Mehrfachkrisen

Hilft Stoizismus gegen Hitze?

04:25 Minuten
Einzelne Bäume ragen wie Scheerenschnitte vor einer hohe Wand aus Flammen hervor in einem Waldgebiet in Portugal.
Waldbrände und Hitzewellen: Die Natur scheint aus den Fugen geraten. Kann da stoisches Welt-Vertrauen noch helfen? Uns bleibt keine andere Wahl, meint Andrea Roedig. © picture alliance/AP Photo / Javier Fergo
Von Andrea Roedig · 24.07.2022
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Hitzeextreme, Waldbrände, Dürre – früher war der Sommer die Zuckerseite des Jahres, heute wird er zum Sorgentreiber. Und dann kommt die Pandemiewelle im Herbst und die Heizkostenexplosion im Winter. Hilft der Stoizismus im Umgang mit der Dauerkrise?
Gegen alle Unbill des Lebens, gegen Schicksalsschläge und Krankheiten, gegen privates Unglück und gesellschaftliche Katastrophen hat die Philosophie schon seit mehr als 2000 Jahren ein Heilmittel im Gepäck – schlicht umschrieben in zehn Buchstaben heißt es: Stoizismus.
Diese erst griechische und später römische Lehre der Stoa war gedacht zur Zähmung der unguten Leidenschaften. Sie war Weisheitslehre aber auch eine Lebensform, die stetige Übung verlangte, und eingedampft zum Kalenderspruch besagt sie im Kern scheinbar nur folgendes: Wenn du die Dinge draußen in der Welt nicht ändern kannst, dann ändere deine Einstellung.

Entstanden in finsteren Zeiten

Klingt simpel, aber ganz so einfach ist die Sache auf den zweiten Blick natürlich nicht. Die stoische Lehre erblühte in Zeiten, die keinen Deut besser waren als die heutigen. Seneca, einer der römischen Vertreter der Stoa, musste jahrelang in der Verbannung auf Korsika leben, gelangte später zu Macht und Reichtum, bevor er schließlich von seinem ehemaligen Schüler, dem Kaiser Nero, zum Selbstmord gedrängt wurde. Von Seneca stammt auch der schöne Satz: „Niemand hat die Weisheit zu Armut verurteilt“, will heißen: Auch Philosophen dürfen Geld verdienen.
Andrea Roedig in einer Bomberjacke vor Pflanzen guckt schräg nach oben und lächelt
Andrea Roedig hält die Lehren der antiken Stoa für hilfreich - gegen Hitze und das Gefühl der Dauerkrise. © Markus Rössl
Stoizismus bedeutet weder Lustfeindlichkeit noch Leugnung objektiver Tatsachen. Auch nicht Gleichgültigkeit gegenüber der Welt da draußen. Es geht nur darum, die irdischen Dinge in ein rechtes Maß zu setzen – das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden, das Wesentliche vom bloß Akzidentiellen, das Beständige vom Flüchtigen. Was zählt wirklich und auf lange Sicht? Und woran hänge ich mein Herz? An die vergänglichen Güter besser nicht.

Selbstsorge im positiven Sinne

Der Stoizismus ist pragmatisch. Er bedeutet zwar einen gewissen Rückzug aus der Welt, er propagiert die Selbstsorge, aber keinen Egoismus. Denn im antiken Weltbild gilt das Wohlergehen des einzelnen nie als Privatsache, weil es an der Tugend, also am allgemeinen Guten hängt. Das Glück ergibt sich aus dem tugendhaften und das heißt, dem vernunftgemäßen Leben nach den Gesetzen der Natur. „Die Natur nämlich muss man zur Führerin nehmen; auf sie achtet die Vernunft, sie fragt sie um Rat“, heißt es bei Seneca.

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Schön und gut, doch hilft uns das weiter? Hier und jetzt, wenn Inflation das Geld wegfrisst, wenn Brände toben, Gletscher schmelzen und Wladimir Putin die Welt zurück ins kaltkriegerische 20. Jahrhundert bombt? Wenn – und das ist wesentlich – die Natur selbst aus den Fugen ist? Die stoische Lehre ruhte auf dem Vertrauen in die Ordnung des Kosmos, in die göttlichen Gesetze der Natur. Davon kann heute – im sogenannten Anthropozän – keine Rede mehr sein.

Im Grunde wissen wir, was gut ist

Recht besehen haben wir jedoch keine andere Chance, als der alten Regel „der Natur gehorchen“ zu folgen. Wir müssen so tun, als ob dieses Vertrauen in einen Logos, ein Gesetz der Welt, noch möglich wäre. Wir müssen so tun, als seien wir eingebunden in ein sinnhaftes Ganzes. Auch wenn wir Begriffe wie „Natur“ heute komplett anders begreifen – im Grunde wissen wir, was gut ist, was Lebewesen zuträglich ist und was nicht.
Der Stoizismus mag bieder, langweilig und elitär erscheinen, gerade recht für Aristokraten, die sich auf das Altenteil zurückziehen und nichts mehr erleben wollen. Aber diese Philosophie ist – unter anderem – aus der Angst geboren, und sie passt in unsere Zeit.

„Keep cool“

Der Stoizismus hat seine politische Seite, zuallererst aber wirkt er privat zur Beruhigung des Geistes. Mehr noch, er ist eine Glückslehre – und die tröstet. Alle neueren Forschungen belegen: Wer eine Einstellung der Zufriedenheit und Dankbarkeit kultiviert, hat ein besseres Leben. Und jetzt muss man das auch mal sagen: Der Sommer ist schön! Also: Keep cool! In gewisser Weise hilft Stoizismus auch bei Hitze.

Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift „Wespennest“. 2015 erschien gemeinsam mit Sandra Lehmann der Interviewband „Bestandsaufnahme Kopfarbeit“ (Klever Verlag) und zuletzt die autofiktionale Erzählung „Man kann Müttern nicht trauen“ bei dtv.

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