Igor Levit über Beethoven und Politik

"Ich bin rauer geworden"

55:37 Minuten
Igor Levit am Klavier.
Beethovens Musik begleitet den Pianisten Igor Levit, seit er Klavier spielt. "Sie macht mich wirklich einfach sehr glücklich", sagt er. © Robbie Lawrence
Igor Levit im Gespräch mit René Aguigah · 15.12.2019
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Igor Levit gehört zu den meist gefeierten Pianisten der Gegenwart. Von Beethoven hat er alle Sonaten eingespielt. Bei ihm fühle er sich aufgehoben, sagt er. Seine Musik sei "zutiefst menschlich". Was Levit auch auszeichnet, ist sein politisches Engagement.
Zu Besuch bei Igor Levit, dem Pianisten – der in diesen Monaten ein kaum fassbares Programm absolviert: Konzerte, Konzerte, Konzerte, Polit-Auftritte. Letztere etwa bei Demonstrationen oder in Fernseh-Talkshows. Wir treffen uns Mitte November in seiner Wohnung in Berlin-Mitte. Wir sprechen über Beethoven und Twitter.
Über Beethoven, weil dessen Musik Levit begleitet, seit er Klavier spielt – vor wenigen Monaten hat er eine Aufnahme mit sämtlichen Klaviersonaten Beethovens veröffentlicht. Über Twitter, weil diese Plattform das Medium ist, in dem er sich am häufigsten nicht zuletzt politisch äußert, beispielsweise mit seiner Unterstützung für die Fridays-For-Future-Bewegung. Ob es einen Zusammenhang gibt zwischen seiner Musik und seiner Politik?
Igor Levit ist 32 Jahre alt und 1995 mit seiner jüdischen Familie aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik gekommen. Seit etwa zehn Jahren gehört er zu den am meisten gefeierten Pianisten der Gegenwart. Gelegentlich postet Levit kurze Musikaufnahmen ohne große Studiotechnik auf Twitter, Stimmungsbilder.

"Ich verändere mich die ganze Zeit"

Am Tag vor unserem Gespräch, auf dem Weg zur Fernsehsendung von Maybritt Illner, war es der Beginn der Sonate op. 13 "Pathétique". Ob der Eindruck täuscht, dass sein Spiel hier rauer klingt als bei der Aufnahme der gleichen Sonate innerhalb seiner Gesamteinspielung? "Ja, es ist rauer geworden, ich bin rauer geworden, ich verändere mich die ganze Zeit", sagt er. "Wut ist etwas, das ich, hoffentlich mit einer großen Portion Empathie, gerade sehr stark in mir spüre."
Von den vielen Gesamteinspielungen der Beethovensonaten bevorzugt er die von Artur Schnabel und die von Friedrich Gulda. Warum Gulda? "Ich mag's unkompliziert. Bam, der Ton ist da. Etwas, das ich bei Thelonious Monk sehr liebe. Etwas, das ich auch in der Sprache mag. Ich mag's gerne klar. Und die Klarheit des Spiels bei Friedrich Gulda, die gleichzeitige Sinnlichkeit, ist einfach atemberaubend."
Warum ausgerechnet Beethoven? "Ich fühle mich da aufgehoben. Das ist meine Safe Zone, und gleichzeitig ist es meine Gefahrenzone, also, es ist alles. Ich bin gern in Gefahr, auch generell. Ich mag Status quo nicht. Ich bin geneigt zu sagen: Ich mag Sicherheit nicht so gerne. Ich mag Veränderung. Und ich mag das Ungewisse. Ich glaube auch, eine Welt, die sich nicht verändert, stirbt."
Und weiter: "Beethovens Musik war immer eine, bei der ich größtmögliches Glück verspürt habe. Sie macht mich wirklich einfach sehr glücklich. Die Sprache dieser Musik passt mir. Das Timing passt mir. Der Klang, den ich glaube zu haben, passt mir in dem Moment. Ich fühl mich da einfach richtig."

Die "Hammerklavier"-Sonate ist Levit besonders nah

Ob er etwas gelernt hat bei der neuen Auseinandersetzung mit den 32 Sonaten? "Es ist mein Ton. Es ist nicht Beethovens Ton. Das ist meiner, und den kann mir niemand nehmen. Dieses Gefühl wird in mir immer stärker. Ich versuche, diesen Text jeden Tag von neuem zu verstehen. Ich versuche es zu verstehen, was Beethoven da geschrieben hat. Aber die Betonung liegt auf: Ich versuche es zu verstehen."
Porträt von Igor Levit in dramatischer Lichtstimmung.
Igor Levit, heute 32 Jahre alt, kam 1995 mit seiner jüdischen Familie aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik.© Robbie Lawrence
Ob es einzelne Sonaten gibt, die ihm besonders nah sind? Ja, die "Waldstein"-Sonate, op. 53. Und die "Hammerklavier"-Sonate, op. 106: "Die Welt ist ein großer Wald, und in diesem großen Wald steht dieser eine Baum, und er passt zu keinem anderen Baum: Das ist für mich die 'Hammerklavier'-Sonate." Für Igor Levit ein "Gewaltstück": "Sie ist gewalttätig gegenüber sich selbst. Sie ist gewalttätig gegenüber dem Instrument. Sie ist gewalttätig gegenüber den Hörerinnen und Hörern. Sie fügt Gewalt zu der- und demjenigen, die oder der dieses Stück spielt."
Ob Musik, zumal die von Beethoven, etwas Politisches hat? "Diese Musik wurde und wird politisiert. Ich meine, ich habe sie auch zum Teil politisiert. Ich habe in London auch die Neunte genutzt, bei den Proms nach der Brexit-Wahl. Nur: Wir benutzen sie. Sie kann sich nicht wehren. Sie ist auch eine Kunstform, die ohne uns lebende Menschen buchstäblich einfach nicht existieren würde. Wenn Musikerinnen und Musiker nicht anfangen würden, auf ihren Instrumenten Töne zu produzieren, gäbe es keinen Beethoven mehr. Ganz konkret, am Konzertabend, wo ich auf der Bühne stehe, wenn an diesem Konzertabend ich nicht die Tasten von oben nach unten drücke, existiert kein Beethoven, weder für die Hörer noch für mich. Das heißt, Musik ist dem unterworfen, was wir aus ihr machen. Sie ist dem Kontext unterworfen, in dem wir diese Musik aufführen. Insofern ist Beethovens Musik, ja, sie ist politisch und sie ist nicht politisch. Sie ist vor allen Dinge zutiefst menschlich", sagt der Pianist.

"Musik ist kein Ersatz für das Helfen"

"Musik ist kein Ersatz für Politik. Musik ist kein Ersatz für Aktivismus. Musik ist kein Ersatz für das Helfen. Musik ist kein Ersatz dafür, die Wahrheit zu sagen. Es wird aber häufig als Ersatz benutzt, häufig von meinen Kollegen. Die sagen: Lass uns nicht über Politik reden, wir sind Musiker, wir sind die großen friedlichen Weltvereiner. Ihr Lieben, die jetzt diese Sendung hören, verzeihen Sie mir meinen Ausdruck, aber: die friedlichen Weltvereiner – my ass."
Einer hat mitgehört während dieser Stunde Reden in der Küche: der Steinway im Nebenzimmer, Baujahr 1923, früher im Besitz von Edwin Fischer, dem Schweizer Pianisten, der Spuren nicht zuletzt als Beethoven-Interpret hinterlassen hat. "Er ist kaputt", sagt Igor Levit, leidend – und ich wage doch, nach einer kleinen Zugabe ohne Worte zu fragen. Es wird ein Anfang: das schwarze d-moll-Largo aus der Sonate op. 10, Nr. 3.
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