Herbert Kapfer: "Utop"

Lebensträume der Menschheit

05:39 Minuten
Buchcover zu Herbert Kapfer: "Utop"
"Utop" erzählt davon, wie Menschen sich alternative Leben herbeiwünschen - und daran scheitern. © Deutschlandradio/Verlag Antje Kunstmann
Von Samuel Hamen · 01.10.2021
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Aus einem Sammelsurium von Textschnipseln destilliert Herbert Kapfer den Wunsch nach einem besseren Leben, nach einer schönen neuen Welt. Dabei zeigt sich, was die Träume der Menschheit verbindet. Aber auch: dass sie oft im Albtraum enden.
Herbert Kapfer ist es mit seinem neuen Buch "Utop" gelungen, wortwörtlich zum Schrift-Steller zu werden: zu jemandem, der Schriften nebeneinanderstellt, der längst publizierte und oftmals vergessene Texte montiert, Ideen arrangiert und so das zwanzigste Jahrhundert als ein Archiv der Fiktionen und Theorien zugänglich macht. Der Verlag preist einen "Roman mit Zeitluken in die Gegenwart" an, Kapfer selbst spricht davon, dass er in seinen Montagen "die Sprachen von damals" benutze, um eine eigene Erzählung daraus zu machen.
Im Literaturverzeichnis sind 120 Titel aufgeführt, aus denen der 1954 geborene Kapfer geschöpft hat, darunter Romane wie Alma M. Karlins fantastische Erzählung "Isolanthis. Roman vom Sinken eines Erdteils" von 1930 und Erich von Mendelssohns Roman "Phantasten" von 1912. Dazu gesellen sich unter anderem Beiträge von Thomas Morus und Simone Weil, aber auch Gegenwartstexte von Bruno Latour und Elfriede Jelinek.

Synergien zwischen den Zeiten

Ein kühner Mix, eine wilde Auswahl – zusammengehalten wird diese Sammlung von der Denkfigur der Utopie. Jede Zeile von "Utop" erzählt auf ihre Weise davon, wie Menschen sich alternative Leben herbeiwünschen, welche Argumente und Bilderwelten sie dazu bemühen, wie sie daran scheitern, die schöne neue Welt aufzubauen und statt ihrer Schlachtfelder der Gewalt, Technik und Konkurrenz schaffen. Das reicht von anarchistischen Siedlerträumen bis hin zu nationalistischen Kopfgeburten von Atlantis als Neudeutschland. Am Anfang steht der Traum; am Ende, das ist die Dynamik, der hier Gestalt verliehen wird, lauert allzu oft der Albtraum.
Dabei zieht Kapfer, der vor zwei Jahren mit "1919" ein ganz ähnliches Buch vorgelegt hat, quer durch Genres, Jahrzehnte und Stile, darauf bedacht, verborgene Verwandtschaften zwischen Texten zu offenbaren und Ideologien, die sich zwischen den Worten eingenistet haben, freizulegen. Angepeilt wird eine "Synergie der Zeiten", wie es später heißt, als Kapfer die italienische Philosophin Donnatella Di Cesare zitiert, "in der sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig beleuchten und erhellen und wie blitzartig Licht auf die Zukunft werfen".

Neue Kohärenz aus Altem

Es geht, mit anderen Worten, um den "Urkeim der menschlichen Rasse" und um "Messiasse der Reinheit, der Wollust, des Pflanzenessens", um das "Heldentum der Frauen" und um den Geist als "sekundäres männliches Geschlechtsmerkmal", um "gemäßigte Extremsozialisten" und "klassenbewusste Proletarier", um die "Atlantis-Forschungs-Expedition" und die "Gefilde des Mars", um den "Frieden im Sonnensystem" und die "Maxime der Bombe".
Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, die Fülle an Publikationen zu sichten, teils überhaupt erst ausfindig zu machen, und sie dann so zusammenzusetzen, dass eine neue Kohärenz aus altem Material entsteht.

Gegenwartsliteratur im allerbesten Sinne

Der Autor stellt sich damit der Komplexität historischer Erfahrung und überführt diese in einen Roman aus Romanen, in einen Essay aus Essays, der einen Effekt der Vergegenwärtigung hervorruft: So dachten, so imaginierten, so schrieben die Menschen damals.
Herbert Kapfer hat mit "Utop" im allerbesten Sinne Gegenwartsliteratur vorgelegt: Literatur, die ihre Gegenwärtigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie nach hinten und nach vorne offen ist, dass sie durchlässig ist für die Menschenträume, für die, die einst geträumt wurden, und für die, die gegen alle Widrigkeiten nach wie vor geträumt werden.

Herbert Kapfer: "Utop"
Kunstmann Verlag, München 2021
440 Seiten, 25 Euro

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