Imagination

Dem Kino ganz nah

Von Matthias Dell  · 24.02.2014
Der Autor Stefan Ripplinger hat einen Essay über die kanadische Schauspielerin Mary Pickford verfasst. Der Journalist nähert sich dem Filmstar unaufdringlich klug vor dem Hintergrund von Malerei und Literatur.
Die Bändchen der Reihe "Filit" im Verbrecher-Verlag sind schmal, aber darin liegt ihre Stärke. Filmliteratur meint für die beiden Herausgeber Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen von der Deutschen Kinemathek weder die Ambition alles überbietender Gesamtdarstellungen, noch werden unverdaut-weitschweifige Pflichtaufgaben aus dem akademischen Wochentagbetrieb gedruckt.
Die ansprechend gestaltete Reihe erschließt seit 2007 die Welt des Films aus randständigen Perspektiven durch knappe Essays. Im besten Fall. So auch im elften Band "Mary Pickfords Locken". Im Untertitel heißt das 96 Seiten dünne Buch von Stefan Ripplinger "Eine Etüde über Bindung", und weil es dem Autor tatsächlich nicht um die Biografie eines der ersten Kinostars geht, überlässt er es den chronologisch fixierten Lesern, sich die Lebensdaten Mary Pickfords selbst zu suchen: 1892 bis 1979.
Tag der Zäsur
Das wichtigste Datum für das Buch steht dagegen im ersten Satz: "Am 21. Juni 1928 betritt die Schauspielerin Mary Pickford den Friseursalon von Charles Bock an der 57th Street in New York." Pickford lässt sich ihre Locken abschneiden, die für ihr Image so wesentlich waren. Für Ripplinger bildet der Tag eine Zäsur, die über das baldige Karriereende der Schauspielerin hinausgeht; 1933 dreht Mary Pickford ihren letzten Film. Über den persönlichen Harm, der damit auch verbunden gewesen ist, schweigt das Buch nobel: "Nicht der Misserfolg ihrer späten, sondern der Erfolg ihrer frühen Filme wird ihr zum Verhängnis."
Star war Pickford mit und irgendwann kraft ihrer Locken. Tröstlich an Ripplingers Lesart ist in diesem Sinne, dass der Friseurbesuch ein historisch notwendiges Ende markierte. Mary Pickford war zu alt geworden für die Kindfrauen, die sie spielte. Vor allem aber hatte sich das Kino stark gewandelt - das frühe, ländlich-proletarisch geprägte wurde abgelöst von einem urban-kleinbürgerlichen. Mit dem Unterschied: "Das frühe erlaubt sich zwar zu träumen, aber es glaubt nicht daran, dass die Träume wahr werden." Die Bindung Mary Pickfords zum Publikum ging verloren, weil das neue die "wüsten Scherze und den ungeschönten Realismus" der Pickford-Filme leid war.
Anfangsjahre des Kinos
Ripplinger diskutiert unaufdringlich klug Mary Pickfords Filme vor dem Hintergrund von Malerei und Literatur, erkennt in ihren Figuren den Mythos von "Rapunzel", die ein problematisches Verhältnis mit der Mutter verbindet (wie Pickford mit der ihren), und stößt auf lauter Waisen und tote Kinder in den Armen von Pickfords Filmfiguren als Albtraum des Bindungsverlusts. Immer aber ist der Essay auch eine Rückblende auf die Anfangsjahre des Kinos, in denen die Freiheit so groß war, dass auch Frauen davon profitierten konnten, am meisten schließlich: Mary Pickford. Eine Freiheit, die sich ästhetisch in vieldeutigen Figuren und Geschichten äußerte.
"Die Bindungen, die das Kino knüpft, sind bloß eingebildete", heißt es an einer Stelle über den Zuschauer, der den Leinwandfiguren nah kommt, sie aber nie erreicht. Die Lektüre von "Mary Pickfords Locken" bestärkt den Glauben an diese Imaginationskraft; man fühlt sich dem Kino ganz nah.

Stefan Ripplinger: "Mary Pickfords Locken"
Verbrecher Verlag, Berlin 2014
96 Seiten, 12 Euro

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