, der Ostteil der Stadt annektiert, die Trennlinien der Stadt, zwischen Juden und Palästinensern, sind aber noch allgegenwärtig.
Es gibt keine gemischten Gegenden in Jerusalem: Man begegnet sich gelegentlich auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber eine gelebte Koexistenz? Die gibt es kaum. Die einzigen Palästinenser, die ich als Kind zu sehen bekam, waren Bauarbeiter, Straßenfeger, Taxifahrer – oder die stummen Gesichter der Selbstmordattentäter in der Zeitung, die das Jerusalem meiner Jugend erschütterten.
Für palästinensische Kinder in Ostjerusalem sind die einzigen Israelis, die sie kennen, Polizisten, Soldaten, Siedler.

„Wir schossen zurück, was denn sonst?“

Mein Vater zeigt mal nach links, mal nach rechts. Von hier, von dort wurde auf uns geschossen, sagt er immer wieder. Was habt ihr gemacht, frage ich. „Wir schossen zurück, was denn sonst?“
Oben auf dem „Skopus“ angekommen, bleiben wir am Straßenrand stehen.
„Wir standen zuerst unter Schock, die Jordanier fingen an, wie verrückt Jerusalem zu bombardieren. Man schoss nach Rehavia, in die Wohnviertel. Keiner hätte das auch im Traum gedacht. Inzwischen trafen die Fallschirmjäger in Jerusalem ein“, erzählt er.
„Aber als sie im Hauptquartier ankamen, war es fast vollkommen verlassen, weil es ständig unter Beschuss geriet. Die Fallschirmjäger hatten keine Stadtkarten von Jerusalem, nichts, und sie fingen an herum zu fragen, wer mal auf dem Skopus Berg war und den Weg dorthin kennt. Und ich rief: ‚Ich!‘. ‚Jalla, komm!‘“
Der Skopus liegt im Nordosten Jerusalems. Über 800 Meter hoch, ist er ein strategisch wichtiger Ort mit atemberaubender Aussicht. Im Osten sieht man die Judäische Wüste, im Westen die jüdische Neustadt, im Süden die Altstadt, den Tempelberg, die al-Aqsa Moschee. Vor der Gründung Israels standen hier die Hebräische Universität und das Hadassa-Krankenhaus, beide wurden aber während des Unabhängigkeitskriegs 1948 verlassen.
Blick auf den Eingang zur Hebräischen Universität am Skopusberg in Jerusalem
Eingang zur Hebräischen Universität am Skopusberg: ein strategisch wichtiger Ort im Nordosten Jerusalems© Deutschlandradio / Ofer Waldman
Nach dem Krieg blieb der Skopus eine israelische Enklave, von jordanischem Gebiet umgeben, von wenigen Soldaten, als Polizisten getarnt, überwacht. Mein Vater hat hier ebenfalls gedient, im Winter 1962. Nun, fünf Jahre später, sollte er die Fallschirmjäger auf den Skopus führen, die gleichen Fallschirmjäger, die später die Jerusalemer Altstadt, den Tempelberg und die Klagemauer erobern würden.

„Ich flog aus dem Wagen wie ein Stein“

„Unsere Aufgabe war es, den Skopus durch Scheich Jarrach zu erreichen. Zuerst mussten wir aber an der alten britischen Polizeischule vorbei. Dort, am Zaun, sind wir auf eine Mine gefahren, ich flog aus dem Wagen wie ein Stein. Der Fahrer war schwer verletzt und schrie“, erzählt er.
„Es wurde auf uns geschossen, wir schossen zurück, und plötzlich, zu unserer Freude, sahen wir da vier nagelneue Landrover der jordanischen Legion stehen. Also nahmen wir einen, und rasten zum Skopus Berg. Die Truppen dort waren sichtlich erleichtert, uns zu sehen.“
Während andere Truppen den Süden Jerusalems eroberten, drangen die Einheiten, zu denen mein Vater gehörte, vom Norden her, um die Altstadt komplett einzukreisen. So rückte mein Vater vom Skopus in Richtung des südlich gelegenen, alten deutschen Krankenhauses Augusta Victoria vor. Gegenüber dem Krankenhaus stand ein Militärlager der jordanischen Legion.
Vom Lager sind nur wenige Bunkerruinen übrig geblieben. Zementbrocken. Am Rande seines einstigen Areals, im Schatten einiger Pinienbäume, findet eine archäologische Grabung statt. Wir klopfen an das Tor, werden hereingelassen. Die Geschichte, die jetzt folgt, habe ich von meinem Vater zuerst gehört, als ich 16 war und seitdem immer wieder erzählt bekommen.

„Tommygun“ gegen „Uzi“

„Vom Skopus sind wir Richtung Augusta Victoria eingedrungen. Davor war ein Riesenlager der jordanischen Legion. Wir sollten es säubern.“ Mein Vater stürmte das Lager mit den anderen, er ging auf den Balkon einer Baracke. Plötzlich kam ein jordanischer Legionär um die Ecke. Er war etwa zehn Meter von meinem Vater entfernt.
„Da ist dann der Scheiß passiert. Er hatte eine ‚Tommygun‘, ich eine ‚Uzi‘. Er hob seine Maschinenpistole, ich ballerte auf ihn ein, dreiviertel Magazin. Ich habe ihn getötet. Es war furchtbar. Bis heute… es war Krieg, du hattest keine Zeit zu verlieren. Es gab heftige Kämpfe in diesem Lager“, erinnert er sich. „Wir haben zwei, drei Männer dort verloren. Eine Handgranate hat zwei Sanitäter und einen Verwundeten erwischt.“
Ein Mann kommt auf uns zu. Er arbeitet bei den archäologischen Grabungen hier, ist dazu Hobby-Touristenführer, und möchte meinen Vater zu der Schlacht ausfragen. Stimmt es, dass hier ein Minenfeld war, fragt er. Und dass dort, am Zaun, der israelische Kompanieführer starb. Mein Vater ergänzt, erzählt, korrigiert hier, widerspricht dort.  Ich begreife: Für diesen Mann ist mein Vater ein Held. Ist er das? Für sich selbst? Ich glaube eher nicht. Mir wurden hier nie Heldengeschichten erzählt.
"Ich blieb bei den Fallschirmjägern, bis die Schlacht um das Augusta Victoria vorbei war, sie haben mich dann zu meinem Bataillon gebracht, nach Mar Alias. Von dort sind wir Richtung Hebron gegangen, am Betlehem vorbei, da war nichts, keiner hat sich uns entgegengestellt", sagt Dan Waldman.

„Die Luft war wie elektrisiert“

Der Krieg fing in Jerusalem am Montag, den 5. Juni an. Bereits am 7. Juni waren die Altstadt, der Tempelberg, die Klagemauer, ganz Jerusalem, von Israel erobert. Drei Tage. Nachdem die jordanische Legion sich aus Jerusalem zurückzog, fielen die anderen Städte im palästinensischen Westjordanland fast kampflos“, erklärt er.
„In Hebron wartete der Bürgermeister mit dem Stadtschlüssel auf die israelischen Truppen, die die Stadt ohne einen Schuss einnahmen. Mein Vater erzählt, die palästinensische Zivilbevölkerung in Jerusalem, in Betlehem, in Hebron empfing die israelischen Soldaten mit Süßigkeiten. Nicht aus Freude, aus Angst.“
„Eines Tages kriege ich einen Telefonhörer überreicht“ erzählt meine Mutter. „Es war Vater. Er sagte: ‚Am Samstag fahren wir auf den Skopus.‘ Schau, die Aufregung, der Radiosprecher mit dem Satz: ‚Wir haben die Klagemauer.‘ Die Luft war wie elektrisiert. Alle waren so bewegt.“
"Nitsa war im Hauptquartier, deshalb konnte ich sie anrufen“, erklärt mein Vater. Meine Mutter ergänzt: "Ich fragte ihn: ‚Wo bist du?‘ Er sagte: ‚in irgendeinem Hotel in Ostjerusalem‘.“
Zuerst war der Zugang zur Altstadt und zum Westjordanland beschränkt. Überall lagen noch Mienen und Stacheldraht. Doch bald war das Reisen in die „festgehaltenen Gebiete“ – so hießen sie damals – erlaubt.

„Ramallah war wie Paris!“

"Ich erinnere mich an die Reisen nach Ramallah“, erzählt meine Mutter. „Ramallah war wie Paris! Ramallah, auch die Salah-a-Din Straße in Jerusalem, die hatten wahnsinnige Kleidergeschäfte, und alles so günstig. Die Sachen deiner Schwester waren alle von dort. Ja, wie Paris. Durch die Altstadt zu gehen war auch zauberhaft. Wir kannten so was nicht, diese Art Markt. Bald sind wir überall rumgefahren, Nablus, Jenin, Hebron, Betlehem, die Geburtskirche, wir waren so neugierig, es war ein wenig wie im Ausland.“
Dan Waldman zwischen Bethlehem und Jerusalem, im Hintergrund ist die Mauer zu sehen, die Bethlehem von Israel trennt.
Heute getrennt von einer acht Meter hohen Mauer: Dan Waldman zwischen Bethlehem und Jerusalem© Deutschlandradio / Ofer Waldman
Bevor wir das Areal neben Augusta Victoria verlassen, entdecken wir ein kleines Infozentrum. Es wird ein Film gezeigt. Zu sehen ist Hanan Porat, der sich rückblickend an die Kämpfe hier erinnert. Porat kämpfte hier als Fallschirmjäger neben meinem Vater. Später wurde er Parlamentsmitglied und Führungsfigur der Siedlerbewegung in den besetzten palästinensischen Gebieten. Er, so der Film und so die vorherrschende Erzählung in Israel, habe Jerusalem nicht erobert, besetzt: Er habe die Stadt befreit.
Im Film sagt er Sätze wie: „Es waren wir oder sie“, „Nie wieder Holocaust“, „Wir gehen nach Jerusalem“. Das Lied „Jerusalem aus Gold“ ertönt. Ich kenne das alles aus der Schule. Ich ertappe mich, spüre, dass die Worte, die Musik, noch eine starke Wirkung haben. Mein Herz schlägt höher. Ich erschrecke.
"Ich kann mich nicht daran erinnern das Gefühl gehabt zu haben, das gehöre Israel. Auch heute nicht. Für andere Menschen schon, offenbar. Aber wenn ich durch das Jaffa Tor der Altstadt gehe, bin ich bei ihnen. Das ist nicht mein Zuhause. Aber das ist offenbar subjektiv“, sagt meine Mutter.
„Sofort gab es damals die Spaltung, religiös und nicht religiös, Siedler und nicht Siedler. Und dann sagte der Philosoph Jeschajahu Leibowitz – sofort zurückgeben! Und ich dachte schon damals, wie recht er hat. Sofort! Aber dann begannen die Idioten die Siedlungen zu bauen."
Langsam gewöhnte sich Israel an seine neue Größe. Die kleine Frontstadt Westjerusalem, einst aus drei Seiten ummauert, wurde durch neue jüdische Bezirke vergrößert, auf erobertem Gebiet gebaut. Im Westjordanland entstanden die ersten Siedlungen, die seitdem einer Rückgabe der Gebiete und damit der Schaffung eines Palästinenserstaates im Wege stehen.

Teufelskreis aus Gewalt und Unterdrückung

Dazu wurde in den eroberten Gebieten ein militärisches Besatzungsregime errichtet, das die Werte der israelischen Demokratie aushöhlt. Der Teufelskreis aus endlosen Gewaltexzessen, aus Unterdrückung und Terror hält Israelis und Palästinenser immer fester im Griff.
„Die, die die ersten Siedlungen zuließen, waren besoffen, besoffen vom Triumph“, sagt meine Mutter. „Sie tragen die Schuld an den Verhältnissen. Aber wir müssen nach vorne schauen und fragen, was man machen kann. Vater und ich gehören nicht mehr zu denen, die machen.“
„Wir sind eine Minderheit“, sagt mein Vater. Und meine Mutter weiter: "Immer mehr, ja. Der Sechstagekrieg, ohne Zweifel, erzeugte einen Bruch in der israelischen Gesellschaft."

Erinnerung an ein anderes Israel

Der Sechstagekrieg liegt mehr als 50 Jahre zurück. Das kleine, intime Israel, das vom Größenwahn der Besatzung noch nicht deformiert wurde, ist nur noch in den Erinnerungen der Generation meiner Eltern präsent. Ich beneide sie darum, ehrlich gesagt. Um ihren Glauben an die Möglichkeit einer moralischen Integrität, trotz Krieg und Besatzung.
Dass meine Eltern die Siedlungen verneinen, die Besatzung, darauf war ich immer stolz. Ein Stück weit habe ich deshalb ebenfalls an die Rückkehr dieses alten Israel geglaubt. Vielleicht ist es aber auch nichts außer Eitelkeit meinerseits, hier zur Schau zu stellen, wie an einem Gründungsideal festgehalten wird, das längst versagte. Das es vielleicht so nie gab.
"Wieso versagte? Der Staat Israel wurde errichtet! Das ist ein Wunder, dass das jüdische Volk endlich einen Platz hat, der ihm gehört, eine Versicherung für Juden weltweit“, sagt mein Vater.
Und meine Mutter: "Ja, Israel ist eine Art Wunder, immer noch. Und dieses Wunder streckte seine Flügel wegen der Fähigkeit – lass mal die besetzten Gebiete – wegen der Fähigkeit, hier einen funktionierenden Staat aufzubauen. Demokratie! Es ist unglaublich, unglaublich! Schau diesen Staat an: Die Nobelpreise, die Industrie, die Künste! In allen Bereichen – unglaublich! Die Realität ist nicht schwarz-weiß, Ofer.“
Ich leide ebenfalls an dieser israelischen Schizophrenie, von meinen Eltern geerbt: Israel, das Wunder, Israel, die größenwahnsinnige Besatzungsmacht. Die Gleichzeitigkeit von Wunder und Größenwahn erzeugt Frustration, Wut.
Ich schleudere diese Wut meinem Vater entgegen: Zurück im Jerusalemer Viertel Scheich Jarrach, wo mein Vater im Juni 1967 über die Grenze kam, erzähle ihm von den Demonstrationen, die hier jeden Freitag stattfinden. Von den Zusammenstößen zwischen der Jerusalemer Polizei auf der einen Seite und palästinensischen, israelischen und internationalen Aktivisten auf der anderen.

Den Konflikt „zum Beruf gemacht“

Wieso wird demonstriert, fragt er. Weil die Siedler, die auf deinen Speerspitzen herkamen, die palästinensischen Einwohner vertreiben wollen, antworte ich.
Dan Waldman steht an der Ecke King George Street in Jerusalem.
Er ist der anständigste Mensch, den ich kenne, sagt Ofer Waldman über seinen Vater.© Deutschlandradio / Ofer Waldman
„Schmarotzer, die leben ja nur von Almosen aus dem Ausland. Arbeiten sie? Tun sie etwas? Schaffen sie etwas? Nur Kriegstreiberei. Ein Skandal, sie müssten alle zum Teufel gejagt werden. Die Araber bewahren die Schlüssel ihrer verlorenen Häuser, die verrückten Siedler bewahren die Schlüssel dieser Dreckshäuser hier, und das Problem ist, dass sie den Konflikt zu ihrem Beruf machten“, sagt mein Vater. „Wenn du ihnen die Möglichkeit nimmst, von diesem Wahnsinn zu leben, wenn diese Clowns hier morgens zur Arbeit müssten, wenn die Araber eine bessere Lebensqualität hätten.“
Mein Vater blickt um sich, greift nach der Zigarettenschachtel, entfernt eine weiße Haarsträhne von seiner Stirn. Er ist der anständigste Mensch, den ich kenne: Nie habe ich von ihm nur ein rassistisches Wort über die Palästinenser gehört, er verabscheut das Besatzungsregime und die Siedlerbewegung. Er hat seinen Anstand, er hat auch seine Biografie, und wie viele andere ist er skeptisch, ob der Konflikt politisch lösbar ist.
Man soll anständig zueinander sein, sagt er, leben und leben lassen, gleichberechtigt. Ich deute auf eine Wand hinter uns, wo „Palästina“ steht. Sie wollen deinen Anstand nicht, sage ich, sie wollen einen eigenen Staat. Darauf nennt er mich einen linken Träumer, weil ich die Rückgabe aller besetzten Gebiete für richtig halte. Soll wieder in das Haus in der King George geschossen werden, fragt er. Für ihn sind es gefährliche Träume, eitle Übungen in moralischer Selbstläuterung.
Er ist genauso wenig davon beeindruckt wie von der Klagemauer. "Du bist zu sehr links. Bist davon überzeugt, Israel muss sich in die 67er-Grenzen zurückziehen. Moral und Gewissen sind schön und gut, aber das ist sinnlos. Du lebst auf dem Mond. Wenn die Teilungsversuche weitergehen, wird das Blutvergießen kein Ende haben. Noch 100 Jahre. Nichts außer Toten und Verletzten und Hass – und zwar auf beiden Seiten, nicht nur auf der israelischen. Also, fahren wir auf den Skopus?"

Autor: Ofer Waldman
Es sprechen: Frauke Poolman und Wolfgang Condrus
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Martin Hartwig

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