Heilungserfolge

Die Kraft der sprechenden Medizin

Historisches Foto einer Sprechstunde von 1941. Ein Mann sitzt auf einem Holzstuhl vor dem Allgemeinarzt im weißen Kittel.
Wenn es um den Wert der sprechenden Medizin geht, wird jegliche wissenschaftliche Erkenntnis ignoriert, kritisiert Gilda Sahebi. © Getty Images / Hulton Archive / Picture Post / Felix Man
Ein Einwurf von Gilda Sahebi |
Knapp ist die Zeit, die sich Ärzte und Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern für ihre Patienten generell nehmen können – nicht nur in der Pandemie. Das hat gravierende Folgen, meint die Ärztin und Politologin Gilda Sahebi.
Zuwendung, Vertrauen und Empathie spielen eine große Rolle bei der Behandlung kranker Menschen. Darüber spricht in diesen Zeiten, in denen so viel über das Gesundheitssystem diskutiert wird, kaum jemand. Denn auch schon vor der Pandemie spielte sie keine Rolle: die Zeit am Patienten.
Der wertvolle Moment, in der eine Ärztin sich neben das Bett des Patienten setzt und mit ihm spricht. Das aufmunternde Wort des Pflegers, dass alles gut wird. Das offene Ohr des Arztes, wenn die Patientin ihm ihre Ängste schildert. All das klingt in unserer durch und durch maschinisierten und durchgetakteten Medizin leider allzu banal. Aber das ist es nicht.
Wir wissen aus unzähligen Studien, dass genau solche Dinge entscheidend für den Behandlungserfolg sein können. Das ist alles nicht Teil einer Hippie-Version der Medizin, sondern das sind wissenschaftliche Fakten. Aber wenn es um den Wert der sogenannten sprechenden Medizin geht, wird jegliche wissenschaftliche Erkenntnis einfach ignoriert.

Wirkkraft wissenschaftlich bewiesen

Der Wert der sprechenden Medizin beruht auf dem Placeboeffekt. Dieser Effekt ist teilweise wirkmächtiger als so manches Medikament oder so mancher Eingriff. Ein Beispiel: Die bekannte Studie des amerikanischen Chirurgen Bruce Moseley.
Der Kniespezialist wollte untersuchen, worauf der Erfolg seiner Knie-Operationen beruhte. Für seine Studie operierte er die eine Hälfte der Probanden tatsächlich. Bei der anderen Hälfte führte er alles so durch, als würde er sie operieren – also OP-Vorbereitung, Beruhigungsspritze, typische OP-Geräusche. Aber er ritzte ihnen nur ein bisschen die Haut ein.
Die Patienten glaubten also nur, operiert zu werden. Und siehe da: Die nur angeblich operierten Menschen waren nach der Heilungsphase genauso zufrieden mit dem Ergebnis wie die tatsächlich Operierten. Allein der Glaube, dass die Behandlung helfen würde, trug zu ihrer Heilung bei.

Positive Erwartungen haben Heileffekt

Beim Placeboeffekt spielt die klassische Konditionierung eine Rolle, wie bei den pawlowschen Hunden. Wenn ein Mensch zum Beispiel gelernt hat, dass sich seine Beschwerden bessern, wenn er Medikamente nimmt, kann auch die Einnahme eines Placebos zu Verbesserungen führen – ganz ohne Nebenwirkungen.
Forscher der Harvard Medical School konnten zeigen, dass sich die Symptome bei Reizdarm-Patienten sogar verbesserten, wenn auf den Pillendosen das Wort „Placebo“ stand. Die Probanden wussten also, dass sie ein Placebo einnahmen. Und trotzdem verbesserten sich die Symptome signifikant gegenüber den Probanden, die keine Behandlung erhalten hatten.
Der entscheidende Faktor sitzt im Gehirn: Hat ein Mensch positive Erwartungen, glaubt er also an seine Heilungschancen, empfindet er dabei vielleicht sogar Freude – dann werden Hirnregionen aktiviert, die mit Denken und Emotionen assoziiert sind.
Eine wichtige Rolle spielt dabei der Hypothalamus, eine Hirnstruktur, die regulativ in Körperfunktionen hineinwirkt. Die angenehmen Gefühle, die positiven Erwartungen, sie bewirken also physiologische Veränderungen im Körper.

Vom Gesundheitssystem nicht bezahlt

Wir wissen außerdem, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient genau diese positiven Emotionen und damit den Placeboeffekt unterstützt. Dass Ärzte, die empathisch und mit Zeit auf ihre Patienten eingehen, mehr Chancen auf einen Behandlungserfolg haben als Ärzte, die den Patienten routinemäßig abfertigen und ihn dann wieder allein lassen.
Obwohl wir all das wissen, ist das Gesundheitssystem überspitzt gesagt darauf ausgerichtet, die Ärzte finanziell zu entlohnen, die nicht mit ihren Patienten sprechen. Nicht weil die Ärzte sich das so wünschen, sondern weil es das System so gebietet.
Fallpauschalen, Vergütungssysteme mit falschen Anreizen, Profitstreben – Faktoren einer Fließbandmedizin. Das alles gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis. Das Gesundheitssystem lässt keinen Raum für eine Medizin mit Empathie – mit Pandemie und ohne.

Gilda Sahebi ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Medizin und Wissenschaft, Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte und Naher Osten, unter anderem für „Die Welt“ und den WDR. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie beim Bayerischen Rundfunk. Nach ihrem Volontariat war sie Autorin und Redakteurin für die ZDF-Sendung „Neo Magazin Royale“. Sie ist für die Denkfabrik ISD tätig und ist Kolumnistin der „taz“.

Gilda Sahebi posiert für ein Pressefoto.
© Hannes Leitlein
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