Indische Arbeiter im Lockdown

Probleme der Tagelöhner werden sichtbar

22:36 Minuten
Menschen in Kalkutta stehen in einer Reihe und warten auf Essen, das von einer NGO ausgeteilt wird.
Sind auf die Essensausgabe angewiesen: Zahlreiche indische Arbeitsmigranten, die wegen des Coronavirus' kein Einkommen mehr haben. © pricture alliance / Pacific Press / Amlan Biswa
Von Antje Stiebitz und Raghavendra Verma · 23.04.2020
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Für Millionen Wanderarbeiter ist die Ausgangssperre eine Katastrophe. Denn sie verlieren nicht nur ihren Job, sondern oft auch ihre Unterkunft. Was mit ihnen geschieht, ist aber entscheidend. Schließlich halten sie die indische Wirtschaft am Laufen.
"Wir haben hier große Probleme mit dem Essen. Wir können keine Nahrungsmittel kaufen. Ein Lastwagen bringt uns jeden Tag kostenlose gekochte Mahlzeiten. Er kommt am Nachmittag zwischen zwei und drei Uhr, dann nochmal abends zwischen acht und neun Uhr. Aber die Auslieferung ist nicht regelmäßig. Das ist das Problem."
Rahul Bharadwaj lebt in einer Barackensiedlung hinter Gurgaon, einer Satellitenstadt von Neu-Delhi. In den rund 150 Häuschen der Siedlung leben 650 Arbeiter, vier bis fünf Menschen pro Wohneinheit. Normalerweise arbeiten sie hier für zwei Bekleidungshersteller, die ihre Ware nach Europa exportieren, und für eine Rohrfabrik. Doch am 25. März hat die indische Regierung wegen der Coronakrise eine Ausgangssperre verhängt. Seitdem sind die Fabriktore geschlossen.
"Wie viele Personen sind in deiner Familie?", fragt der Reporter dumpf hinter seiner Schutzmaske: "Meine Familie besteht aus fünf Personen. Aber ich wohne alleine hier." Rahul Bharadwaj stammt aus Sultanpur, einem Dorf im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, 700 Kilometer entfernt.
Viele seiner Kollegen sind nach der Verkündigung des Lockdowns so schnell wie möglich in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Doch für den 24-Jährigen gab es weder Bus noch Bahn, die ihn zu seiner Familie zurückgebracht hätten. Jetzt sitzt er mit rund 200 anderen Zurückgebliebenen fest. Ihr Gehalt wurde ihnen bislang nicht ausgezahlt. Der kleine Nahrungsmittelladen am Eingang der Siedlung bleibt geschlossen. Also wartet Rahul täglich mit knurrendem Magen auf die Essensausgabe und macht sich Sorgen um seine Familie: "Ich konnte diesen Monat noch kein Geld nach Hause schicken. Keiner von ihnen hat gefragt. Ich kann ja selbst nicht überleben, wie kann ich da Geld nach Hause schicken?"

Zu wenig Unterstützung für Arbeiter

Der Reporter hinter der Gesichtsmaske heißt Raghavendra Verma. Er hilft mir bei der Recherche, macht die Interviews, sendet mir Videos und Fotos, damit ich Orte und Menschen sehen kann. Details und Fragen klären wir am Telefon, über Mails und WhatsApp. Denn ich komme wegen der Coronakrise nicht rein in das Land. Während er die Arbeiter interviewt, trägt er nicht nur eine Gesichtsmaske, sondern zusätzlich eine Schutzbrille und Gummihandschuhe. Sobald er nach Hause kommt, duscht er und reinigt das Smartphone. Er möchte weder sich noch seine Familie gefährden. Die verzweifelte Lage der Arbeiter treibt ihn um.
"Die Arbeiter sind meistens aus den armen Teilen des Landes. Aus den Bundesstaaten Jharkhand, Bengalen, dem östlichen Uttar Pradesh, Chhatthisgarh oder Madhya Pradesh. In diesen Gegenden ist das Wasser knapp. Deswegen haben sie ihre Dörfer verlassen. In diesen Regionen regnet es nicht genug und die Erde ist nicht besonders fruchtbar."
Meistens sind es junge Männer, die deshalb in die größeren Städte abwandern. Vor allem in Metropolen wie Delhi, Mumbai oder Kalkutta. Die Ausgangssperre hält Raghavendra Verma grundsätzlich für richtig. Doch er findet, dass sich der Premierminister Narendra Modi bisher nicht genug für die Belange der Arbeiter eingesetzt hat: "Er sagt, kommt aus euren Häusern und zündet Lichter an, pfeift und klatscht. Aber er sagt nicht, zahlt euren Arbeitern den vollen Lohn, weil er weiß, dass diese Forderung nicht erfüllt werden würde."
Anders als der indische Premierminister Modi appellierte der Ministerpräsident des Staates Delhi, Arvind Kejrival, an die Arbeitgeber der Metropole, ihren Angestellten auch während des Lockdowns die Löhne zu zahlen. Sie nicht zu entlassen. Doch es half nichts. Sie verloren ihre Jobs. Zusätzlich kündigten ihnen viele Vermieter fristlos ihre Unterkünfte. Also machten sich Tausende von ihnen auf den Weg zurück in ihre Dörfer, zu ihren Familien.

Mit Bussen und zu Fuß zurück nach Hause

Auf dem Anand Vihar Busbahnhof in Delhi drängen sich Ende März Tausende von Menschen; vor allem Männer, aber auch Frauen und Kinder. Sie tragen Gepäckstücke auf dem Rücken, in der Hand, manche auf dem Kopf. Von hier fahren Busse in viele Bundesstaaten des Subkontinents. Die Polizei versucht, die Massen zu dirigieren. Sie rufen, gestikulieren und verteilen Masken. Shivam Kumar wartet darauf, dass ihn ein Bus in einen Ort rund 440 Kilometer südöstlich von Delhi bringt.
"Wir fahren nach Kanauj, weil wir viele Probleme haben. Wie lange können wir hier noch bleiben? Also fahren wir nach Hause. Wir haben keine Essensrationen bekommen. Außerdem haben wir kein Geld mehr. Wo sollen wir welches bekommen? Ich habe in einer kleinen Fabrik gearbeitet, aber sie ist seit dem 21. März geschlossen."
Einige Meter entfernt sitzt Rakesh. Er will in ein kleines Dorf in Uttar Pradesh. Er wickelt seinen Schal vom Kopf und zeigt Reporter Raghavendra Verma eine Stelle am Hals: "Hier hat er mich gepackt und aus dem Haus geworfen. Er sagte, dass ich die doppelte Miete zahlen müsste, wenn ich wieder Arbeit habe. Ich sagte ihm, dass, wenn ich Arbeit hätte, ich erst meine Familie ernähren müsste."
Nicht alle Arbeitsmigranten konnten einen Platz im Bus ergattern. Denn schon bald verbot ihnen die indische Regierung das Reisen. Die Grenzen der Bundesstaaten wurden am 29. März geschlossen. Also machten sich Tausende der Wanderarbeiter zu Fuß oder auf dem Fahrrad auf den Weg. Wen die Polizei aufgriff, der musste mit drakonischen Strafen rechnen. Bis heute haben einige der Reisenden ihre Dörfer nicht erreicht, andere sind unterwegs gestrandet. Als Premierminister Modi die Ausgangssperre bis Anfang Mai verlängert, gehen die gepeinigten Arbeitsmigranten auf die Straße.
Der Fernsehsender "India Today" zeigt dramatische Aufnahmen aus Mumbai. Tausende Arbeiter haben sich an der Bandra-Bahnstation versammelt. Drängen sich, dicht an dicht, über das Gelände. Sie fordern Nahrung und die Rückkehr nach Hause. Die Polizei will die Situation unter Kontrolle bringen, schlägt mit Stöcken auf die Menschen ein.
"Sie wollten, dass man sie nach Hause lässt. Unsere Landesregierung hat das der Zentralregierung auch vorgeschlagen. Aber die Zentralregierung hat sich dagegen gesperrt. Das ist das Problem. Wenn du kein Geld hast, keine Nahrung, und du bist allein, dann möchtest du zurück zu deiner Familie. Wenn dich der Virus nicht umbringt, dann bringt dich der Hunger um", sagt Indira Gartenberg, die für eine Frauen-Gewerkschaft aus Mumbai arbeitet.

Arbeitsmigranten sind in keiner Gewerkschaft organisiert

Sie setzt sich seit vielen Jahren für eine Verbesserung der Arbeiterinnen im informellen Sektor ein. Schätzungen zufolge gehen rund 500 Millionen Menschen einer Erwerbsarbeit in Indien nach. Davon arbeiten 93 Prozent im informellen Sektor: ein Sektor, der von Taxifahrern über Hausangestellte bis hin zu Bauarbeitern reicht. Das Problem der Arbeitsmigranten, so Indira Gartenberg, liege darin, dass sie überhaupt nicht organisiert seien.
"Sie sind durch keine Gewerkschaft repräsentiert. Ich würde sogar sagen, dass die Gewerkschaften alles getan haben, diese Menschen aus den Gewerkschaften herauszuhalten, weil sie die Löhne der lokalen Arbeiter gedrückt haben."
Viele Slumbewohner, so die Gewerkschaftlerin, hätten sich mit den Jahren immerhin ein kleines Stückchen Sicherheit geschaffen. Die Arbeitsmigranten allerdings gehörten innerhalb des sozialen Gefüges zu den Schutzlosesten.
"Sie bekommen winzige Gehälter und leben in erbärmlichen Arbeits- und Wohnverhältnissen. Das geht auf Kosten ihrer Sicherheit, ihrer Gesundheit und ihrer Ernährung. Und wenn eine Krise wie diese auftritt, haben sie niemanden, der für sie spricht."

Coronakrise zeigt Probleme der Arbeitsmigranten deutlich auf

Iruday Rajan sieht die Lage der Arbeitsmigranten ähnlich dramatisch. Er ist Professor am Zentrum für Entwicklungsstudien in Thiruvananthapuram, der Hauptstadt des Bundesstaates Kerala, am südlichsten Zipfel Indiens. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich bereits mit Migration und berät die Landes- und Zentralregierung. Die Regierungen nehmen diese Menschen nicht wahr: "In ihren Köpfen gibt es keine Migranten. Ich denke, der Virus hat die Arbeitsmigranten in den Vordergrund gerückt. Denn sonst sind sie immer unsichtbar."
Und nun müsse die Regierung ihnen nicht nur Essensrationen und Unterkünfte zur Verfügung stellen, sondern auch Geld, meint er. Andernfalls werden sie sich nicht an die Maßnahmen halten, weil sie dann verhungern. Aber sobald sie sich aus ihren Unterkünften fortbewegen, steigt die Gefahr, dass Covid-19 übertragen wird.
"Deshalb ist es so wichtig, dass der Premierminister jetzt für alle Bundesstaaten finanzielle Pakete schnürt, damit sie die Migranten unterstützen können." Und das nicht nur jetzt, sondern auch nach dem Lockdown. Denn wenn sie erst mal zu Hause wären, könne es gut sein, dass sie dort bleiben, befürchtet der Wirtschaftsexperte. Die entscheidende Frage sei: "Werden diese Menschen zurückkommen? Denn sie sind die Lebensader unserer Ökonomie. Sie sind es, die viele Städte in Indien managen."
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