Die Kunst des Improvisierens

Kreativer Umgang mit dem Ungewissen

31:29 Minuten
Jazz Instrumente auf dunklem Hintergrund. Illustration in handgemaltem Stil.
Nicht nur der Jazz lebt von der Gabe zur Improvisation. © Getty Images / J_art
Georg Bertram im Gespräch mit Wolfram Eilenberger  · 02.01.2022
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Die Kunst, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, ist aus Sicht des Philosophen Georg Bertram eine kulturelle Errungenschaft. Die Improvisationskunst spielt in vielen Lebensbereichen eine bedeutende Rolle - auch in der Kultur oder im Mannschaftssport.
Die Kunst der Improvisation wird notorisch unterbewertet. Dass wir dazu neigen, Ungewissheit nur als etwas Störendes zu sehen und negativ zu bewerten, sei ganz allgemein ein Fehler, meint Georg Bertram, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. "Gerade die Pandemie zeigt auf das allerbeste, dass Sachen sich verändern lassen und dass wir auch merken, dass wir in der Pandemie selbst lernen", so Bertram, der dem Thema den Essayband "Improvisieren! Lob der Ungewissheit" gewidmet hat.

Neue Impulse selbst in den Schulen

Die Pandemie habe ohne Frage problematische und auch zerstörerische Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben und sei gerade für Kinder besonders schwierig. Aber selbst für sie entstünden aus der Pandemie heraus neue Impulse - man denke an die Digitalisierung an den Schulen. "Diese Impulse zu nutzen, heißt, dass wir das ungewisse Moment in dieser Pandemie durchaus für uns produktiv machen können."
Der Philosoph Georg Bertram
Der Philosoph Georg Bertram lobt die Improvisationskunst als besondere kulturelle Errungenschaft. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt
Improvisieren mit mangelnder Vorbereitung in Verbindung zu setzen, sei ein weiteres Missverständnis, so der Philosoph. Es erfordere im Gegenteil einige Vorbereitung und besondere Fähigkeiten, um in bestimmten Momenten reagieren zu können. Improvisation komme nicht aus dem Nichts. "Improvisieren ist bei Lichte gesehen etwas, das eine hohe kulturelle Errungenschaft darstellt."

Improvisieren ist Freiheit

Die Moderne neige allgemein dazu, das "improvisatorische Element menschlicher Praxis auszublenden", meint Bertram, und deshalb sei es schwer, zwischen Kulturen zu unterscheiden, in denen mehr oder weniger improvisiert werde.
Beim Improvisieren gehe es immer um das große philosophische Thema der Freiheit, betont der Philosoph. Improvisieren sei eine Freiheitspraxis. Die Art und Weise, wie Menschen überhaupt frei sein könnten, hänge unmittelbar mit den improvisatorischen Fähigkeiten zusammen. Das bedeute, "dass wir uns selbst reglementieren und unfrei machen, wenn wir uns in normierende Korsette einfügen, wie das in totalitären Regimen geschieht".

Das künstlerische Spiel mit der Improvisation

Gerade in den Künsten spiele Improvisation eine große Rolle, sagt Bertram. Das gelte für das Theater, den Tanz und die Musik. Den Jazz will er dabei allerdings nicht überbewerten. Man könne sich darüber streiten, wie groß die Rolle des Improvisierens in dieser Musikform sei. "Wenn man sich unterschiedliche Stile und historische Entwicklungen des Jazz klarmacht, sieht man sofort, dass es große Zeiten gab, wo im Jazz viel verabredet war."
Der Philosoph warnt davor, den Jazz nur auf die Improvisation festzulegen, auch wenn es richtig sei, "dass es im Jazz Improvisieren gibt und es interessant ist, darüber nachzudenken, was das insgesamt für Künste und darüber hinaus auch für die menschliche Praxis insgesamt bedeutet". Aber auch in der protestantischen Kirchenmusik und im Orgelspiel gebe es eine große improvisatorische Praxis, ebenso in anderen Kunstformen.

Kein Fußball ohne Improvisation

Die Improvisation habe viel mit einem sozialen Miteinander zu tun, so Bertram. In diesem Sinne seien improvisatorische Fähigkeiten auch soziale Fähigkeiten. Deshalb spiele das Improvisatorische auch in den Mannschaftsportarten eine große Rolle. Es gelte, "das Spiel zu lesen", sei ein bekannter Reporterspruch beim Fußball. Das sei eine Metapher, die verdeutliche, dass es auch in solchen Sportarten darum gehe, auf Unvorhersehbares reagieren zu können.
(gem)

Georg Bertram, Michael Rüsenberg: "Improvisieren! Lob der Ungewissheit"
Reclam 2021
120 Seiten, 6 Euro

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