Historikerin Laurence Debray

"Ich wollte das Schweigen meiner Eltern brechen"

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Die Schriftstellerin und Historikerin Laurence Debray sitzend vor einem Bücherregal.
Laurence Debray erforscht ihre Familiengeschichte. © imago images / Agencia EFE
Von Victoria Eglau · 13.05.2019
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Auf der Buchmesse in Buenos Aires hat Laurence Debray ihr Buch "Tochter von Revolutionären" vorgestellt, das die Vergangenheit ihrer Eltern durchleuchtet. Einst hieß es, ihr Vater habe Che Guevara verraten. Doch das stimmt nicht, sagt Debray.
Laurence Debray war sechs Jahre alt, als sie von einem Mitschüler erfuhr, dass ihr Vater – der bekannte französische Intellektuelle Régis Debray – als junger Erwachsener im Gefängnis gesessen hatte. Und sie war über 30, als sie gefragt wurde, ob sie die Tochter des Mannes sei, der den Revolutionär Che Guevara verraten habe.
"Da habe ich verstanden, dass ich in einer Art Blase lebte und meinen Ursprung, meine Identität erforschen musste. Ich wollte das Schweigen meiner Eltern brechen", erklärt Debray auf der Buchmesse von Buenos Aires. Ihr Buch "Fille de révolutionnaires" (Tochter von Revolutionären) erschien 2017 in Frankreich, war ein großer Erfolg und ist jetzt ins Spanische übersetzt worden.

Auf den Spuren der Familiengeschichte

Laurence Debrays Mutter ist die französisch-venezolanische Anthropologin Elizabeth Burgos. Die Tochter erforscht jene Zeit vor ihrer Geburt, über die zu Hause geschwiegen wurde: Als die Eltern Vertraute Fidel Castros waren und die Guerilla-Bewegungen Lateinamerikas unterstützten.
Der Philosoph Régis Debray war aktiv beteiligt an Che Guevaras gescheitertem Versuch, eine Revolution in Bolivien herbeizuführen. 1967 wurde Debray dort festgenommen und zu 30 Jahren Haft verurteilt. Ein halbes Jahr nach seiner Verhaftung tötete das bolivianische Militär den Che.
Laurence Debray ist Historikerin und hat die Archive durchforstet. Sie kommt zu dem Schluss, dass ihr Vater Guevara nicht verraten hat. Doch nicht das ist das Hauptanliegen ihres Buches, sondern die kritische Auseinandersetzung mit dem Leben der Eltern, wie sie mir im persönlichen Gespräch auf Französisch erzählt hat:
"Da ist ein Unverständnis meinerseits. Ich stelle die Gründe für ihr Engagement in Frage. Warum ging ein brillanter Philosophie-Absolvent, der eine schöne Zukunft vor sich hatte, ans andere Ende der Welt, um dort den Lauf der Geschichte zu verändern? Das ist für mich auch heute noch ein Rätsel."
Der französische Schriftsteller, Journalist und Philosoph Régis Debray im August 1967 in Haft in Bolivien.
Der französische Schriftsteller, Journalist und Philosoph Régis Debray im August 1967 in Haft in Bolivien.© picture-alliance/ dpa / UPI

Verlorene Illusionen einer Generation

Laurence Debray ist 43 Jahre alt und ihre Ratlosigkeit scheint symptomatisch für das Unverständnis eines großen Teils ihrer Generation: Warum vor einem halben Jahrhundert ein Teil der Jugend in Lateinamerika, in geringerem Ausmaß auch in Europa, den Weg in die Gewalt wählte, um die bestehenden Verhältnisse zu ändern – das ist aus heutiger Sicht für viele nicht nachvollziehbar.
Régis Debray büßte mit dreieinhalb Jahren Gefängnis in Bolivien, 1970 wurde er vorzeitig entlassen. Viele andere ließen ihr Leben – die meisten unter Lateinamerikas Militärdiktaturen.
"Es war die Tragödie einer ganzen Generation, nicht nur meiner Eltern. Tod, Folter, Verschwundene – so viel Schmerz, verlorene Illusionen und Hoffnungen", so die Revolutionärs-Tochter auf dem Buchmessen-Podium in Buenos Aires.
Gioconda Belli 2010.
Schriftstellerin Gioconda Belli war früher Mitglied der nicaraguanischen Guerilla.© imago / Leslie Searles El Comercio
Ohne Debray begegnet zu sein, spricht auch die Romanautorin, Dichterin und einstige Revolutionärin Gioconda Belli aus Nicaragua auf der Messe genau davon: Von ihren verlorenen Illusionen.
"Als ich meinen Roman ‚Die bewohnte Frau‘ schrieb, glaubte ich fest an diese Möglichkeit, die Welt zu verändern. Dieser Glaube ist heute etwas gedämpft. Die Fähigkeit zum Träumen ist mir erhalten geblieben. Aber meine Waffe ist die Poesie – Worte sind für mich lebenswichtig."

"Ortega unterdrückt das Volk"

Gioconda Belli stellte in Buenos Aires ihren neuen Roman vor: Las Fiebres de la Memoria – wörtlich übersetzt "Die Fieber der Erinnerung". Darin blickt sie nicht auf den sandinistischen Befreiungskampf der siebziger Jahre zurück, sondern geht den Geheimnissen ihrer eigenen Familie auf den Grund. Aber bei der Buchvorstellung kritisierte Gioconda Belli ihren früheren Revolutionsgenossen Daniel Ortega, der ihr Land heute autoritär und mit harter Hand regiert:
"In Nicaragua erleben wir eine Reise in die Vergangenheit – eine Diktatur, die sogar grausamer ist als die von Somoza in den 70er-Jahren. Denn der rechte Diktator Somoza kämpfte gegen die bewaffneten Sandinisten, aber Ortega unterdrückt heute ein friedlich demonstrierendes Volk."

Literatur als Rückzugsort

Viele linke Guerilla-Aufstände in Lateinamerika scheiterten, andere waren – nach Bürgerkriegen und Kontra-Revolutionen – erfolgreich. Nur wenige Revolutionen mündeten in stabile demokratische Systeme. Wie Gioconda Belli verurteilt auch der Schriftsteller und Cervantes-Preisträger Sergio Ramirez, in den achtziger Jahren Vizepräsident der sandinistischen Regierung, auf der Buchmesse das heutige Regime in Nicaragua:
"Daniel Ortega hat nichts mehr mit unserer Revolution zu tun – mit unseren kollektiven Idealen von damals."
Verratene Ideale, verlorene Hoffnungen – für Sergio Ramirez, wie auch für Gioconda Belli, war der Rückzugsort nach der post-revolutionären Ernüchterung die Literatur.
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