Isabell Beer: "Bis einer stirbt. Drogenszene Internet"

Sie kotzen, sie bluten – und erhöhen die Dosis

07:49 Minuten
Cover des Buchs "Bis einer stirbt" vor orangefarbenem Aquarellhintergrund. Das Cover ist schlicht schwarz-weiß gehalten und erinnert mit einem schwarzen Rand optisch an eine Todesanzeige.
Isabell Beer erzählt von zwei Jugendlichen, die mit Drogen experimentieren und die Kontrolle über ihren Konsum verlieren. © Deutschlandradio / Carlsen Verlag
Von Kim Kindermann  · 05.10.2021
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Leyla und Josh nehmen Drogen. Lange glauben sie, sie hätten alles im Griff. Dabei rutschen sie immer tiefer in die Sucht. Isabell Beers Buch erzählt von der Faszination, die Drogen ausüben, und wie leicht das Internet es macht, sie zu bekommen.
"Sollte LSD sein, kennen uns nicht sonderlich aus, deshalb kennt sie zufällig jemand?", fragt Leyla in einem Onlinechat, nachdem sie und ihr Freund sich kleine Pappen gekauft hatten, die mit LSD beträufelt sein sollen. Und Josh antwortet: "Kannst nie wissen… musst deinem tikker vertrauen."
Persönlich kennengelernt haben sich Leyla und Josh nie. Sie waren aber öfter in denselben Drogenforen und WhatsApp-Gruppen unterwegs, in denen ausführlich über Drogen geschrieben wird. Mal werden reine Infos getauscht über den Rausch, wie lange er dauert, wann Gefahr droht und ob ein Notarzt gerufen werden muss.

Was wie am besten reinhaut

Oft aber überwiegen die verherrlichenden Beschreibungen, was wie am besten reinhaut, welche Kombi gut ist. "Heroin ist, als ob deine Mutter dich liebevoll umarmt", heißt es da. "Ich persönlich feiere Oxycodon, Fentanyl, Weed und Pilze sehr." Oder: "Benzos – Herzsymbol – lassen deine Gedanken in Frieden ruhen."
Leyla und Josh stammen aus normalen Familien, werden geliebt und haben Eltern, die sich kümmern. Leyla kommt aus der Stadt. Er vom Land. Sie kauft vor Ort. Er im Darknet.
Bei ihr probiert die Mutter manche Drogen mit, um zu verstehen, was die Faszination ausmacht, was ihre Tochter reizt. Bei Josh meldet sich der Vater in den Chatgruppen mit an. Auch er will Einsichten aus erster Hand, als sein Sohn immer mehr Drogen konsumiert und will Josh demonstrieren, was er sich antut.
Josh und Leyla landen mehrfach im Krankenhaus, kotzen, bluten, haben Lähmungserscheinungen, werden ohnmächtig – und machen immer weiter. Nehmen immer heftigere Substanzen und erhöhen die Dosis.

Die Drogen im Griff haben

Denn beide sind sich sicher: Süchtig sind sie nicht. Sie glauben, die Drogen im Griff zu haben.
Es ist eine bestürzende Geschichte, die Isabell Berr hier erzählt. Eine Geschichte, die für Josh böse endet. Er stirbt an einer Überdosis aus mehreren Stoffen, unter anderem an U-47700, auch als Pink Heroin bekannt, und Diclazepam. Auf dem Klo in seiner WG, allein. Leyla nimmt bis heute Heroin, aber weniger, kontrollierter – und sie studiert.
Joshs Freunde aus der "Ketamin Cowboy"-Chatgruppe – von den ursprünglich sieben Jungen leben heute noch zwei – trauern auf ihre Art: Sie verkaufen ein T-Shirt, als "tribute to josh": "Mit seinem Gesicht drauf, wie er da irgendwie so hängt. Blaues Auge und überall Wunden. Richtig kaputt von den Drogen." Den Verkauf stellen sie erst ein, als Joshs Vater darum bittet.

Ungefilterte Einblicke

Selten dürfte so ungefiltert über die Drogenszene im Internet geschrieben worden sein wie hier. Isabell Beer hat dazu seit 2017 recherchiert, ist selbst Mitglied in den Chatgruppen geworden, hat anfangs nur mitgelesen und später konkret Kontakt gesucht für Interviews. Leicht war das nicht.
Auch Leyla öffnet sich nur langsam. Sie will nicht vorverurteilt werden. Josh selbst lernt Isabell Beer nicht kennen, dafür seine Eltern. Zusammen erzählen sie Joshs Geschichte, auch anhand der Chatverläufe.
Gut aushalten kann man dieses Buch nicht. Oft tut es weh, etwa dann, wenn Leyla von der Vorfreude auf den ersten Schuss erzählt, dem inneren Beben und Hoffen, als sie die Spritze setzt auf einer öffentlichen Toilette, die runtergekommen und dreckig ist. Oder wenn Josh über die Droge Kratom schreibt: "…habe grad richtig Lust ma alles durchzuprobieren, was es soo gibt."

Verbote helfen nicht!

So ergibt sich ein vielseitiges Bild. Eins das zeigt, wie empfänglich Jugendliche für neue, intensive Erfahrungen sind und dass für manche von ihnen Drogen eine solch große Faszination haben, dass sie nichts fernhalten wird: kein Verbot, keine Strafe!
Isabel Beer plädiert deshalb für eine neue Drogenpolitik – wie auch die Fachleute, die in ihrem Buch zu Wort kommen. Hin zu einer kontrollierten Abgabe und Suchträumen, die Substanzen auf ihre Zusammensetzung hin untersuchen und so schwere Verunreinigungen sofort feststellen.
Auch damit nimmt man Drogen ihre Faszination, macht sie begreifbar. Und dann verstehen vielleicht mehr junge Menschen: "Konsum ist nie eine gute Idee", wie Beer in einem Interview zu ihrem wichtigen Buch sagt.

Mit offenen Worten fängt Aufklärung an

Ein Buch, in dessen Anhang sich zahlreiche Hilfsangebote finden und das es übrigens in zwei Ausführungen gibt: einmal für die Kids selbst und dann für Eltern mit einem zusätzlichen Interview der Selbsthilfegruppe "Moms Stop the Harm".
Beiden wünscht man viele Leserinnen und Leser. Denn mit offenen Worten fängt gute Aufklärung an. Alles andere verschleiert, mystifiziert und umgibt Drogen mit diesem falschen Hauch von Abenteuer.

Isabell Beer: "Bis einer stirbt. Drogenszene Internet. Die Geschichte von Leyla & Josh"
Econ, München 2021
304 Seiten, 18 Euro
Die Jugendausgabe erscheint bei:
Carlsen, Hamburg 2021
288 Seiten, 14 Euro

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