Hélène Gestern: "Der Duft des Waldes"

Eine fesselnde Geschichtsstunde

Cover des Buchs "Der Duft des Waldes" Hélène Gestern
In ihrem Roman dringt Hélène Gestern tief ein in die Erinnerung in Frankreichs Geschichte. © Verlag S. Fischer
Von Dirk Fuhrig |
Der Erste Weltkrieg ist in Frankreichs kollektivem Gedächtnis stärker präsent als hierzulande. Zu den zahlreichen Literaten, die sich damit befassen zählt auch Hélène Gestern. In ihrem neuen Roman entwirft sie ein breites Schicksalspanorama.
Frankreichs Schriftsteller beschäftigen sich seit vielen Jahren nicht nur mit dem Zweiten Weltkrieg - sondern besonders auch mit dem Ersten. "La Grande Guerre", dieser fürchterliche Stellungskrieg mit seinen vielen Opfern, ist im kollektiven Bewusstsein der Franzosen stärker als Jahrhundert-Katastrophe verankert als in Deutschland. Markantes Beispiel dafür war Pierre Lemaîtres Roman "Wir sehen uns dort oben", für den er 2013 den Prix Goncourt erhielt.

Familiengeschichten aus 100 Jahren

Hélène Gestern, Jahrgang 1971, stammt aus Lothringen und unterrichtet heute an der Universität in Nancy. Sie hat mehrere Romane geschrieben, "Der Duft des Waldes" ist 2016 auf Französisch erschienen und ihr erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Gesterns Herkunft aus dieser immer wieder zwischen Frankreich und Deutschland umkämpften Region grundiert diesen Erinnerungs-Roman, der jedoch nicht direkt autobiographisch ist, sondern aus "typischen" Biografien und Familiengeschichten ein Panorama der letzten 100 Jahre rekonstruiert.
In der Rahmenhandlung steht eine Historikerin im Mittelpunkt. Sie ist Spezialistin für historische Postkarten - eine Orchideen-Disziplin, der sich nur jemand widmet, der einen akribischen Sinn für die Details der Geschichte und des Lebens besitzt. Sie wird – aus einem Zufall heraus – die Erbin eines Hauses im (geografischen) Herzen Frankreichs und stößt bei der Beschäftigung mit der Familiengeschichte ihrer verstorbenen Freundin auf ein verzweigtes Geflecht von Personen und Ereignissen. Kern der Recherche ist ein junger Soldat und dessen Briefwechsel mit einem Dichter, der als "post-symbolistisch" charakterisiert wird.
Elisabeth Bathori, die Historikerin, recherchiert in verschiedenen Regionen Frankreichs, vor allem in der weiteren Umgebung von Lyon. Dort stößt sie immer weiter vor in die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts und gelangt vom Krieg 1914-1918 zu den Judenverfolgungen der Nationalsozialisten. Gerade in Lyon hatte die Gestapo besonders brutal gewütet und jede Form des Widerstands, der Résistance, gnadenlos verfolgt.

Spannend, aber auch ermüdend

Der Roman entwirft ein sehr breites Panorama der Schicksale französischer Familien im 20. Jahrhundert. Dabei arbeitet sich die Ich-Erzählerin Elisabeth immer weiter vor, bis hinein in die Schützengräben, aus denen sie heimlich aufgenommene Fotografien hervorklaubt. Der gesamte Text ist eine Art Exhumierung von – realen und fiktiven – Dokumenten, Feldpostbriefen, Tagebüchern, Erinnerungen von Zeitzeugen. Die Lektüre dieses ausschweifenden Romans ist einerseits sehr fesselnd und spannend erzählt. Hélène Gesterns anschauliche Sprache schafft es, den Leser die verästelten Handlungsstränge hineinzuziehen.
Allerdings ist der Detailreichtum auch ermüdend. Man fühlt sich mitunter erschöpft von den vielen Windungen und Wendungen. Die in der Gegenwart angesiedelte Rahmenhandlung, die das Geschichts-Panorama strukturiert und zusammenhält, wirkt, jedenfalls was die darin eingeflochtene tragische Liebesgeschichte angeht, etwas klischeehaft. Aber insgesamt ist der doku-fiktionale Roman "Der Duft des Waldes" ein beeindruckendes Werk über Geschichte und Erinnerung, über die Verwüstungen der Köpfe und Körper.

Hélène Gestern: "Der Duft des Waldes"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
704 Seiten, 26 Euro

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