Impulse-Festival

Politisches Theater zwischen Lockdown und Lockerung

05:24 Minuten
Eine mollige Frau tanzt nackt und bemalt.
Mit "Hate Me Tender" gelingt Teresa Vittucci ein selbstbewusstes Sextutorial für weibliche Befriedigung und Befreiung. © Impulse-Theaterfestival/Yushiko Kusano
Von Dorothea Marcus · 12.06.2021
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Das wichtigste Treffen der Freien Szene fand im vergangenen Jahr nur online statt. Nun probiert sich das Impulse-Theaterfestival zum 30-jährigen Jubiläum im Wechsel von analogen und digitalen Formaten.
Die Künstlerin Sibylle Peters stellt beim Impulse-Theaterfestival eine durchaus gewichtige Frage: "Dass es keine Sexklubs für Frauen gibt, wird oft damit begründet, dass Frauen nicht zwischen Sex und Liebe unterscheiden könnten. Stimmt das?"
Um diese Frage zu beantworten, hätten sich Zuschauerinnen in ihrem "Heteraclub" einfinden müssen, einen feministischen Nachtclub, wo jede eine sexy, alterslose Queen ist, nichts leisten muss und eine potenziell grenzenlose halbe Stunde allein mit einem der Performer hätte verbringen dürfen.
Die Erforschung des weiblichen Begehrens fiel der Pandemie zum Opfer und wurde zur Grußbotschaft. Doch strahlt sie ermächtigende Kraft aus: Frauensexualität funktioniert vielleicht anders, über Nähe, Bewertungsbefreiung, Abwesenheit von Arbeitsbelastung – aber ihr sollte unbedingt mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Zwischen Dauerregen und Biergartenwetter

In "Hate me Tender" gibt die großartige Performerin Teresa Vittucci am Ende mit ihrer beige-rosa Stiefelette ein umwerfend selbstbewusstes Sextutorial für weibliche Befriedigung und Befreiung, nachdem sie nackt und bondage-artig bemalt den Kult um die weibliche Jungfräulichkeit als kapitalistisches Unterdrückungsinstrument entlarvt hat.
Ein Glücksmoment, denn er findet endlich mit Publikum im Kölner Theater Tanzfaktur statt. Die beiden Arbeiten umreißen die tragische Spannbreite, in die das wichtigste Festival der Freien Theaterszene ausgerechnet zum 30. Jubiläum gerutscht ist: Genau am Übergang von Lockdown zu Lockerung, von Dauerregen zu Biergartenwetter, hat das potenzielle Publikum diesmal nicht so recht den Weg zu ihm gefunden.
Mehr denn je erscheint das Festival durch die kurzfristigen Wechsel von Bildschirm und Präsenz als interne Branchenveranstaltung. Doch es verhandelt in jedem Moment die Frage, wie gesellschaftliche Themen Eingang in Kunst finden können.
Zum Beispiel bei "404 Totlink" des Wiener Performancekollektivs DARUM. Runterladen, per Mausklick hineingehen in eine Parallelwelt, eine Jenseitsinstallation. Jahrelang haben die drei Künstler Spuren gesucht bei Menschen, die ohne Angehörige begraben wurden. Rund 500 sind es allein in Wien jedes Jahr. Eine zärtliche und würdevolle Arbeit, in die man sich nun virtuell stundenlang vertiefen kann und die an gewaltige Fragen rührt.

Gefahr für Künstler

Aber beim Impulse-Festival wird auch am virulenten Thema Rassismus gearbeitet, wenn etwa Julian Warner Rassismus bei der Polizei bearbeitet, Joana Tischkau in einem Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung den strukturellen Rassismus weißer Blicke seziert oder Ülkü Süngün auf dem Kölner Ebertplatz im temporären Mahnmal "Takdir. Die Anerkennung" biodeutsch gelesene Passanten die türkischen Namen von NSU-Ermordeten korrekt aussprechen lässt.
Am letzten Wochenende stellt sich noch die existenziellste Frage von allen: Denn was passiert, wenn sich die Grundbedingung politischer Kunstausübung ändert – und zwar nicht nur durch eine temporäre Pandemie, sondern weil mitten in Europa ein diktatorisches Regime herrscht, das jeden ihrer Künstler in Lebensgefahr bringt?
Nicht für Journalisten zugänglich war daher eigentlich die mit dem Goethe-Institut Belarus möglich gemachte Akademie-Online-Veranstaltung mit belarussischen Künstlerinnen. Obwohl sie ihre Aussagen hier anonymisiert treffen, machen sie doch klar, welch hohes Gut es ist, das politische Potenzial von Kunst frei ausloten zu können.
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