Hohe Einkommen

Die Mär von den Leistungsträgern

Kleine Arbeiterfiguren stehen vor drei Euro-Banknoten.
Einkommen und Leistung lassen sich nur schwer miteinander ins Verhältnis setzen, findet der Journalist Stephan Kaufmann. © Getty Images / Glow Images
Ein Kommentar von Stephan Kaufmann · 22.08.2022
Einkommensunterschiede werden gern damit begründet, dass "Leistungsträger" mehr leisten als andere. Für Journalist Stephan Kaufmann ist das nur ein Trick, mit dem bestimmte Politiker rechtfertigen wollen, dass manche viel und andere wenig bekommen.
Preisfrage: Wer leistet mehr – eine Hebamme oder ein Kfz-Schlosser? Die nahe liegende Antwort: „Das lässt sich nicht sagen, das sind verschiedene Tätigkeiten, Äpfel und Birnen kann man nicht addieren.“
Doch, Christian Lindner kann das. Der Finanzminister und seine Partei, die FDP, sprechen gern von den „Leistungsträgern unseres Landes“, die aufgrund ihres hohen Verdienstes relativ hohe Steuern zahlen oder – so Lindner kürzlich in einem Tweet: die „von ihrer Schaffenskraft zu teilen haben“.
Für die FDP ist also ein großer Verdienst ein Zeichen für große Leistung nach der Logik: Was man verdient, hat man verdient.
Kritiker widersprechen und verweisen zum Beispiel auf Erbschaften, die seien „leistungslose“ Einkommen. Das ist zwar korrekt. Doch auch diese Kritiker folgen der gleichen Logik: dass Einkommen und Leistung sich entsprechen müssten. Eigentlich. 

Wohlhabende arbeiten nicht länger

Aber wie lassen sich Einkommen und Leistung ins Verhältnis setzen? Wie kann man Arbeitsleistung messen? Daran, wie lange jemand arbeitet? Kaum. Neue Studien zeigen, dass Wohlhabende im Durchschnitt nicht länger arbeiten. Daran, wie hart und anstrengend die Arbeit ist?
Oder wie gesellschaftlich bedeutsam? Beides ist nicht zu beziffern. Zudem zeigt die Realität, dass gerade körperlich anstrengende Tätigkeiten eher schlecht entlohnt werden – ebenso wie jene, die seit der Coronapandemie als „systemrelevant“ gelten.
Leistung bemisst sich nicht an der Dauer der Tätigkeit oder ihrem Inhalt, sondern an der Produktivität, lautet ein weiteres Argument. Wer mehr Geld verdient, war eben produktiver, hat also pro Minute mehr geleistet. 

Vergleiche sind nicht möglich

Wie aber misst man dann Produktivität? Das geht noch bei gleichen Tätigkeiten: Ein Mensch baut ein Regal in zwei Stunden auf, ein anderer in einer Stunde und war daher produktiver. Schwieriger wird das schon bei der Krankenpflege: Wer den Patienten in fünf Minuten abfertigt, mag zwar schneller gewesen sein als jemand, der sich zehn Minuten Zeit nimmt. Aber hat er auch mehr geleistet?
Vollends unmöglich wird der Vergleich bei unterschiedlichen Tätigkeiten wie Geburtshilfe und Autobau. Das ist wie beim Sport: Eine 100-Meter-Läuferin mag schneller sein als die andere. Aber niemand kann sagen, ob sie mehr leistet als ein Gewichtheber.
Es fehlt schlicht der gemeinsame Maßstab für ihre Leistung. Und in der Wirtschaft kommt hinzu: Ein Produkt ist immer das Ergebnis der Kooperation vieler. Zum Bau eines Autos braucht es alle: Elektroniker, Karosseriebauerin, Sekretärin und auch die Reinigungskraft. Alle haben mitgewirkt – ein Rückschluss auf den Beitrag der Einzelnen zum Endergebnis ist unmöglich. 
Aber natürlich lässt sich Produktivität berechnen, sagen Ökonomen, und greifen zu einem Trick: Sie teilen beispielsweise den Gewinn oder Umsatz eines Unternehmens durch die Zahl der Mitarbeiter. 1000 Euro Gewinn bei zehn Mitarbeitern – das macht 100 Euro Produktivität pro Mitarbeiter.

Die ungerechte Gewinnlogik

Das erste Problem dabei: So kann man die Gehaltsunterschiede innerhalb des Betriebes nicht erklären – warum verdienen dort einige viel und andere wenig? Das zweite, wichtigere Problem: Was hier am Gewinn gemessen wird, ist gar nicht die Leistung des Betriebs und der Mitarbeiter. Sondern ihr Erfolg. Und zwar der Markterfolg. Als „Leistung“ zählt nur, was sich mit Gewinn verkauft. Kein Gewinn, keine Produktivität, so die Logik, da mag noch so hart gearbeitet worden sein. 
Das lässt eigentlich nur den Schluss zu: Die „Leistungsgesellschaft“ huldigt gar nicht der Leistung. Sondern dem Erfolg. Denn die individuell erbrachte Arbeitsleistung lässt sich gar nicht messen. Deswegen erübrigt sich jede Frage nach der Leistungsgerechtigkeit des Einkommens.
Diese Leistungsgerechtigkeit ist ein Konstrukt von Menschen wie Finanzminister Lindner, die Einkommensunterschiede rechtfertigen nach dem Muster: Jemand, der viel verdient, muss produktiver gewesen sein – andernfalls hätte er ja weniger verdient. Auch so kann man sich die Gerechtigkeit des Marktes herbeifantasieren.

Stephan Kaufmann hat Ökonomie studiert und arbeitet als Wirtschaftsjournalist in Berlin. Er arbeitet für die „Frankfurter Rundschau“, den „Freitag“, das „Neue Deutschland“ und andere Zeitungen.

Porträt des Wirtschaftsjournalisten Stephan Kaufmann
© privat
Mehr zum Thema