Identität im Zeitalter der Reproduktion

Von Brigitte Neumann · 13.09.2011
Die Literatur von Richard Powers hat Themen wie Verschmelzung von Mensch und Maschine oder Nachwuchs aus der Retorte im Visier. Seine Romane beleuchten die Bedeutung der Quantenphysik, der Genetik, der Neurologie für uns und unseren Alltag.
Das Gehirn kennt keinen Schmerz. Höchstens Zustände, die ganz entfernt daran erinnern. So etwas wie: Leerlauf, Erleuchtung, Loch. Alles Befindlichkeiten eines arglosen Durchschnittsgehirns während der amerikanische Schriftsteller Richard – "Magic" – Powers zu ihm spricht. So wie hier:

"Dieselben Neuronen, die in meinem Hirn feuern, wenn ich meinen Arm ausstrecke und nach einem Objekt greife, feuern auch in Ihrem Kopf, wenn Sie mich sehen, wie ich nach einem Objekt greife. Man könnte sagen: Ich modelliere Sie in meinem Gehirn und Sie modellieren mich in ihrem. Das Resultat ist, dass wir eine Art gemeinsames Ich formen, es ist ein gemeinsam ablaufender mentaler Prozess."

Das fühlt sich ein wenig unheimlich an. Gewisse Grenzen müssen doch sein. Sonst herrscht Beliebigkeit. Während der vier Jahre, die Richard Powers über seinem Roman "Echo der Erinnerung" saß, einer Geschichte über die Zerbrechlichkeit des Selbst war er sich manches Mal seiner selbst nicht mehr sicher.

Sowieso komme das Leben beim Schreiben häufig zu kurz, klagt er. Seine Freundin, die Romanistin Jane Kuntz, mit der er in dem Universitätsstädtchen Urbana in Illinois wohnt, hätte ihn manchmal regelrecht vom Schreibtisch loseisen müssen. Und wenn er dann auf einer Dinner-Party gefragt wurde "Was machen Sie denn so?", fiel ihm die Antwort extrem schwer.

Richard Powers ist ein schlaksiger Zweimetermann mit bubenhaft freundlicher Miene. In einem Vorort von Chicago aufgewachsen, gingen seine Eltern, als er elf war, mit ihm nach Bangkok, wo sein Vater an einer internationalen Schule unterrichtete. Zurück in den USA, begann er Physik zu studieren, wechselte aber nach einem Semester ins Fach Literaturwissenschaft.
"Echo der Erinnerung" war der bisherige Höhepunkt in der Schriftstellerkarriere des 54-Jährigen. Denn für diesen Roman erhielt er den wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, den "National Book Award". Seinen internationalen Durchbruch hatte er mit dem Vorgängerroman "Klang der Zeit". Einer 800 Seiten dicke Familiensaga um einen deutsch-jüdischen Physiker, der in die USA emigriert, und eine Afroamerikanerin heiratet. Warum Powers diesen Roman um Musik, Physik und Rassenhass geschrieben hat?
"Um zu verstehen, was es heißt heute Amerikaner zu sein, musste ich meine schwarzen Ahnen wiederfinden, meine schwarze Familie. Ich wollte wissen, in welchem Maße die europäische Kultur Amerikas von der afrikanischen verändert worden war."

Vier Jahre, nachdem Powers diesen Satz gesagt hat, gibt ihm die Firma Knome einen Datenstick mit dem Ergebnis der Sequenzierung seines vollständigen Genoms. Powers ist 2008 der erste Schriftsteller der Welt und der neunte Mensch überhaupt, dessen Erbmaterial komplett entschlüsselt wird. Die spektakulärste Neuigkeit auf dem Stick war für Powers, dass acht Prozent seines Erbmaterials mit dem der Yoruba in Nigeria identisch ist. Spektakulär auch deshalb, weil davon nicht die Spur zu sehen ist. Genauso wenig übrigens wie von seiner genetischen Veranlagung zur Fettleibigkeit.

"Mit anderen Worten, es ist nicht so wichtig, welche Gene jemand hat, sondern wo, wann, wie oft diese Gene im Körper an- und ausgeschaltet werden. Und das hängt vollständig von den Einflüssen der Umwelt ab. Doch während dieses Bild der komplexen Verwebung von Einflüssen immer klarer hervortritt, scheint die Öffentlichkeit weiterhin fasziniert von der Idee, dass es ein in die Gene eingeschriebenes Schicksal gäbe."

Das ist das Thema von Powers bislang letztem Roman "Das größere Glück", in den die Erfahrung der Genomanalyse einfloss. "Novel" ist Englisch und heißt Roman, aber auch Neuigkeit. Powers inzwischen elf Bücher handeln allesamt von dem, was neu und noch weitgehend unverstanden ist:

"Das ist die wichtige Aufgabe der Schriftsteller heute, einen gründlichen Blick darauf zu werfen, wie Menschen durch ihre Technologie Raum und Zeit verändert haben und dabei zu helfen, dass die menschliche Psyche mit diesen Entwicklungen Schritt halten kann. Genau das ist meines Erachtens der Sinn von Literatur, zu helfen, dass der Mensch seinen technischen Fortschritt aufholt."

Powers erzählt Geschichten, damit wir verstehen, was mit uns passiert und damit wir mitreden können. Er ist einer der wenigen Literaten von Weltrang, der auch hätte Wissenschaftler werden können. Aber:

"Beim Gedanken daran, mich spezialisieren zu müssen, empfand ich ein Gefühl großer Panik. Panik, zu viele Türen schließen zu müssen. Denn ich wollte eigentlich Physiker sein und Chemiker und Biologe und Geologe und Musiker und Soziologe und Historiker. Der einzige Beruf, in dem ich meine vielfältigen Interessen unterbringen konnte und mein Vergnügen, das ich an all diesen Themen empfand, und wo ich ein Leben für mich sah, das auf Zusammenhängen basierte, das war die Schriftstellerei. Literatur ist die letzte Domäne für den Generalisten, der letzte Ort, an dem ich all diese verschiedenen Geschichten sammeln kann."

Und es klappte auf Anhieb. "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz", Powers jetzt erst in Deutschland erschienenes Debut, war sofort ein Erfolg. Es handelt von den Anfängen der Fotografie und vom Kampf um Identität im Zeitalter der Reproduktion.

"Ob ich nun über Molekulargenetik ein Buch schreibe oder über die virtuelle Realität, über Musik oder über Fotografie. Es geht immer um unsere Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte. Es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Wissenschaften und uns."
Mehr zum Thema