Ilko-Sascha Kowalczuk: "Die Übernahme"

Vom Besser-Wessi und Opfer-Ossi

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Cover des Buches "Die Übernahme" von Ilko-Sascha Kowalczuk
Das Sachbuch "Die Übernahme": eine Bilanz des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk nach 30 Jahre Mauerfall. © C. H. Beck / Deutschlandradio
Von Ines Geipel · 09.11.2019
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Als Aufklärer der DDR-Unterdrückungsstrukturen hat sich der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk einen Namen gemacht. Nun kritisiert er massiv den Prozess der Wiedervereinigung, bleibt dabei aber einseitig und voller Ressentiments, meint Ines Geipel.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist so etwas wie der Jakobiner der ostdeutschen Geschichtsschreibung. Bücher wie "Endspiel" oder "Stasi konkret" sind Landvermessungen, so gründlich wie forciert. Sie haben Verve, mit der besonderen Aura eines besonderen Zeitzeugen. Nun ist "Die Übernahme" erschienen. Im großen Landvermessungsprojekt ein organischer Baustein: Kowalczuks Bilanz nach 30 Jahre Mauerfall.
Der Furor des Buches ist der, den man von diesem Autor kennt. Allerdings kommt dem Historiker gleich am Anfang die Bankenkrise 2007 in die Quere. Es ist der Moment, so schreibt er, der seine Sicht auf die Dinge verändert hat. Auf einmal ist das alte, in der DDR gelernte Vokabular wieder in seinem Kopf: "Imperialismus, Heuschrecken, Klasse, Ausbeutung, Verelendung".
Globalisierungskritik – keine Frage – ist mehr denn je nötig. Aber was geschieht, wenn sie zuallererst zur Ideologiemaschine wird? Wenn Lebensgeschichten, Begriffe, historische Ereignisse als Munition dienen, um eine einzige Tatsache zu belegen: die der Komplettschuld des Westens.

Vorwurf: Der Besser-Wessi hat die Geschichte bestimmt

Die Konstruktion des Ostdeutschen gerinnt dem Autor dabei zu der des Superopfers: Was auch immer geschieht, er ist ausgebootet, verarscht, gedemütigt. Westdeutsche, die mit 1989 in den Osten gegangen sind, um beim Aufbau eines maroden Landes zu helfen und zermürbt in den Psychiatrien landeten? Ostdeutsche, die im Westen die erstaunlichsten Karrieren machten? Sie kommen unter diesem tendenziösen Rückgriff auf die alten Feindbilder der DDR nicht vor.
Ohne Frage, es hat ihn gegeben, den zweitklassigen Westler, für den der Osten lediglich zum Karriereraum herhalten sollte. Aber mit dieser Strategie des halben Blicks bedient Kowalczuk nur den aktuellen Hype: da der Schuld-Westen, dort der Opfer-Osten. Eine reduzierte Schreibposition ohne Risiko, die Zahlen über Zahlen aufhäuft, um mit dem ultimativen Beweis aufzutrumpfen: Die Geschichte war von Anfang an entschieden und vor allem wurde sie von den Besser-Wessis bestimmt.
Das ist nicht nur wider die Realität, es macht im Hinblick auf den Autor auch einigermaßen ratlos. Denn er fordert immer wieder Differenzierung ein, die er selbst nicht leistet. Er bietet keinerlei Einordnung in den osteuropäischen Kontext und die fehlende Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Osten ist kein echtes Thema für ihn.

Gefühle beherrschen auch die Geschichtsschreibung

Schon richtig, der Aufbruch nach mehr als 50 Jahren Diktaturerfahrung in die Freiheit ist ein Wagnis, schmerzhaft und ungewiss. Auch ist es grundsätzlich sympathisch, wenn ein Historiker öffentliche Revision früherer Positionen betreibt. Allerdings wirkt irritierend, wenn der Autor Freiheit gegen Demütigung, Arbeitslosigkeit und Sinnverlust ausspielt, wenn er Ausgewogenheit vorgibt und selbst voller Ressentiments ist, ja wenn der Kowalczuk-Text bis in die Begrifflichkeit hinein seltsam parallel zu dem des letzten DDR-Chefs Egon Krenz läuft.
"Die Übernahme" ist ein Zeitdokument, ein starker Beleg dafür, dass Gefühle, Schmerz, Frustration stärker zu Buche schlagen können als jede Zahl. Und es ist, als würde man in diesem widersprüchlichen Text verschiedensten Kowalczuks begegnen, die sich dauernd gegenseitig in die Falle laufen.

Ilko-Sascha Kowalczuk: "Die Übernahme - Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde"
C. H. Beck, München 2019
320 Seiten, 16,95 Euro

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