Hinterkaifeck

Ein mysteriöser Mehrfachmord auf einem bayerischen Einödhof

28:02 Minuten
Ein Wegkreuz an einem Feldweg.
Nachdem in Hinterkaifeck 1922 sechs Menschen ermordet worden waren, wollte niemand mehr dort wohnen. Heute erinnert nur noch ein Bildkreuz an den Hof. © picture alliance / dpa / Stefan Puchner
Von Andi Hörmann · 06.04.2022
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Ein inzestuöses Verhältnis, ein abgelegener Bauernhof und sechs bestialisch ermordete Menschen: In der Nacht vom 31. März auf den 1. April jährte sich der Mord von Hinterkaifeck zum 100. Mal. Auch heute noch fesselt der Fall viele.
Das Dunkel der Nacht legt sich über die schneebedeckten Felder. Winterkälte zieht über die Äcker. Der Boden ist vom Frost durchzogen. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönt die Navi-Ansage. Das Ziel: Hinterkaifeck, Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Oberbayerische Provinz, zwischen Augsburg und Ingolstadt. Die Landschaft ist vom Neumond in fahles Grau getaucht.
Vor hundert Jahren stand hier noch ein für damalige Zeiten mittelgroßer Hof, ein Bauernhaus mit Durchgang zu Viehstall und Futterscheune. Die Einöde Hinterkaifeck. Nun ist hier landwirtschaftliche Nutzfläche. Das Anwesen wurde abgerissen. Keiner wollte mehr dort wohnen. Nur eine Gedenktafel erinnert an das Verbrechen, das noch heute die Menschen in seinen Bann zieht. 

„1922 beschäftigt ein grausames Verbrechen ganz Deutschland. Hinterkaifeck! Der mysteriöseste Mordfall der deutschen Geschichte ist bis heute ungeklärt.“
1922, das vierte Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Weimarer Republik. Im Juni wird der völkische Rechtsaußen-Propagandist Adolf Hitler wegen seiner aufrührerischen Reden zu einer vierwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der deutsche Außenminister heißt seit Februar Walther Rathenau, ein Intellektueller und Industrieller, eine herausragende Persönlichkeit in der Berliner Reichsregierung. Aber als Jude wird er von Rechtsextremisten und Antisemiten gehasst. Sie wollen und werden ihn erschießen.
Ansonsten hat sich die Lage im Land scheinbar ein wenig beruhigt, nach den zum Teil bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Gefolge der Novemberrevolution von 1918. Im Sommer beginnt der Wertverfall der Reichsmark. Die letzten Gefangenen aus dem Ersten Weltkrieg kehren aus Frankreich zurück. Am 5. März 1922 wird in Berlin der Stummfilm „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich Wilhelm Murnau uraufgeführt.

Ein inzestuöses Verhältnis, von dem niemand erfahren darf

All das ist weit weg von Hinterkaifeck, diesem entlegenen Ort in Oberbayern, an dem die Bauernfamilie Gabriel lebt, abseits des nächsten Dorfes. Wenn hier die Natur aufblüht, die Sonne scheint, auf grünen Wiesen unter blauem Himmel der Blick in die Ferne schweift, dann mag der Mensch die ganze Freude der Landlust spüren. Hat die Bauernfamilie solche Freuden genossen – oder eher die Enge eines solchen Hoflebens in der Einöde empfunden? Die harte Arbeit auf dem Feld. Die Finsternis der Nacht. Der Kampf ums Überleben im Winter.
Das Geheimnis des bäuerlichen Lebens an diesem einsamen Ort ist: verbotene Lust. Inzest. Der 64-jährige Andreas Gruber hatte ein inzestuöses Verhältnis mit der 35-jährigen Victoria Gabriel. Als es entdeckt wurde, sind beide dafür mit Gefängnis bestraft worden: „Blutschande“. Andreas Gruber war der Großvater der Bauernfamilie in Hinterkaifeck, der Mann von Cäzilia Gruber, der Großmutter. Victoria Gabriel, mit der der Großvater ein inzestuöses Verhältnis hatte, war seine Tochter, die selber zwei Kinder hatte: Cäzilia und Josef. Eine Kriegswitwe.

Hatte das verbotene Verhältnis etwas mit dem Geschehen zu tun, das Hinterkaifeck zu einem öffentlichen Ort gemacht hat? Zur Grundlage zahlreicher literarischer und journalistischer Veröffentlichungen, zum Stoff für Spiel- und Dokumentarfilme, Sachbücher, Medienberichte, Ausstellungen, Romane, selbst für ein Hinterkaifeck-Wiki?

Wir dokumentieren den Text des Features hier leicht gekürzt.

„Meine Tochter durfte, musste im Gymnasium den Roman Tannöd lesen, der ja angelehnt ist an diesen Fall im weitesten Sinne. Und ich habe mir diesen Roman dann auch mal geschnappt“, sagt Olaf Krämer aus Königsbrunn in der Nähe von Augsburg vertieft sich schon seit Jahren in den Fall Hinterkaifeck.
Er ist einer der Administratoren von hinterkaifeck.net — eine regelrechte Enzyklopädie zu dem Fall — und führt Touristen bei nächtlichen Fackelwanderungen zum damaligen Tatort. Alles hat bei ihm mit der Schullektüre seiner Tochter angefangen: 
„Den Roman fand ich dann weniger spannend, aber mich hat dann interessiert: Was steckt denn hinter dieser Geschichte?“
2006 veröffentlicht die Bestsellerautorin Andrea Maria Schenkel ihr Romandebüt „Tannöd“, das auf dem mysteriösen Mordfall basiert. Bis 2009 verkauft sich der Krimi mehr als eine Million mal. Er wird auch verfilmt mit Stars wie Monica Bleibtreu, Julia Jentsch und Brigitte Hobmeier. Die Verfilmung erntet aber eher negative Kritiken: mehr Dichtung als Wahrheit und jede Menge Effekthaschereien.
„Es gab damals im Internet schon Ansätze dazu. Das Forum hinterkaifeck.net gab es damals schon, und in anderen Foren wurde darüber auch diskutiert“, sagt Krämer. „Ich habe mich dann eingelesen, und es hat mich fasziniert. Ich habe mich immer weiter in den Fall vertieft, war auch dann mal in dem Staatsarchiv, um die noch vorhandenen Akten zu studieren.“
Ein Mann mit schwarzer Jacke und  schwarzem breitkrempigen Hut trägt eine Fackel.
Die TV-Serie "Lore" ist eine von mehreren filmischen Auseinandersetzungen mit dem mysteriösen Mordfall.© picture alliance / Everett Collection /Julie Vrabelova
Eine Nacht wie viele andere auf einem entlegenen Hof in der oberbayerischen Provinz. So schön die Landschaft am helllichten Tag ist — so dunkel war damals die Nacht ohne künstliches Licht. Vom 31. März auf den 1. April 1922 waren die beiden Großeltern auf dem Hof, die Tochter mit ihren beiden Kindern und die Magd Maria Baumgartner. Sie alle haben den nächsten Morgen nicht mehr erlebt. Mit einer Reuthaue, einem Hackwerkzeug, das zur Rodung kleinerer Sträucher dient, sind ihnen die Schädel eingeschlagen worden.
„Die Akten bestehen im Wesentlichen aus irgendwelchen Verdächtigungen in ganz Bayern, ob das jetzt in der Oberpfalz oder in Niederbayern oder in München oder irgendwo war. Wo einer plötzlich die Idee hat, das könnte der Mörder von Hinterkaifeck gewesen sein“, sagt der Journalist Peter Leuschner. Er war der erste, der die Polizeiakten studieren durfte. Und er war auch der erste, der über Hinterkaifeck ein Buch geschrieben hat.
„Das muss die Leute erfasst haben in einer Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ich habe keine Ahnung, was die Leute damals so versetzt hat, dass da jeder hinter jedem irgendwie den Mörder vermutet hatte.“ 
Ein halbes Jahrhundert nach dem Hinterkaifeck-Morden veröffentlicht Peter Leuschner Mitte der 1970er-Jahre das Buch „Hinterkaifeck – Deutschlands geheimnisvollster Mordfall“. 20 Jahre später, nachdem überraschend noch einmal Untersuchungsakten auftauchten, folgt ein zweites Buch: „Der Mordfall Hinterkaifeck – Spuren eines mysteriösen Verbrechens“.

Der Fall lädt bis heute zum Spekulieren ein

Heute lebt Peter Leuschner, Jahrgang 1947, zurückgezogen auf einem Schloss im Altmühltal und engagiert sich in einem Denkmalpflege-Verein für Jura-Häuser. Mit Hinterkaifeck hat er persönlich abgeschlossen. Es kommen aber immer noch Leute vorbei, die sein Buch gelesen haben und mit ihm über den Fall diskutieren möchten. Er spricht von einer regelrechten Hysterie im Zusammenhang mit Hinterkaifeck und vergleicht den Fall mit einem Virus.
„Es kann jeder das tun, was er als Kind vielleicht auch schon getan hat: Detektiv oder Räuber und Gendarm. Er kann also selber sich Gedanken machen. Wer könnte es gewesen sein? Und das ist offenbar ein wunderbarer Zeitvertreib für viele.“
Gewidmet hat Leuschner sein Buch den zu Unrecht Verdächtigten:
„Und das waren nicht wenige. Das waren zum Teil tragische Schicksale. Für diejenigen, die in Verdacht geraten sind und in die Mühlen der Polizei und der Justiz geraten sind, war das nicht sehr lustig.“
Aber auch Leuschner selbst hat während seiner Recherche immer mal wieder über mögliche Täter spekuliert:
„Als ich im Staatsarchiv saß, habe ich mir phasenweise gedacht: Der könnte es gewesen sein, oder der könnte es gewesen sein. Aber die habe ich alle wieder verworfen, weil es doch einige gibt, die möglicherweise ein Motiv gehabt hätten, oder denen man das zutrauen könnte, dass sie es getan haben. Aber es gibt halt überhaupt keinen handfesten Beweis.“ 

"Solange kein Täter feststeht, kommt jeder infrage"

Er habe nie den Ehrgeiz gehabt, den Fall aufzuklären, unterstreicht der Journalist. „Den wird man nicht klären können! Und ich will mich an Spekulationen nicht beteiligen, weil das meines Erachtens einfach unseriös ist, zu vermuten: Der könnte es gewesen sein. Es kommt jeder infrage, solange kein Täter feststeht.“
Fakt ist: Es hat jahrzehntelange Ermittlungen gegeben, Dutzende Verdächtige — aber der Fall ist in 100 Jahren, bis zum heutigen Tag, nie aufgeklärt worden. Je mehr man sich in ihn vertieft, desto mehr Fragen tauchen auf. Und je weiter die Zeit voranschreitet, desto fremder wird sie uns, desto mehr wird die Tat von Hinterkaifeck zu einem Mythos. Zum 75. Jahrestag überarbeitete Peter Leuschner sein Buch und entwickelte daraus eine Art „Doku-Fiction“: „Der Mordfall Hinterkaifeck – Spuren eines mysteriösen Verbrechens“, sie besteht aus dokumentierten Fakten aus den Ermittlungsakten und fiktionalen Dialogen.

„Ein Schlag, der im ganzen Haus zu hören ist, läßt die zwei Frauen unwillkürlich zusammenzucken. Es könnte das große Stadttor gewesen sein. Erschrocken bringt die alte Gruberin nur ein „Was war denn das?“ hervor. Beide zittern. Da! jetzt wieder. „Irgendetwas stimmt da nicht…“, kommt es Viktoria Gabriel zögernd über die Lippen. Dann glaubt sie Schritte zu hören. Sind da nicht auch Stimmen?“ 

Die Fakten: Am Nachmittag des 31. März 1922, einem Freitag, kam die neue Dienstmagd Maria Baumgartner in Hinterkaifeck an. Ihre Schwester, die sie dorthin begleitet hatte und den Hof nach einem kurzen Aufenthalt wieder verließ, war mit hoher Wahrscheinlichkeit vor der Tat die letzte Person, die die Bewohner lebend sah. Einige Stunden danach wurden die sechs Morde verübt.

„Viktoria zieht keine Schuhe an. Sie trägt einen dunklen Rock eine leinene Bluse und dicke, schwarze Wollstrümpfe. Von einem rostigen Nagel an der Tür zum langen, schmalen Futtergang nimmt sie eine Petroleumlampe, zündet sie an.“

Irgendetwas musste die ersten vier Opfer in den Stall gelockt haben. Ein Geräusch, ein Schrei, das unruhige Vieh? Das genaue Tatgeschehen konnte nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden. Sicher ist: Am späten Abend wurden Viktoria Gabriel, Cäzilia und Andreas Gruber sowie die siebenjährige Cäzilia Gabriel nacheinander in unmittelbarer Nähe der Übergangstür vom Stall zur Scheune mit einer vor Ort von dem Täter oder den Tätern vorgefundenen Reuthaue, die zum Hofbestand gehörte, erschlagen.

„Der schwache Schein der Petroleumlampe, die am anderen Ende des Stalls hängt, fällt auf ein Gesicht. Jetzt ist es direkt vor ihr. Viktoria bringt keinen Laut heraus, die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Ihre Augen weiten sich, ihre Lippen formen sich zu einem unhörbaren Schrei. Das Flackern der Lampe verzerrt das Gesicht zu einer Fratze. Kräftige Männerhände packen sie an den Armen. Im nächsten Moment spürt die junge Witwe einen furchtbaren Schlag auf den Kopf.“ 

Von der Scheune aus drangen der oder die Täter durch den Stall in den Wohnbereich ein, wo sie mit derselben Tatwaffe vermutlich zuerst die Dienstmagd Maria Baumgartner in ihrer Kammer und zuletzt den zweijährigen Josef in seinem Kinderbett im Schlafzimmer seiner Mutter erschlagen haben.

„Der Bub hört nicht die Schritte, die näher kommen. Er bemerkt auch nicht, wie die Türe aufgerissen wird. Sekunden später erschüttert ein wahninniger Schlag den gebohnerten Dielenboden. Mit einem Mal ist es totenstill im ganzen Haus.“

Motive gibt es viele, Indizien auch. Aber Beweise?! Dutzende Verdächtige werden über die Jahrzehnte verhört, niemand wird verurteilt. Sicher ist: Schon bei der Spurensicherung vor 100 Jahren sind viele Fehler passiert. Es wurden keine Fingerabdrücke genommen. Die Leichen entdeckte man wegen der Abgeschiedenheit der Einöde erst vier Tage nach der Tat. Und bis die Kriminalpolizei aus München kam, waren schon jede Menge Schaulustige durch den Tatort gelaufen. Zudem sind 1944 bei einem Bombenangriff in Augsburg viele Ermittlungsakten verbrannt.

Faszination "True Crime"

Dass das Verbrechen von Hinterkaifeck bis heute nicht aufgeklärt wurde, ist einer der Gründe, warum dieser Fall immer noch so viele Menschen in seinen Bann zieht.
Birte Bambusch-Gretzky, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg, geht in ihrer Dissertation der Frage nach: Wie ist der Sechsfachmord von Hinterkaifeck seit 1922 bis heute rezipiert worden? 
„Die Rezipient*innen, die ich im Rahmen meiner Dissertation interviewt habe, zeigen eben, dass die Auseinandersetzung mit dem Fall Gefühle aufbringt wie Spannung, Gänsehaut, Schrecken. Das kann sich aber gleichzeitig auch mit Bestürzung und Mitgefühl verbinden. Das muss sich nicht ausschließen. Die Angstlust ist auch ein irritierendes Vergnügen, und zwar dann, wenn wir reflektieren: Oh, ich verspüre ja an einem ganz schauderhaften Verbrechen, ja, ein gewisses Vergnügen. Irritiert auch deswegen, weil ja dieses Eingeständnis der Lust am Schrecklichen auch mit Scham und Scheu einhergehen und letztlich auch in ein schlechtes Gewissen münden kann.“ 
Der Faszination am sogenannten „True Crime“ — dem wahren Verbrechen, gilt das wissenschaftliche Interesse von Birte Bambusch-Gretzky. 
Ein Grund dafür sei möglicherweise, dass uns in der Auseinandersetzung mit solchen Fällen bewusst werde: uns geht es eigentlich ganz gut.
„Wir können uns der eigenen Unversehrtheit vergewissern. Gleichzeitig ist das ja auch mit moralischen Lustgefühl verbunden. Also das kennen wir auch aus dem Kriminalroman: wir möchten, dass am Ende das Gute über das Böse siegt. Und das steht auch am Anfang vom Fall Hinterkaifeck.“

Der Fall hat viele Ungereimtheiten

Weil er ebenso unergründlich erscheint, wie er geheimnisumwoben ist, hält er den Symbolcharakter eines unheimlichen Rätsels. Das Rätsel ist Kern des Narrativs vom Mythos Hinterkaifeck.
„Wenn es da einen mal so richtig gepackt hat, dann will man immer mehr wissen und schauen: Gibt es noch Puzzle-Teilchen, die man finden kann? Diese Puzzle-Teilchen, die alle nicht unbedingt zueinander passen“, sagt Olaf Krämer.
Für den Hobby-Hinterkaifeck-Forscher, ist die Spurensuche noch nicht beendet.
„Immer wenn man meint, okay, das könnte die Lösung sein, gibt es wieder Tatsachen, die dagegen sprechen. Und so hat man sich natürlich in diesen Mythos Theorien aufgebaut, die sich teilweise auch völlig widersprechen, aber die jede für sich selber die Lösung sein kann in diesem Fall.“
Es gibt viele Ungereimtheiten im Fall Hinterkaifeck. Jede führt zu einem anderen Tatverdächtigen. Warum hat etwa Victoria Gruber zwei Monate vor der Tat Sparkonten aufgelöst und Pfandbriefe verkauft? Warum musste das erst zweijährige Kind Josef auch sterben? Was ist dran an den Auffälligkeiten, die die Bewohner von Hinterkaifeck in den Tagen vor der Tat bemerkten und mit dem Postboten und den Nachbarn aus dem nächsten Dorf kommunizierten? Eine Münchner Zeitung liegt am Waldrand, der Haustürschlüssel ist plötzlich verschwunden, es gibt Spuren im Schnee zum Hof hin, aber keine wieder weg.

Fackelwanderung zum Tatort als Touristenevent

Begeben wir uns noch mal an den Ort des Geschehens. 100 Jahre nach dem mysteriösen Mehrfachmord. Den Einödhof hat man schon ein Jahr nach der Tat dem Erdboden gleichgemacht. Niemand wollte mehr dort wohnen. Heute sind hier Äcker, Wälder und Feldwege. Es könnte eine oberbayerische Idylle sein. Waidhofen, eine etwa 1700 Einwohner zählende Gemeinde, ist gut drei Kilometer von Hinterkaifeck entfernt. Hier lebt Sieglinde Bogenrieder und betreibt in vierter Generation das Gasthaus Bogenrieder, das es zur Tatzeit schon gegeben hat.
„Es gab damals sehr viele Verdächtige, die alle mal kurz auch in Untersuchungshaft waren. Und wir wollen das Gedenken an diese Familie aufrecht erhalten. Wir beschuldigen niemanden. Wir machen keine Spekulationen. Und ja, es wird wohl nie aufgeklärt werden, weil sicherlich kein Zeitzeuge mehr aus dieser Zeit lebt.“
Auf einem Grabstein stehen die Namen der Ermordeten von Hinterkaifeck.
Auf diesem Friedhof liegen die Opfer von Hinterkaifeck begraben. © picture alliance / dpa / Stefan Puchner
Im Gasthaus Bogenrieder direkt neben der katholischen Kirche und dem umliegenden Friedhof, wo die Opfer von Hinterkaifeck begraben sind, treffen sich an diesem Winterabend zwei Dutzend Menschen in wetterfester Funktionskleidung zu einer Art Mystery-Event: eine abendliche Fackelwanderung zum Tatort Hinterkaifeck mit begleitendem gutbürgerlichem Vier-Gänge-Menü und anschließendem Lagerfeuer bei Punsch und Glühwein.
„Was waren die Hinterkaifecker so für Leute? Über die Cäcilia weiß man recht wenig. Über den Andreas Gruber weiß man mehr. Wenn man hier so den Volksmund hört, dann wird er beschrieben als ein sehr eigenbrötlerischer, gewalttätiger Mensch, der auch Frau und Kinder geschlagen hat.“

"Es war Neumond und es war bedeckt"

Olaf Krämer führt die Fackelwanderung zum Tatort Hinterkaifeck. Ein gruseliges Event: Eine Gruppe sucht in winterkalter, finsterer Nacht einen Ort auf, weil dort vor 100 Jahren auf einem einsamen Hof ein monströses Verbrechen geschehen ist.
Eine regnerische Winternacht mit starken Windböen, der Boden ist matschig, es ist stockdunkel. Moderne Laternen mit LED-Lämpchen beleuchten den Weg. Irgendwann steht die Gruppe vor einem gepflügten Ackerland. Hier stand einst der Einödhof Hinterkaifeck.
„Eines ist aber sicher, dass der Andreas Gruber mit seiner Tochter Inzest getrieben hat“, sagt Olaf Krämer. Ein Smartphone klingelt, einige Teilnehmer lachen.
Damals ein Ort ohne Strom: malerische Landschaft am Tag, tiefe Finsternis in der Nacht. Heute reißt das Mobiltelefon die Wanderer aus dem künstlich erzeugten Alptraum. Sie sind hier, um in die Nacht des Verbrechens einzutauchen.
„Wie war das in der Nacht vom 31.03.1922? Da war Neumond und es war bedeckt. Denkt euch mal diese Lichtkuppeln, die man da sieht Richtung Ingolstadt, die gab es damals nicht.“

Gruselspektakel mit Spaßfaktor

Kann man sich das karge, beschwerliche Leben in diesem einsamen Bauernhaus noch vorstellen? Und das Gefühl in jener Nacht: da stimmt etwas nicht, was sind das für Geräusche? Die Menschen aus den Nachbarorten, die helfen könnten, sind weit entfernt. Man war darauf angewiesen, dass niemand hierherkommen würde, der Böses im Sinn hat. Nacht für Nacht, im Mondschein wie unter wolkenverhangenem Himmel. Was sind das für Geräusche?
Die Teilnehmer der Fackelwanderung nach Hinterkaifeck frösteln, der Schauer der Geschichte soll sie erfassen, die Besucher aus der behüteten und auch nachts weithin beleuchteten Welt des 21. Jahrhunderts. Und wer war der Täter?, fragt Olaf Krämer. Das grausame Geschehen an diesem Ort in jener Nacht ist ein Aktenzeichen XY — oder Tatort-True-Crime-Event geworden, ein kleines Spektakel mit Spaßfaktor. Wer war der Täter?
"Ich habe jetzt persönlich mehrere Verdächtige, da könnte es auch jeder sein. Je nachdem, mit wem man spricht und wie man argumentiert“, sagt eine Teilnehmerin. Ein anderer Teilnehmer meint:  

„Also ich weiß jetzt nicht, was ich glauben soll. Alles macht irgendwie Sinn und alles macht irgendwie keinen Sinn. Alles ist widerlegbar. Und für alles gibt es ein paar Indizien, aber letztendlich weiß ich jetzt auch nicht am Ende, welcher Theorie ich glauben soll.“
Zu einer Verurteilung ist es nie gekommen. Der oder die Täter sind heute mit Sicherheit auch tot. Der Fall Hinterkaifeck bleibt ein Rätsel und bietet deshalb immer noch Stoff für reale oder mediale Inszenierungen — und für weitere Spekulationen, nicht zuletzt in der virtuellen Welt.
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