„Housing First“ gegen Obdachlosigkeit

Das Leben in einer Wohnung wieder lernen

08:38 Minuten
Eine Hand hält einen Schlüssel mit einem Hausanhänger.
Erst mit einem Dach über dem Kopf kann man Probleme wie Sucht oder psychische Schwierigkeiten angehen. Das ist das Konzept von "Housing First". © imago / PantherMedia / Annebel Van den Heuvel
Von Anja Nehls · 07.11.2022
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Seit 2018 läuft in Berlin das Projekt „Housing First“, das obdachlosen Menschen hilft, wieder in eine Wohnung zu ziehen. Nun soll das Projekt ausgeweitet werden. Nach dem Einzug geht die Unterstützung weiter, so auch bei Ralf-Peter G.
Hilfsorganisationen zufolge leben in Berlin etwa 6000 Menschen auf der Straße, zusätzlich haben etwa 30.000 Personen keine eigene Wohnung und leben in Sammelunterkünften, meistens in Wohnungslosenheimen.
Der Senat versucht, mit dem Projekt „Housing First“ gezielt zu helfen. Dabei ist eine eigene Wohnung Priorität Nummer eins, vor der Lösung aller anderen Probleme. In Finnland hat man damit sehr gute Erfahrungen gemacht, dort lebt kaum noch ein Mensch auf der Straße.

Wieder ungestört duschen und kochen

In Berlin ist 2018 eine Pilotphase gestartet. Die sieht der Senat als Erfolg. Deshalb sollen die Gelder für das Projekt jetzt verdoppelt werden.
Einer, der bereits von „Housing First“ in Berlin profitiert hat, ist Ralf-Peter G. Der 60-Jährige lebte sechs Jahre lang in einem Obdachlosenheim, davor teilweise ganz auf der Straße. Seit April 2020 hat er eine eigene Wohnung, ein Zimmer mit Fußbodenheizung und Balkon im Berliner Süden.

War wie ein Sechser im Lotto für mich, hier eine Wohnung zu kriegen.

Ralf-Peter G., ehemals obdachlos

Dazu gehört auch: Privatsphäre. Das Beste an der eigenen Wohnung sei deshalb das Bad. An die ersten Tage hier kann sich Ralf-Peter noch gut erinnern:
„Da konnte ich mal wieder ungestört duschen und habe eine saubere Dusche und da konntest du auch mal ungestört aufs Klo gehen.“
Und auch darüber, nicht mehr in der Gemeinschaftsküche im Heim für Wohnungslose kochen zu müssen, ist er sehr froh:
„Die haben sich da gegenseitig beklaut. Du hast dir da was gekocht, hast vielleicht noch was gebraucht aus dem Zimmer, Salz oder sonst was, bist ins Zimmer gegangen, kommst du wieder, war das Essen weg, samt der Pfanne oder samt dem Topf.“
Die Mietkosten von knapp 400 Euro warm für seine Einzimmerwohnung zahlt das Jobcenter. Das ist Voraussetzung für die Hilfe durch „Housing First“: Dass die Finanzierung der Miete geklärt ist, in der Regel durch einen Leistungsanspruch auf Sozialhilfe.

Soziales Umfeld der Straße fehlt

Ralf-Peter G. lebt von Hartz 4. Schon lange ist er auf Unterstützungsleistungen angewiesen. Am Anfang standen Probleme in der Familie, dann eine abgebrochene Ausbildung, Unterbringung in verschiedenen Heimen und schließlich die Obdachlosigkeit.
Solange Menschen nicht in Ruhe, Sicherheit und Würde selbstbestimmt leben können, können sie auch ihre oft zahlreichen Probleme nicht angehen. Deshalb also zuerst eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag, sagt Juliane Marquaß, Sozialarbeiterin bei „Housing First“. Und erst dann, auf freiwilliger Basis, Hilfe bei weiteren Problemen wie Sucht, psychischen Schwierigkeiten, aber auch zum Beispiel beim Möbelaufbauen oder Fahrkartenkaufen.
Viele müssten das Leben in vier Wänden erst wieder lernen. Das soziale Umfeld von der Straße, das vielen Obdachlosen Halt gibt, fehlt. Einsamkeit und Langeweile seien deshalb jetzt ein großes Thema.
Das bestätigt auch Ralf-Peter G. Er bastle Lampenschirme aus Kronkorken oder mache Knüpfarbeiten. „Einfach, um die Zeit rumzubringen.“ Seine Arbeit als Gärtner könne er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr machen. Sein ganzer Stolz ist sein Mountainbike. Mit dem sei er viel unterwegs.

Anfangs große Skepsis

45 Mietverträge für Wohnungen in fast allen Berliner Bezirken hat der Sozialdienst Neue Chance in den vergangenen drei Jahren an ehemals wohnungslose Männer und Frauen vermittelt. Fast alle leben noch immer in der Wohnung. Das macht Sebastian Böwe stolz. Er ist vom sozialen Träger Neue Chance und hat im Rahmen von „Housing First“ die Wohnung für Ralf-Peter G. besorgt.
„Am Anfang wurde gesagt, ihr werdet nicht eine Wohnung finden“, erzählt er. Aber inzwischen gibt es Kooperationsverträge mit drei städtischen Wohnungsbaugesellschaften und es gibt sogar Wohnungen von privaten Vermieterinnen. Und das im extrem angespannten Berliner Wohnungsmarkt.

Lebenslange Unterstützung möglich

„Was wirklich sehr zieht, ist dieser Ansatz von Unterstützung, wenn es sein muss, ein Leben lang.“ Was auch sehr wichtig sei: „Die neuen Mieterinnen und Mieter unterschreiben eine Erklärung, dass sich die Hausverwaltungen bei Störung des Mietverhältnisses jederzeit an uns wenden können.“
Und es gebe einen kleinen Fonds für Schäden, die durch das Mietverhältnis entstehen können. „Wir sind immer erreichbar, wir intervenieren sofort und Störungen gehen immer vor.“ Aber das komme selten vor. Auch mit den Nachbarn gebe es kaum Probleme.
„Wir haben meistens ältere Menschen, die mit dem Bewusstsein in die Wohnung ziehen, dass es höchstwahrscheinlich ihre letzte Wohnung ist“, sagt Sebastian Böwe. Das ist auch bei Ralf-Peter G. so. Housing First soll irgendwann seine Beerdigung organisieren, sagt er ein bisschen melancholisch.
Diese Wohnung wolle er erst in der Horizontalen wieder verlassen. „Ich bin froh, dass die mich hier bis zum Ende meines Lebens begleiten“, sagt er mit Blick auf das Projekt „Housing First“. Und: „Man kann keine großen Pläne schmieden, so ist es eigentlich ganz okay, ich muss mit dem zufrieden sein, was ich habe.“
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