Inklusion bei der Bundestagswahl

Sarah geht wählen

Von Thilo Schmidt  · 26.09.2021
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Erstmals sind betreute Menschen mit geistiger Behinderung berechtigt, an den Wahlen teilzunehmen. Wir begleiten die 36-jährige Sarah im Vorfeld und am Wahltag. Und merken: Der Wahl-O-Mat ist schon mal nicht barrierefrei.
Die Treppe runter, aus dem ersten Stock des Altbaus, wo sie mit ihren Eltern wohnt, schafft Sarah alleine, hält sich mit beiden Händen am Geländer fest, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Sarah hat mehrere Behinderungen, körperliche und geistige. Sie wuchtet sich in ihren Rollstuhl, schnallt sich an. Ich gehe mit Sarah und Hannes, Sozialarbeiter bei der Lebenshilfe, durch Berlin-Kreuzberg. Es ist ein sonniger Frühherbst-Tag, überall hängen Wahlplakate.

Autor: "Weißt du denn schon, wen du wählst?"
Sarah: "Die Merkel."
Autor: "Aber die tritt ja gar nicht mehr an."
"Nein. Die Merkel wähl ich nicht."
Autor: "Die tritt nicht mehr an. Aber die hat dir gefallen, ja?"
Sarah: "Ja."

Ralf zweifelt an Merkels Coronapolitik

Sarah sagt wenig, aber beobachtet vieles. Wir gehen in die Prinzessinnengärten, eine mit Bretterzäunen umgebene Baulücke am Kreuzberger Moritzplatz. An den Tischen sitzen Menschen aus dem Kiez, Behinderte und Nichtbehinderte. Die Sozialarbeiter der Lebenshilfe wollen heute mit ihren Klienten, Menschen mit geistigen Behinderungen, über Politik reden. Es stehen Wahlen an. Und viele geistig Behinderte dürfen in diesem Jahr erstmals wählen. An dem Tisch, an dem Sarah, Mario und Ralf und Sozialarbeiter Mischa sitzen, hat die Debatte schon begonnen. Ralf ist skeptisch.

Ralf: "Aber wählen ist, ich weiß nicht. Quatsch ist das. Da passiert doch nichts."
Autor: "Aber wenn du nicht wählst, passiert auch nichts."
Ralf: "Ich bin da für die Frau da. Ich weiß nicht, wie die Frau heißt."
Autor: "Annalena Baerbock."
Ralf: "Für die bin ich, ja."
Autor: "Ja dann musst du wählen gehen. Die kannst du ja wählen."

Aber Ralf, sonst eher der Typ Wortführer, bleibt skeptisch. Und das hat für ihn etwas mit Angela Merkels Coronapolitik zu tun. "Dann hat sie gesagt, Corona vergeht wieder, und dann hat sie gesagt, mit den Masken können wir auch schon aufhören – hat nicht geklappt. Also hat sie nichts getaugt, die Frau."
Mischa: "Na ja, die Frage ist ja: Es hätte ja auch noch schlimmer kommen können, man hätte vielleicht manche Sachen auch besser machen können, nicht? Also ich glaube schon, dass das einen Unterschied macht, ob man die eine Partei wählt oder die andere. Manchmal im Großen und Ganzen hat man das Gefühl vielleicht, dass es lange dauert, bis da was besser wird, aber ich glaube schon, dass es einen Unterschied macht."
Menschen mit Behinderung sitzen um Tische in einem Garten
Mischa, Mario, Ralf und andere Menschen mit Behinderung diskutieren in den Prinzessinnengärten über die anstehende Bundestagswahl.© Thilo Schmidt
Mario: "Ja, aber trotzdem laufen wir noch mit den Masken rum. Also dann braucht die nicht so etwas sagen, dass es bald aufhört mit den Masken."
Mischa: "Aber es sind zum Beispiel viel weniger Leute gestorben als anderswo. Das ist ja auch was wert."
Mischa: "Na ja, der Mario hier am Tisch, der ist lange auf Intensivstation gelegen. Das war ganz schön gefährlich. Da können wir alle froh sein, dass der noch hier mit uns sitzt, nicht?"

Mario ist aktiv in der Bezirkspolitik

Mario sitzt direkt neben mir. Er darf schon länger wählen. Sein rechtlicher Betreuer, ein Rechtsanwalt, hatte erfolgreich Widerspruch eingelegt gegen den Beschluss, ihn von den Wahlen auszuschließen.

Autor: "Wie ist denn der Wahlkampf bisher für dich?"
Mario: "Gut."
Autor: "Wer gefällt dir denn am besten?"
Mario: "Ja also von den Politikern der Olaf Scholz. Ist mein Parteigenosse."
Autor: "Ach, du bist sogar Mitglied in der Partei?"
Mario: "Ja, in der Bezirksgruppe Südstern."

Mario brennt für seine Partei. Und das macht er bei jeder Gelegenheit deutlich.

"Ich interessiere mich gar nicht für die CDU. Ich interessiere mich nur für meine Partei. Weil: Die machen für den Wohnungsbau wenigstens was. Und werden es auch schaffen, wieder ein bisschen mehr Wohnungen zu bauen."
Mischa: "Aber jetzt mal, was Corona betrifft, wo du ja selber Erfahrungswerte mit hast, was würdest du denn da sagen, nachdem du ja selber wirklich lange im Krankenhaus gelegen bist, würdest du sagen, es ist gut, dass Leute geschützt werden und dass man Beschränkungen hat, damit es sich nicht weiter ausbreitet?"

Was ist eigentlich normal?

Mario: "Ich würde sagen, dass sie beschützt werden."
Mischa: "Also ist auch nicht alles falsch gelaufen, nicht?"
Mario: "Nein. Nicht alles falsch gelaufen."
Auf einmal mischt sich Sarah ein.
Sarah: "Covid-19 bleibt."
Autor: "Aber es geht ja auch bei den Wahlen darum, wer am besten mit Covid-19 umgehen kann. Also, die Merkel hat ja zum Beispiel gesagt, wir machen einen Lockdown. Wie fandst denn du das? Also der Lockdown war natürlich doof, aber wie fandst denn du das, dass die Merkel was unternommen hat, um das Virus ein bisschen zu stoppen?"
Sarah: "Ich fand das gut, dass die Angela Merkel was unternommen hat, um das Virus ein bisschen zu stoppen."

Masken, Corona, Wohnungsbau, Genossen, Impfen und Lockdown. Sarah, Mario und Ralf springen munter von Thema zu Thema, mal sehr meinungsstark, mal plappern sie mir einfach nur nach. Nach normalen Maßstäben eine manchmal etwas wirre Diskussion, aber was ist eigentlich normal?
Sozialarbeiter Mischa von der Lebenshilfe: "Es ist insofern ein bisschen ein anderer Ansatz, dass man natürlich niedrigschwelliger arbeiten muss und selbst einfach gucken muss, dass man sich leichter Sprache bedient. Das ist für einen selbst teilweise auch noch ganz hilfreich, dass man sich selbst überhaupt vor Augen führen kann, dass es gar nicht so einfach ist, solche Zusammenhänge griffig runterzubrechen und gut zu vermitteln. Aber genau das ist das, was wir versuchen im Vorfeld von der Wahl."

Kleine lokale und große emotionale Themen

85.000 Menschen mit geistiger Behinderung dürfen in diesem Jahr erstmals wählen gehen. Es ist die erste Bundestagswahl, bei der alle erwachsenen Deutschen wählen dürfen. Für die Klienten der Lebenshilfe, die sich heute in den Prinzessinnengärten treffen, ein besonderer Tag – auch wenn manche von ihnen auch vorher schon wählen durften. Die Themen, die hier diskutiert werden, ähneln denen anderer Stammtische oder Diskussionsrunden. Es sind Dinge, die die Menschen selbst betreffen – Verkehrsverbindungen und Wohnungsnot, aber auch große, emotionale Themen, Weltfrieden, Coronakrise.

"Es gibt da viele Dinge, die glaube ich alle anderen in unserer Gesellschaft auch umtreiben. Nicht? Vielfach wird genannt, Umweltschutz ist wichtig, Klimawandel, da muss was gemacht werden, Weltfrieden wurde genannt. Das sind ja schon globale, große Themen, die uns alle ein Stück weit bewegen. Aber natürlich spielt schon die eigene Rolle in der Gesellschaft auch eine Rolle. Und da ist natürlich Barrierefreiheit auch schon ein Punkt, und auch Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe. Das sind schon Aspekte, wo viel passiert ist, und auch wir in der Lebenshilfe in der Betreuung versuchen, noch mehr zu erreichen und viel zu tun für unser Klientel, aber da ist schon auch bei den Leuten spürbar: Da ist noch Luft nach oben."

Sozialarbeiter Mischa wendet sich Sarah zu. Sie, habe ich mittlerweile erfahren, darf schon länger wählen, obwohl sie vollständig betreut wird. Offenbar haben die Behörden sie übersehen. Diese Wahl aber ist für sie – auch weil es so spannend ist – besonders wichtig.

Mischa: "Was würdest du dir denn wünschen, Sarah, in der Politik, was soll denn besser werden? Du warst ja auch schon demonstrieren, wir waren ja auch zusammen schon demonstrieren."
Sarah: "Ich würde mir wünschen von der Politik, dass mehr Rampen angebaut werden. Dass es barrierefrei wird. Und nicht so die hohen Stufen. Nicht so die hohen Bordsteinkanten. Und dass die Aufzüge wieder funktionieren und nicht mehr kaputtgehen! Und dass die Bürgersteige breiter sind!"

Breitere Bürgersteige und Frieden in Syrien

Sarah sagt, zu Hause wird viel über Politik gesprochen. Lebendig und emotional geht es dabei zu, sagt ihre Mutter. Und gelegentlich kontrovers.

"Ich guck manchmal abends die Tagesschau. Mit der Angela Merkel."
Autor: "Und auch manchmal andere Nachrichtensendungen?"
Sarah: "Dieses Al-Jazeera guck ich manchmal."
Autor: "Was interessiert dich da? Die Nachrichten aus dem Nahen Osten?"
Sarah: "Ja, die Nachrichten, dass der Krieg in Syrien gestoppt wird, interessiert mich."

Sarah, sagt ihre Mutter, verfolgt die Nachrichten genau. Lokale Nachrichten und die große Weltpolitik. Den Krieg in Syrien spricht sie öfter an. Es ist ihr ein wichtiges Thema. Später erfahre ich auch warum. Ihr Vater stammt aus Syrien.
Eien Frau im Rollstuhl wird von einem Mann eine Straße entlang geschoben.
Was Sarah sich wünscht: niedrigere Bürgersteige. Hier: Sie und Hannes unterwegs in Berlin.© Thilo Schmidt
Mein erster Eindruck von Sarah ist, dass es ihr manchmal schwer fällt, Parteien, Personen und Meinungen auseinanderzuhalten. Wenn man sich aber eine Weile mit ihr beschäftigt, werden ihre Prinzipien klar, ihre Haltungen. Menschen mit geistiger Behinderung wurde das Wählen vor allem deshalb vorenthalten, weil man ihnen die Urteilsfähigkeit abgesprochen hatte, Beeinflussung durch das Umfeld vermutete.

"Das passiert schon, die Leute werden schon stark von ihrem oft auch familiären Umfeld geprägt und orientieren sich daran. Aber das bedeutet ja mitnichten, dass es nicht möglich ist, diesen Leuten auch ihre eigene Stimme zu geben und das zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie im Prozess der politischen Meinungsbildung auch eigenständig agieren können. Und das ist ja mitunter auch unsere Aufgabe, dass wir gerade im Vorfeld jetzt von großen Wahlen, wo bundesweit und in Berlin gleichzeitig gewählt wird, sich durch einen Wahl-O-Maten durchzuarbeiten, oder bestimmte Fragestellungen oder Standpunkte von Parteien zu besprechen", sagt Sozialarbeiter Mischa von der Lebenshilfe. Es war die Bundesvereinigung der Lebenshilfe, die eine Gruppe Betroffener bei ihrer Beschwerde gegen den Ausschluss von Wahlen vor dem Bundesverfassungsgericht unterstützt hat.

Sarahs zusätzlicher Kanzlerkandidat

Zwei Tage später und noch anderthalb Wochen bis zur Wahl: Wieder sind wir auf dem Weg durch Kreuzberg, Sozialarbeiter Hannes schiebt den Rollstuhl.
Wir sind auf dem Weg zu den Räumen der Lebenshilfe. Sarah ist gerade von der Arbeit in einer Behindertenwerkstatt gekommen. Wenig später sind wir da. Im Erdgeschoss eines Altbaus, den Räumen der Kreuzberger Lebenshilfe. Sarah weiß immer noch nicht genau, wen sie wählen möchte und wer Bundeskanzler werden soll. Vielleicht schickt sie deshalb manchmal einfach noch einen zusätzlichen Kandidaten ins Rennen.

Sarah: "Steinmeier".
Autor: "Steinmeier? Der ist aber Bundespräsident. Nein? Aber den findest du gut?"
Sarah: "Ja."
Autor: "Was magst du denn an dem?"
Sarah: "Wie der redet."
Sarah verwechselt auch manchmal die Parteien, aber sie weiß anscheinend, was sie will. Und was sie – sie mag Steinmeier, sie mag Merkel – an Politik schätzt: Verlässlichkeit und Besonnenheit. Und was sie nicht mag: Geschrei und Besserwisserei. Sie scheint das zu spüren. Wir lesen zusammen eine Broschüre zur Wahl in leichter Sprache – darin geht es auch um Menschen mit Behinderungen, von denen viele Unterstützung bis in die Wahlkabine brauchen.

Hannes: "Wollen wir das zusammen machen nächstes Mal?"
Sarah: "Ja!"

Sarah ist für Tempo 130 und Wählen mit 16

Über einen QR-Code in der Broschüre kann man Podcasts zur Wahl abrufen. Die sind offensichtlich aber nicht in leichter Sprache. Sie interessieren Sarah nicht, obwohl sie eigentlich gerne Podcasts und Hörbücher mag.

Autor: "Oder wollen wir lieber zusammen den Wahl-O-Mat machen?"
Sarah: "Ach du Scheiße. Den Wahl-O-Mat. Ich glaub es hackt."

Eine typische Sarah-Reaktion. Spontan und gern etwas unwirsch. Sie meint das aber nicht so. Und mit ein bisschen Geduld kriege ich sie schließlich doch noch rum und wir machen den Wahl-O-Mat für die Bundestagswahl auf meinem Handy. Schon mit der ersten Frage ist klar: Mit dem reinen Vorlesen der Frage kommen wir nicht weit.

Autor: "Auf Autobahnen soll ein generelles Tempolimit gelten. Also die Autos dürfen nicht so schnell fahren. Also 130, und nicht mehr 180 oder wie schnell sie wollen."
Sarah: "Ach Scheiße. Das ist mir wurscht."
Hannes: "Was? Aber du bist doch immer irritiert und genervt von schnellen Rasern, oder? Du findest das schlimm."
Sarah: "Ach Scheiße, meine Fresse, ich bin dagegen! Gegen Autoraser!"

Die zweite Frage überspringen wir. Ob Deutschland seine Verteidigungsausgaben erhöhen soll.

Autor: "Bei Bundestagswahlen sollen auch Menschen ab 16 Jahren wählen dürfen. Und nicht ab 18, wie bisher. Fändest du das gut oder nicht gut?"
Sarah: "Ich fände es gut. Und nicht erst ab 18, das find ich beknackt."

Einige Fragen des Wahl-O-Mats sind positiv gestellt, andere negativ. Fragen, bei denen auch Hannes oder ich schnell mal in die Irre geführt werden.

Autor: "Begrenzung der Mieterhöhungen. Die Möglichkeiten der Vermieter, die Miete zu erhöhen, sollen gesetzlich begrenzt werden."
Sarah: "Ja."

Glasklare Antworten auf leicht gestellte Fragen

Patentschutz für Impfstoffe lassen wir mal aus. Da weiß ja ich noch nicht mal, was da das richtige ist. Ob ein Patentschutz für Impfstoffe sinnvoll ist oder nicht, das kann vermutlich nicht einmal jeder Berufspolitiker verantwortungsvoll einschätzen.

Autor: "Kohlekraftwerke sollen ja in Deutschland, das ist der Plan, bis 2038, also in 17 Jahren, abgeschaltet werden. Bist du dafür, dass das früher gemacht wird, das früher die Kohlekraftwerke abgeschaltet werden?"
Sarah: "Dass früher die Kohlekraftwerke abgeschaltet werden? Ja. Ich bin dafür."

Bei anderen Fragen – die meisten von Hannes und mir vereinfacht und in leichter Sprache formuliert – ist Sarahs Antwort glasklar.

Autor: "Sollen weiterhin Autos mit einem Verbrennungsmotor, also Autos, die laut sind, die Abgase machen und viel Krach, sollen die weiterhin auch in Deutschland erlaubt sein?"
Sarah: "Abgeschafft werden. So was von abgeschafft werden!"
Autor: "Sollen Leute, die ganz viel Geld haben, auch viel Steuern bezahlen?"
Sarah: "Ja!"

Der Wahl-O-Mat zeigt auf grün

Einige Fragen haben wir übersprungen. Fragen, die nicht zu Sarahs Lebenswirklichkeit passen. Umsatz auf digitale Dienstleistungen. Elternunabhängiges Bafög. Ob chinesische Firmen Aufträge für den Kommunikationsausbau in Deutschland erhalten sollen. Letzte Frage für Sarah.

Autor: "Es gibt einen Mindestlohn, den jeder mindestens kriegen muss, wenn er arbeitet. Soll der erhöht werden, auf zwölf Euro?"
Sarah: "Nein. Gesenkt."
Autor: "Der Mindestlohn. Was man verdient."
Sarah: "Erhöht."

Der Wahl-O-Mat hat das Ergebnis berechnet.

Autor: "So. 84 Prozent … die Grünen."
Hannes: "Die Grünen, Sarah!"
Autor: "Dann kommt die Linke, bei dir, 82 Prozent, und dann kommt die SPD mit 80 Prozent. Und dann kommt ganz lange nichts, und dann kommt CDU, FDP und AfD zuletzt."

Weiß Sarah jetzt, was sie wählt? Sie weiß, dass sie jetzt nach Hause will. Sarah ist müde, wir brechen wieder auf zu ihrer Wohnung. Es ist ihr anzumerken, dass sich gerade viel abspielt in ihrem Kopf. Hannes und ich verständigen uns wortlos, dass es besser ist, das Mikrofon jetzt wegzupacken. Genug für heute. Die Spannung fällt ab, von uns allen.

Hausbesuch vom Direktkandidaten

Ein paar Tage später, noch drei Tage bis zur Wahl. Niklas Kossow, der sich in Kreuzberg für die SPD um ein Mandat im Berliner Abgeordnetenhaus bewirbt, besucht Sarah und ihrer Familie bei seinem Haustürwahlkampf. Es ist später Nachmittag, Sarahs Mutter bittet uns herein, wir nehmen am Küchentisch Platz. Sie bietet Kaffee und Wasser an.
Autor: "Hast du denn Fragen an Niklas Kossow?"
Sarah: "Nein."
Autor: "Was war dir denn wichtig, was haben wir denn besprochen?"
Sarah: "Dass die verflixten Bürgersteige geräumt werden!"
Kossow: "Ja, das ist in Kreuzberg wirklich oft ein Problem. Also viele Leute beschweren sich über die Fußwege. Dass die nicht barrierefrei sind. Und ja oft auch vollgestellt mit viel Müll. Und da setzen wir uns auch ein, in der Bezirksverordnetenversammlung, dass das besser wird."
Niklas Kossow, SPD-Kandidat für das Abgeordnetenhaus in Friedrichshain-Kreuzberg, macht einen Wahlkampfbesuch bei Sarah.
Niklas Kossow, SPD-Kandidat für das Abgeordnetenhaus in Friedrichshain-Kreuzberg, macht einen Wahlkampfbesuch bei Sarah.© Thilo Schmidt
Sarah erzählt noch, dass sie es blöd findet, dass die Aufzüge an den U-Bahnhöfen ständig kaputt sind. Und zwar sehr blöd. Niklas Kossow will auch dieses Thema mitnehmen.
Kossow: "Und wissen Sie schon, wen Sie wählen wollen?"
Sarah: "Nein. Çavuşoğlu werd ich nicht wählen. Absolut nicht!"
Kossow: "Ist immer schon ein Anfang, wenn man weiß, wen man nicht wählen will."

Ein Wunschzettel und ein Schnellgedicht

Sarah erzählt noch von ihren Wünschen. Barrierefreie Bürgersteige und funktionierende Aufzüge sind das eine. Das andere ist ein ganz persönlicher Wunsch. "Wie möchte ich leben?" steht auf einem großen Blatt. Dazu hat Sarah zwei Dinge aufgeschrieben. "Nicht im Heim" und nicht bei den Eltern – verständlich für eine 36-jährige Frau. Aber inklusive Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen sind knapp. In Kreuzberg allemal. Auch das nimmt Niklas Kossow mit. Und verspricht, mit der Familie in Verbindung zu bleiben.
Autor: "Willst du ihm noch was auf den Weg mitgeben?"
Sarah: "Ja. Das Covid-Schnellgedicht. Das würde ich noch mitgeben. Und das auch. Nenene, Covid 19, das gibt’s ja wohl nicht. So ein Dreck. So ein Virendreck!"
Autor: "Hast du das selber gedichtet?"
Sarah: "Ich hab das selbst gedichtet!"
Sarah drückt ihm das selbstgeschriebene Gedicht in die Hand, mehrfach zusammengefaltet, fast wie ein persönlicher Brief. Und dazu das große Blatt, auf dem sie ihre Wünsche notiert hat. Niklas Kossow wird sich wieder melden bei Sarahs Familie. Und es klingt, als ob er das nicht nur so dahersagt. Er weiß, wovon er spricht, denn er hat im Zivildienst in Frankreich in einem Wohnheim für Menschen mit geistigen Behinderungen gearbeitet.
"Die haben damals sehr genau die Wahlen verfolgt. Zwischen Hollande und Sarkozy. Und die hatten da alle eine Meinung dazu, wessen Werte sie teilen oder auch nicht, und da ist auf jeden Fall die Meinungsbildung da. Und das muss man natürlich auch respektieren. Und dass das erst seit 2019 möglich ist für Menschen mit geistigen Behinderungen oder Menschen mit Betreuungsbedarf, zu wählen, hat mich überrascht, als ich das damals gehört habe, weil mir das damals nicht bewusst war. Wo ich jetzt richtig froh bin, dass das jetzt möglich ist. Denn diese Menschen haben genauso ein Recht auf politische Vertretung wie jeder andere auch."
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